Josefine Paul: „Die Frage nach Wohnen ist zu einer zentralen sozialen Frage unserer Zeit geworden“

Aktuelle Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion zum Thema Wohungslosigkeit von Frauen

Portrait Josefine Paul

 Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Dach über dem Kopf zu haben, ist nicht nur ein Grundbedürfnis, sondern auch eine Grundvoraussetzung für eine menschenwürdige Existenz und für soziale Teilhabe. Somit ist die Frage nach Wohnen zu einer zentralen sozialen Frage unserer Zeit geworden.

Die Zahlen der Wohnungslosen steigen leider in den letzten Jahren kontinuierlich an. Bundesweit beruhen diese Zahlen auf Schätzungen, weil es immer noch keine Wohnungslosenstatistik auf Bundesebene gibt. Erfreulicherweise sind wir da in Nordrhein-Westfalen schon lange weiter. Bereits seit 1965 existiert hier eine Obdachlosenstatistik, die seit 2011 als integrierte Wohnungsnotfallberichterstattung NRW wichtige Hinweise für zielgenaues – und das ist das Entscheidende – sozialpolitisches Planen geben soll.
Denn notwendig sind in diesem Zusammenhang integrierte Handlungskonzepte zur Unterstützung bei Wohnungslosigkeit und vor allem im Bereich der Prävention von Wohnungsverlust. Dazu gehören insbesondere zielgruppenspezifische Angebote – beispielsweise für junge Menschen, für Menschen mit einer Suchterkrankung und für ältere Menschen, aber eben auch für die besonderen Lagen von Frauen und Männern, die diese besonderen Lagen auch besonders in den Blick nehmen.
Die Zahlen – sie sind schon genannt worden – sind in der Tat alarmierend. Allein im Vergleich zum Jahr 2015 stieg die Zahl der Wohnungslosen von gut 20.000 zum Stichtag 30. Juni 2016 auf gut 25.000 Personen an. Darunter sind allein 6.400 Frauen. Im Vergleich zu 2011 – auch das ist bereits angesprochen worden und macht die alarmierende Situation noch einmal deutlich – entspricht das sogar einer Steigerung um 60 %.
Allerdings – das ist im Zusammenhang mit der Frage der Obdachlosigkeit von Frauen ein wichtiger Punkt – bildet diese Wohnungslosenstatistik nur diejenigen ab, die entweder kommunal oder ordnungsrechtlich untergebracht sind oder durch einen freien Träger der Wohnungslosenhilfe betreut werden.
Warum ist das mit Blick auf die Situation von Frauen von besonderer Wichtigkeit? Auch das ist bereits angedeutet worden: Es ist nicht nur anzunehmen, sondern es ist sicher, dass es bei der Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit von Frauen eine hohe Dunkelziffer gibt.
Minister Laumann hat anlässlich der Tagung „Frauen und Wohnungslosigkeit: Bedarfe erkennen – Wege aufzeigen – kommunale Lösungen entwickeln“ richtigerweise festgestellt, dass die Obdachlosigkeit von Frauen oftmals unsichtbar ist.
Warum ist das so? Weil Frauen oftmals sehr lange versuchen, ihre Wohnungslosigkeit zu verbergen. Sie versuchen, nicht als wohnungslos identifiziert zu werden, und sie versuchen, lange Zeit ohne institutionelle Hilfe auszukommen.
Das heißt: Wir haben hier einen sehr großen Bereich sogenannter verdeckter Wohnungslosigkeit. Viele Frauen versuchen, ihre Wohnungslosigkeit damit zu überdecken, dass sie bei Verwandten oder Bekannten unterkommen. Sie versuchen, wieder bei den Eltern unterzukommen. Oftmals gehen sie auch sogenannte Zweckpartnerschaften ein – ganz häufig mit dem großen Risiko, dass sie dann wiederum Begleiterscheinungen bis hin zu sexueller Gewalt ausgesetzt sind.
Die Gründe für die Wohnungslosigkeit von Frauen unterscheiden sich oftmals sehr stark von den Gründen für die Wohnungslosigkeit von Männern. Sie sind hier bereits genannt worden. Frauen sind in ihrer sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Eigenständigkeit gegenüber Männern nach wie vor häufig benachteiligt. Das ist ein Faktum, das schon lange bekannt ist, allerdings leider noch lange nicht überwunden ist.
Die Einkommenssituation von Frauen ist schlechter, sodass sie im Fall einer Trennung oftmals vor existenziellen Nöten stehen. Aber auch geschlechtsspezifische Gewalterfahrungen sind zentrale Gründe. Langjährige Gewalterfahrung, wirtschaftliche Abhängigkeit und mangelnde soziale Netze prägen die Lebenssituation vieler Frauen in Wohnungsnotfallsituationen.
