Josefine Paul: „In der Krise zeigt sich besonders, was und vor allem wer systemrelevant ist“

Aktuelle Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion zur Gesundheitsvorsorge in der Pandemie

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Krise zeigt sich besonders, was und vor allem wer systemrelevant ist. Und es zeigt sich, dass es häufig insbesondere diejenigen sind, die eben gerade nicht im öffentlichen Fokus stehen und deren Arbeit wir manchmal vielleicht als ein bisschen zu selbstverständlich hinnehmen, deren Arbeit wir oftmals sogar übersehen. Ihnen gilt – das ist heute völlig zu Recht vielfach angesprochen worden – unser absoluter Dank.
Aber unsere Anerkennung muss sich allerspätestens nach der Krise – auch das ist heute schon mehrfach thematisiert worden – in einer Verbesserung von Arbeitsbedingungen und vor allem in mehr Geld widerspiegeln.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
In der Pflege und der Versorgung verwalten Pflegekräfte schon außerhalb von Krisenzeiten oftmals leider eine gewisse Art von Mangel. Dem gilt es nach der Krise entschieden entgegenzutreten.
Momentan liegt unser Fokus natürlich und völlig berechtigt auf dem Erhalt der Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und der Unterstützung des medizinischen Fachpersonals. Das ist absolut richtig, und das hat jetzt absolute Priorität.
Aber – das geht auch aus dem Antrag zu dieser Aktuellen Stunde hervor – es sind ganz unterschiedliche Bereiche, wo jetzt auf einmal deutlich wird, was alles, was wir vielleicht für selbstverständlich gehalten haben, in einer solchen Zeit systemrelevant ist. Beispielsweise zeigt sich, dass eine Ernte nicht von alleine im Supermarkt landet. Es fehlen Tausende Erntehelfer und Erntehelferinnen. Das bedeutet zum einen, dass die Ernte auf den Feldern zu vergammeln droht, und zum anderen, dass Betriebe in ihrer Existenz gefährdet sind.
Heute Morgen habe ich im „Morgenmagazin“ vernommen, dass sich auch die Bundeslandwirtschaftsministerin dafür einsetzen will, im Rahmen des Infektionsschutzes für Lockerungen bei den Einreisebeschränkungen zu sorgen. Das ist aus meiner Sicht durchaus etwas, worüber wir diskutieren müssen. Aber auch über die Frage, ob geflüchtete Menschen eingesetzt werden können, also über eine Aufhebung der Beschäftigungsbeschränkung, müssen wir jetzt diskutieren.
Auch da gilt: Darüber müssen wir nicht nur jetzt diskutieren, um am Ende der Krise alles wieder zurückzunehmen, sondern es geht darum, geflüchteten Menschen, die jetzt in der Krise den Laden mit am Laufen halten, anschließend eine dauerhafte Perspektive zu geben.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren, es zeigt sich aber auch, dass die Krise nicht alle gleichermaßen trifft.
Ja, wir sind alle betroffen von den Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Und ja, wir werden auch alle durch die noch nicht ganz absehbaren wirtschaftlichen Folgen in irgendeiner Art und Weise beeinflusst sein.
Doch es zeigt sich schon jetzt deutlich, dass insbesondere vulnerable Gruppen von dieser Situation deutlich drastischer und deutlich dramatischer betroffen sind. Weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens haben eben auch soziale und psychische Folgen.
Der Ministerpräsident hat vorhin darauf hingewiesen: Es sind eben die Sorgen um die Gesundheit, die eigene Gesundheit, die der Lieben und der Angehörigen, aber eben möglicherweise auch wirtschaftliche Sorgen um den Job, um die Perspektive der Familie etc., die dazu führen, dass auch in Familien die Situation in vielen Fällen noch sehr viel angespannter wird. Insbesondere Familien müssen jetzt unter sehr herausfordernden Bedingungen ihren Alltag meistern. Da sind nicht nur die Ausfälle in der Betreuung von Schule und Kita, da ist auch noch das Homeoffice irgendwie mit unterzubringen, und das alles auf beengtem Raum. Nicht alle von uns leben in großen Einfamilienhäusern mit Garten. Das alles sind ganz besonders herausfordernde Bedingungen, unter denen Familien gerade ihren Alltag gestalten müssen.
Vor allem Kinder aus prekären Verhältnissen – das ist vorhin auch schon angeklungen – trifft diese Krise besonders hart. Es ist in erster Linie eine Gesundheitskrise, es ist auch eine wirtschaftliche Krise, es ist aber eben auch eine soziale Krise. Das hat leider Auswirkungen auf Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.
