Josefine Paul: „Es ist wichtig, dass wir eine offene Kultur des Hinsehens unterstützen“

Antrag der Fraktionen von CDU und FDP zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Missbrauchsfälle von Lügde sind erschütternd. Mindestens 31 Kinder sind Opfer sexuellen Missbrauchs in über 1.000 Einzeltaten geworden, und es steht leider zu befürchten, dass sich die Zahlen weiter erhöhen.
Unter den Opfern sind – bislang bekannt – 27 Mädchen und 4 Jungen im Alter zwischen 4 und 13 Jahren.
Die Täter haben den massenhaften Missbrauch darüber hinaus auch noch gefilmt und das Material weitergegeben.
Diese Taten schockieren uns. Die Unterstützung der Betroffenen und ihrer Familien muss jetzt absolute Priorität haben. Unser Mitgefühl gilt den Opfern und ihren Familien.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)
Es muss jetzt lückenlos aufgeklärt werden – das haben ja bislang auch alle Kollegen und Kolleginnen so gesagt –, wie es dazu kommen konnte, dass die Täter über Jahre hinweg unentdeckt Kinder missbrauchen konnten.
Zu dieser Aufklärung muss neben den konkreten Ermittlungen gegen die Beschuldigten zwingend gehören, die Strukturen in den Blick zu nehmen und zu schauen, ob es individuelle Fehler bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Behörden – beispielsweise bei Jugendämtern und Polizei –, ob es Behördenversagen gegeben hat und ob es vielleicht auch strukturelle Defizite beim Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen gibt.
Offenkundig hat es individuelle Fehler gegeben, wenn beispielsweise ein Jugendamtsmitarbeiter Aktenvermerke nachträglich rückdatiert.
Es muss auch geklärt werden, ob die Polizei nach ersten Erkenntnissen im Jahr 2016 mehr hätte tun und eventuell Ermittlungen hätte einleiten müssen.
Die Frage nach möglichem Behördenversagen: Welche Erkenntnisse wurden von welcher Behörde wann an welche andere Behörde weitergeleitet?
Viel wichtiger noch: Wenn Erkenntnisse nicht weitergegeben wurden, warum erfolgte dies eigentlich nicht?
Wieso hat es bei der Betreuung des Pflegevaters und Hauptbeschuldigten durch das zuständige Jugendamt eine Lücke in der Begleitung von acht Wochen gegeben?
Was passierte bei den Jugendämtern nach den ersten Hinweisen auf Missbrauch im Jahr 2016?
Kollege Ganzke hat darauf hingewiesen: Auch die aktuellen Ermittlungspannen werfen Fragen auf. Wie kann es sein, dass Beweise aus Räumen der Kriminalpolizei der Kreispolizeibehörde Lippe verschwinden?
Der Innenminister nennt das zu Recht einen Polizeiskandal. Es ist absolut unverständlich, wie ein Raum mit sensiblen und wichtigen Beweisstücken nicht vorschriftsmäßig gesichert sein kann.
Es ist aber genauso unverständlich, wie das Fehlen dieser Asservate so lange unbemerkt bleiben konnte. Sie sind zuletzt am 20.12.2018 gesehen worden; erst über einen Monat später ist der Verlust bemerkt worden. Dann dauert es – in einem so sensiblen Fall wie dem hier vorliegenden – noch einmal einen Monat, bis der Minister darüber informiert wird.
Da muss man doch wohl auch in Bezug auf die Informationsweitergabe zwischen Polizei und Innenminister von einem Kommunikationsversagen sprechen.
(Herbert Reul, Minister des Innern: Nein!)
Wir erwarten von Innenminister Reul, dass er dem Parlament in der nächsten Woche vollumfänglich darlegt, welche Erkenntnisse dem Ministerium jetzt vorliegen.
Wir werden – Kollege Ganzke hat es bereits gesagt – eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragen, denn es muss jetzt schnell aufgeklärt werden, was, wie und zu welchem Zeitpunkt bekannt gewesen ist.
Wie konnte es zu diesen massiven Polizeifehlern kommen? Wieso weiß das Ministerium eigentlich nicht, was in seinen Polizeibehörden los ist? Oder wie ist es anders zu erklären, dass der Minister erst Wochen später über einen solchen Vorfall wie das Verschwinden der Asservate Bescheid weiß?
(Beifall von den GRÜNEN)
Diese Fragen muss der Innenminister schnell und umfassend klären, um jedem möglichen Vertuschungsverdacht gegenüber den Behörden entgegenzuwirken und diesen konsequent auszuräumen.
Sehr geehrte Damen und Herren, jenseits der strafrechtlichen Aufklärung setzen wir mit diesem Antrag aber vor allem ein Zeichen, dass uns der Kinderschutz ein gemeinsames Anliegen ist.
(Beifall von Bodo Löttgen [CDU])