Wohnungslosigkeit ist also – das wird hier am Beispiel der Frauen besonders deutlich – kein individuelles Schicksal, sondern es ist eine gesellschaftliche Verantwortung.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren, Angebote für Frauen, die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind, müssen genau hier ansetzen. Der Schutz vor Gewalt und die Stärkung der Autonomie müssen Kernbestandteile sein.
Dazu muss es eine enge Kooperation – der Minister hat bei der Fachtagung auch darauf hingewiesen – zwischen den Trägern der Obdachlosenhilfe und der Frauenhilfeinfrastruktur sowie den kommunalen Stellen geben.
Wohnungslosigkeit darf nicht Ausweglosigkeit heißen. Das bedeutet aber auch, dass die zielgruppenspezifischen Angebote genau in diesem Bereich gestärkt werden müssen.
Wir haben in Nordrhein-Westfalen 62 durch das Land geförderte Frauenhäuser für die Akuthilfe für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder. Frauenhäuser sind ein Baustein, um Frauen in Notsituationen zu unterstützen und ihnen neue Perspektiven jenseits von Gewalt zu eröffnen.
Für eine nachhaltige Unterstützung der Frauen, vor allem zur Verhinderung sogenannter Drehtüreffekte, brauchen wir allerdings Perspektiven, die über das Frauenhaus hinausgehen.
Wir haben gerade schon von den sogenannten „Second Stage“-Projekten gehört, die die rot- grüne Landesregierung 2017 auf den Weg gebracht hat und die auch ein wichtiger Baustein zur Verselbstständigung sind. Schaut man sich einmal die Zahlen dazu an, wird jedoch deutlich, wo die über die derzeit geförderten Projekte hinausgehenden Bedarfe liegen. Wir haben 62 landesgeförderte Frauenhäuser, aber nur sechs Projekte in der „Second Stage“-Förderung plus zwei Wohnraumförderprojekte im Köln/Bonner Raum. Das heißt: Wir haben 62 Frauenhäuser, aber nur acht Projekte, die sich mit dem Prozess der Verselbstständigung beschäftigen.
Insofern brauchen wir dringend einen Ausbau dieser Projekte. Vor allem ist eine Verstetigung der Mittel notwendig. Die „Second Stage“-Projektmittel sind jedoch bislang, wie der Name schon sagt, Projektmittel. Wir brauchen für diese Projekte aber eine strukturelle Förderung, um Frauen aus dem Frauenhaus in ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden begleiten zu können.
Gleichzeitig müssen die Mittel für den sozialen Wohnungsbau gestärkt werden. Es ist doch vollkommen klar, dass man sich nur dann neue Perspektiven in den eigenen vier Wänden aufbauen kann, wenn es einem überhaupt möglich ist, eigene vier Wände zu finden. Wohnungslosigkeit ist nämlich – das ist eine Binsenweisheit; es scheint aber wichtig zu sein, das noch einmal deutlich zu machen – auch eine Folge mangelnden bezahlbaren Wohnraums. Dementsprechend wäre es wichtig, die Zielmarke von 250.000 neuen Wohnungen bis 2022 in den Blick zu nehmen.
Allein: Die aktuelle Landesregierung setzt offenbar andere Akzente. Statt einen klaren Fokus auf den öffentlich geförderten Wohnungsbau zu legen – das ist gerade schon mehrfach diskutiert worden –, werden jetzt 200 Millionen € weniger für den Wohnungsbau zur Verfügung gestellt. Ja, Sie können argumentieren, das seien damals zweckgebundene Bundesmittel gewesen. Nichtsdestotrotz ändert das nichts daran, dass man auch eigene landespolitische Akzente mit eigenem Landesgeld setzen kann.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Da läge in Ihrer Verantwortung. Dieser Verantwortung werden Sie an dieser Stelle aber nicht gerecht.
Denn was brauchen Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht sind und die wir begleiten wollen? Sie brauchen wirksame Unterstützung. Dabei darf sich auch das Land nicht vor seiner Verantwortung drücken.
Nordrhein-Westfalen geht mit dem bundesweit vorbildlichen Aktionsprogramm „Hilfen in Wohnungsnotfällen“ voran. Das ist vorbildlich. Das gilt es auch zu verstetigen. Es sollte aber auch bei der Förderung des sozialen Wohnungsbaus und beim bedarfsgerechten Ausbau …
Präsident André Kuper: Frau Kollegin, die Redezeit.