Unsere Herausforderung ist es jetzt, dafür zu sorgen, dass diese Auswirkungen auf die Chancen- und die Bildungsgerechtigkeit nicht größer werden. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Einschnitte möglichst gering sind, damit alle Kinder die gleichen Chancen haben. Denn arme Kinder dürfen durch diese Krise nicht noch ärmer werden.
Durch das Fehlen von Schulessen und den Wegfall der Tafeln – das ist auch schon vielfach besprochen worden – fehtl es für manche Kinder und ihre Familien in dieser Situation am Elementarsten. Es fehlt für viele Familien tatsächlich am Essen. Auch da sind wir gemeinsam in der Verantwortung, diese Kinder und ihre Familien zu unterstützen.
Zum einen ist natürlich der Bund in der Verantwortung, insbesondere Kinder aus Familien, die BuT-Mittel bekommen, noch einmal extra zu unterstützen und ihnen noch einmal einen befristeten Zuschlag zu gewähren.
Aber auch das Land kann die Kommunen und die Träger dabei unterstützen, die Versorgung Bedürftiger aufrechtzuerhalten. Da gibt es ja schon viele Initiativen in den Kommunen, die dort eine wichtige Arbeit leisten. Es ist wichtig, dass wir sie jetzt nicht im Regen stehen lassen, sondern sie unterstützen, damit die Ärmsten und die Schwächsten unserer Gesellschaft jetzt nicht durchs Netz fallen.
(Beifall von Verena Schäffer [GRÜNE])
Sehr geehrte Damen und Herren, Kontaktverbote sollen gegen die Ausbreitung des Virus helfen. Deswegen sind sie absolut notwendig. Doch das zwingt Menschen eben auch, miteinander auf engstem Raum sehr viel Zeit zu verbringen. Die eigenen vier Wände – das erleben wir ja in unterschiedlicher Art und Weise vielleicht sogar am eigenen Leib – können durchaus auch sehr eng werden. Aber insbesondere für Frauen und Kinder sind die eigenen vier Wände oftmals das Gegenteil eines sicheren Rückzugsortes.
Krisen – das wissen wir aus verschiedensten Studien – sind auch ein Trigger für Gewaltsituationen. Studien zufolge stieg die Partnerschaftsgewalt nach dem Hurrikan „Katrina“ in den USA um 53 %. Auch aus China haben wir aktuelle Zahlen, die dokumentieren, dass es im jetzigen Krisenzeitraum eine Verdreifachung der häuslichen Gewalt gegeben hat. Aus Frankreich erreichen uns ebenfalls durchaus dramatische Zahlen.
Dort wird jetzt überlegt, Beratungs- und Anlaufstellen in Supermärkten einzurichten, weil es für Frauen und Kinder nun einmal schwierig ist, sich aus der aktuell beengten häuslichen Situation heraus Hilfe zu holen. Man kann in einer solchen Situation oftmals nicht einmal bei einem Hilfetelefon anrufen, weil der schlagende Partner oder die schlagende Mutter genau neben einem steht.
Das heißt: Wir müssen kreativ werden, um alle Menschen, die jetzt Unterstützung brauchen, weil sie von Gewalt betroffen sind, auch tatsächlich zu unterstützen.
Das bedeutet: Wir brauchen kurzfristig zusätzliche Kapazitäten. Wir müssen darauf vorbereitet sein, auch wenn jetzt möglicherweise die Zahlen noch nicht angestiegen sind. Wir brauchen kurzfristig zur Verfügung stehende zusätzliche Kapazitäten im Bereich von Frauenzufluchtsstätten, also Frauenhäusern.
Wir brauchen aber auch zusätzliche Kapazitäten für die Inobhutnahme von Kindern nach SGB VIII. Ich bin Minister Stamp sehr dankbar, der schon darauf hingewiesen hat, dass es zusätzliche Maßnahmen der Notbetreuung für Kinder und Jugendliche geben soll, die im Bereich von §-8a-Verfahren diese Betreuung als elementaren Bestandteil ihrer Hilfeplanverfahren haben.
Das sind Dinge, die wir jetzt dringend angehen müssen, weil eine solche soziale Krise eben nicht die Schwächsten unserer Gesellschaft hinten herunterfallen lassen darf. In Krisenzeiten darf das Soziale nicht hinten herunterfallen. Soziale Dienste, Opferschutzeinrichtungen und Kommunen müssen wir unterstützen; denn sie unterstützen die Schwachen und die Hilfebedürftigen in unserer Gesellschaft, die wir gerade jetzt nicht vergessen dürfen. Auch sie brauchen dringend einen Rettungsschirm. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)