Diese schrecklichen Ereignisse von Lügde haben uns einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch ist.
Neben der Aufklärung des konkreten Falles – ich habe gerade beschrieben, welchen Aufklärungsbedarf es vor beim Umgang der Behörden damit gibt – müssen wir uns auch die Strukturen des Kinderschutzes in NRW generell anschauen; Kollege Hafke hatte bereits darauf hingewiesen.
Es wird – und das muss leider klar sein – nicht möglich sein, alle Taten zu verhindern. Wir müssen aber alles daran setzen, die Strukturen der Prävention bestmöglich aufzustellen und pädagogisches Personal, Ermittlungsbehörden und medizinisches Fachpersonal im Erkennen von und im Umgang mit sexuellem Missbrauch zu schulen.
Denn es ist leider bekannt, dass sexueller Missbrauch ein nicht leicht zu erkennendes Delikt ist. Für Kinder ist es oftmals noch sehr schwierig, grenzverletzendes Verhalten überhaupt zu erkennen und zu verbalisieren.
Darüber hinaus vertrauen sich Kinder häufig aus Scham, aus Angst, weil sie unter Druck gesetzt werden oder weil es einen Loyalitätskonflikt gibt niemandem an, was ihnen widerfahren ist, weil es oftmals Menschen aus dem direkten sozialen Umfeld sind.
Es ist wichtig, dass wir eine offene Kultur des Hinsehens in Kitas, Schulen, Vereinen, Einrichtungen usw. unterstützen und offen mit dem Thema „Missbrauch“ umgehen.
Wenn Einrichtungen sich öffnen und dieses Problem offen ansprechen, heißt das eben nicht, dass es dort ein konkretes Problem gäbe, sondern es heißt, im Sinne des Kinderschutzes eine Kultur des Hinsehens und Zuhörens zu unterstützen Einrichtungen sollen nicht nur nicht zu Tatorten werden, sondern sie sollen als Schutzorte für Kinder und Jugendliche weiter unterstützt werden.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)
Daher müssen wir sie dabei unterstützen, Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt einzuführen und diese auch konsequent umsetzen zu können.
Auch Eltern brauchen natürlich Unterstützung und Informationen, wenn es um Prävention geht, noch mehr aber natürlich, wenn es um einen konkreten Verdacht geht.
Auch hier müssen wir hinschauen, ob das Netz der spezialisierten Fachberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen eng genug gesponnen ist oder ob wir bei spezialisierten Fachberatungen und Unterstützungsangeboten noch Nachholbedarf haben.
Gleichermaßen müssen wir aber auch Täterverhalten sichtbar machen und in den Blick nehmen, denn Missbrauch ist oftmals ein schleichender Prozess, in dem Täter die Gutgläubigkeit und die Schwierigkeiten, die Kinder beim Erkennen von Grenzüberschreitungen haben – ich hatte es gerade erwähnt –, bewusst ausnutzen. Auch das müssen wir transparenter machen; auch dort müssen wir im Erkennen von Täterverhalten besser werden.
Auch hier geht es um strukturelle Fragen – Kollege Hafke hatte schon darauf hingewiesen –: Wie sind unsere Jugendämter in NRW aufgestellt? Die pauschale Forderung nach Personal führt nicht zu mehr Kinderschutz.
Wohl wäre es aber wichtig, vonseiten des Landes eine Personalbedarfsanalyse in den Jugendämtern zu unterstützen. Ist das Personal dort auch richtig eingesetzt?
Diese Fragen müssen wir jetzt stellen, und diese Fragen müssen wir auch gemeinsam beantworten. Auch das Land ist in der Pflicht, die Kommunen als Träger der Jugendämter zu unterstützen.
Darüber hinaus fordert der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Fallobergrenzen einzuführen. In unseren 186 Jugendämtern in Nordrhein-Westfalen sind die Strukturen höchst unterschiedlich, aber zumindest einen solchen Standard der Fallobergrenzen halte ich für äußerst sinnvoll. Das sollte in dieser Art und Weise auch in Nordrhein-Westfalen eingeführt werden.
(Beifall von den GRÜNEN)
Minister Stamp hat bereits zu einer ersten Runde zur Weiterentwicklung des Kinderschutzes ins Ministerium geladen. Das darf allerdings keine einmalige Angelegenheit bleiben, sondern muss unter Beteiligung der Kommunen als Träger der Jugendhilfe, von Kinderschutzexpertinnen und -experten, der Justiz, der Polizei, von Betroffenenverbänden, aber eben auch des Parlaments kontinuierlich fortgeführt werden.
Lassen Sie uns auch weiterhin gemeinsam für den Schutz von Kindern und gegen jede Form von Gewalt und Missbrauch eintreten. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD und der FDP)

Mehr zum Thema

Jugend, Kinder & Familie