Josefine Paul (GRÜNE): … der Unterstützungsangebote für Frauen in Wohnungsnotfällen sowie für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, vorangehen.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe es in meinem ersten Redebeitrag mit einer ruhigen und sachlichen Einordnung versucht. Frau Ministerin Scharrenbach, mir ist, ehrlich gesagt, nicht ganz klar, warum Sie hier so eine Schärfe hineinbringen, die an der Stelle doch völlig unnötig ist. Mein Verweis auf die Statistik hatte nichts damit zu tun, hier ein Schwarzer-Peter-Spiel aufzubauen: Ihre Regierungszeit, unsere Regierungszeit. Alarmierend sind doch die Zahlen, die dahinterstecken. Da geht es doch nicht darum, ob das Ihre Zahlen oder unsere Zahlen sind, sondern es geht um Menschen,
(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Daniel Sieveke [CDU])
und wir sind in der Verantwortung, diesen Menschen zu helfen. Aber Ihr Beitrag, Frau Ministerin, war frei nach dem Motto: „Wer uns nicht lobt, muss offenkundig gegen und sein“. Das finde ich schade, denn das wird weder dem Thema noch dem konstruktiven Austausch darüber gerecht.
Gott sei Dank hat Minister Laumann das besser verstanden als Sie. Er hat nämlich erkannt, dass es hier um Maßnahmen geht und nicht darum, immer großartig rumzubölken, wer es verbrochen hat und wer jetzt möglicherweise tolle Dinge auf den Weg bringen möchte. Minister Laumann hat gesagt, es geht um Maßnahmen. Er hat die richtigen Akzente gesetzt, indem er eine Fachtagung anberaumt hat.
Frau Ministerin, ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hören. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir von 2010 bis 2017 die Mittel für die von Gewalt betroffenen Frauen – für die Frauenhilfe-Infrastruktur – verdoppelt haben. Es ist schlicht und ergreifend unredlich, dass Sie hier immer wieder wiederholen, dass wir die Frauenhausplätze nicht ausgebaut hätten und dass es jetzt Ihrer Regierung bedurft habe, damit endlich etwas für die Frauenhilfe-Infrastruktur getan wird. Das ist schlicht und ergreifend sachlich falsch, und das wissen Sie auch!
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Es wäre doch für die Debatte schön und auch sachdienlicher – das hat der Kollege von der CDU gerade wieder so gemacht, und auch Ihr Redebeitrag war davon durchzogen –, wenn Sie einmal durch die Frontscheibe nach vorne schauen würden, statt im Rückspiegel-KleinKlein verhaftet zu bleiben. Sie wollten regieren, dann regieren Sie jetzt auch, statt immer zu sagen: Das hätten Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierungszeit machen können.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Die Leute da draußen interessiert dieses Parteiengezänk und dieses Klein-Klein der Geschichtsklitterung nicht. Die Leute wollen wissen, welche Maßnahmen Sie anzubieten haben. Dazu, Frau Ministerin, war aber gerade eben wieder so gut wie nichts zu hören.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Richten Sie den Blick doch einmal nach vorne. Wenn Sie Frauen wirksam unterstützen wollen, haben Sie uns an Ihrer Seite. Das war in diesem Haus immer ein großer Konsens. Mit der Schärfe, die Sie in diese Diskussion hineinbringen, sind Sie auf dem besten Wege, diesen Konsens aufzukündigen. Das wäre eine ganz schlechte Nachricht für die von Gewalt betroffenen Frauen in diesem Land.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Es geht auch darum, Gruppen wie Minderjährige und junge Volljährige in den Blick zu nehmen, die oftmals durchs Raster fallen. Auch dazu braucht es mehr als bloße Ankündigungen. Dazu braucht es konkrete Maßnahmen.
Noch einmal zur Frage, wer sich hier am besten um den sozialen Wohnungsbau kümmert: Es geht doch nicht darum, uns hier ständig gegenseitig Zahlen vorzurechnen, hin und her und heck und meck, sondern es geht doch darum, dass am Ende des Tages etwas für den Wohnungsbau in diesem Land getan werden muss.
Es wäre sehr viel in die richtige Richtung getan, wenn Sie aufhören würden, Eigentum gegen soziale Wohnraumförderung auszuspielen. Das sind nämlich zwei vollkommen unterschiedliche Paar Schuhe. – Danke sehr.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

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