Josefine Paul: „Das Einzige, was dauerhaft die Freiheit sichert, sind Vorsorge und Verantwortung“

Zur Unterrichtung der Landesregierung zur aktuellen Situation in der Corona-Pandemie

Portrait Josefine Paul

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle Coronalage macht Lockerungen mit Augenmaß möglich, und es gibt sehr berechtigten Grund zu der Hoffnung, dass der Scheitelpunkt der Omikron-Welle erreicht ist, wenn nicht gar bald überschritten sein wird.

Vor diesem Hintergrund ist der gestern vereinbarte Stufenplan der MPK grundsätzlich der richtige Ansatz, um Schritt für Schritt und mit gebotenem Augenmaß Einschränkungen zurückzunehmen und zu weiteren Öffnungen zu kommen.

Allerdings – das will ich ein bisschen einschränkend sagen, obwohl ich es richtig finde, dass wir Schritt für Schritt wieder zur Normalität zurückkehren – wäre es aus meiner Sicht konsequenter gewesen, das an klare Kriterien für die jeweiligen Öffnungsschritte zu binden, also an Hospitalisierungsraten, an die Belastung des Gesundheitssystems insgesamt, und nicht rein nach Terminkalender vorzugehen. Wir haben in den letzten zwei Jahren doch gelernt – das mussten wir an der einen oder anderen Stelle hart lernen –, dass sich das Virus nicht an zeitliche Vorgaben hält. Der Ministerpräsident hat es gerade noch einmal gesagt. Dann fehlen mir in dem MPK-Beschluss aber die konsequenten Schritte der Hinterlegung. Das hätte aus meiner Sicht der konsequente Weg sein müssen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie, Herr Ministerpräsident, betonen immer wieder das Gebot der Achtsamkeit. Ich teile das absolut. Achtsam ist es aber, vor allem von Kriterien auszugehen und nicht rein vom Terminkalender.

Auch der Expertenrat der Bundesregierung hält Öffnungsschritte für möglich, was sehr richtig ist, mahnt aber eben zur Besonnenheit und einer genauen Beobachtung der Lage, insbesondere im Gesundheitssystem. Vor allem weist er sehr eindringlich darauf hin, dass die Impfquote für das Erreichen eines postpandemischen Zustands entscheidend ist.

Ja, es gibt Grund zur Hoffnung – Hoffnung darauf, dass wir mit aller gebotenen Vorsicht Öffnungsschritte einleiten können, Hoffnung darauf, dass wir Schritt für Schritt diese Pandemie endlich überwinden können, und Hoffnung darauf, dass wir dann wieder zu einem normalen Leben zurückkehren.

Ja, eine Politik der Achtsamkeit, Herr Ministerpräsident, ist genau der Weg, um Sie an der Stelle erneut zu zitieren. Allerdings darf es nicht passieren, dass diese Landesregierung jetzt wieder auf den Kurs umschwenkt, den sie viel zu lange eingeschlagen hatte, nämlich die Hoffnung zum Anlass zu nehmen und rein aus dem Prinzip Hoffnung heraus zu regieren.

Wir alle sind nach zwei Jahren Pandemie erschöpft. Eine Regierung darf aber nicht aus Erschöpfung oder aus Enervierung heraus agieren und die Pandemie für beendet erklären. Lockerungsschritte dürfen – da haben wir eine gemeinsame Verantwortung – nicht zulasten von älteren und vulnerablen Menschen gehen. Diese Gruppe müssen wir weiterhin schützen.

Auch wenn wir alle gerne wieder richtig miteinander feiern würden, ist jetzt nicht die Zeit, um einen Freedom Day auszurufen, sondern wir müssen, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, Schritt für Schritt öffnen, das aber möglichst auf der Basis einer konkreten Datenlage.

Der Ministerpräsident hat diese Woche betont, dass es einen klaren Kurs statt eines Hin und Her geben muss. Doch, Herr Ministerpräsident, ich muss Sie noch mal sehr eindringlich fragen: Haben Sie mit Ihrem Koalitionspartner eigentlich einen verlässlichen Partner für diesen klaren Kurs an Ihrer Seite? – Sie nicken. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob das in der Tat ein verlässlicher Partner ist, auch wenn Herr Rasche am Dienstag in der Debatte sehr bemüht gewesen ist, den Eindruck eines internen Zerwürfnisses zu übertünchen. Ich bin der Meinung, das ist nur sehr notdürftig gelungen. Ihrem klaren Kurs der Achtsamkeit will Ihr Koalitionspartner doch nur ganz, ganz einschränkt folgen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vor diesem Hintergrund frage ich mich auch: Ist eigentlich die Wahlkampagne der FDP die neue Sachlichkeit, die vor allem Sie, Herr Minister Stamp, immer wieder einfordern, wenn es um die Kritik an der chaotischen Schul- und Familienpolitik in diesem Land geht, die Sie ganz maßgeblich mitzuverantworten haben?

Ich will deutlich unterstreichen: Wer hier von Freiheitsverboten fabuliert, der hat doch den Blick für die Situation im Land und insbesondere für die Schulen und Kitas komplett verloren.

Ich will auch sehr deutlich unterstreichen: Reden Sie als vorgebliche Bürgerrechtspartei mit einer solchen Rhetorik nicht den Falschen das Wort.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

Herr Ministerpräsident, Sie haben den Kindern und Jugendlichen das Versprechen gegeben, sie in den Mittelpunkt zu rücken. Daran müssen Sie sich messen lassen. Das erwarten die Familien von Ihnen, das ist auch Ihre Verantwortung als Ministerpräsident dieses Landes.

Aber wir müssen feststellen, dass es der Landesregierung in zwei Jahren nicht gelungen ist, Schulen und Kitas auf die Herausforderungen der Pandemie einzustellen. Ja, ich will zugestehen, eine Pandemie ist etwas Unvorhergesehenes, natürlich. Sie ist in ihrem Verlauf auch nur bedingt planbar. Wenn man allerdings wider aller Lehren aus dem ersten Pandemiewinter im zweiten Pandemieherbst die gleichen Fehler wieder macht, dann muss man sich schon fragen lassen, warum man eigentlich nichts gelernt hat.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Dabei ist das Testchaos doch nur eine Facette. Herr Minister Stamp, darauf sind Sie am Dienstag ausführlich eingegangen. Das beste Testregime ist doch in dem Moment nichts mehr wert, in dem die Schulministerin über Nacht erklären muss, dass jetzt leider alles ganz anders laufen müsse. Das hat nichts mit vorausschauender Politik zu tun, Frau Ministerin; die Endlichkeit der Laborkapazitäten war doch absehbar. Das Problem ist, Sie hatten nichts vorbereitet, und das nicht das erste Mal. Das ist das Problem der Schulpolitik in Pandemiezeiten in diesem Land.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Nun zu den neuen Änderungen bei den Grundschultests: Da sind doch das nächste Chaos und der nächste Frust in den Familien vorprogrammiert – auch hier wieder, weil Sie nichts vorbereitet haben, weil Sie nicht längst die Kooperation mit Bürgerteststellen ermöglichen, weil Sie keine mobilen Teams in die Schulen schicken.

Man muss es so deutlich sagen, weil der Familienminister gerade wieder so intensiv den Kopf geschüttelt hat: Sie haben es offenbar nicht nur aufgegeben, die Kapazitäten bei den PCR-Tests zu erhöhen, sondern Sie haben offenbar gar nicht erst den Anspruch. Da muss ich sagen: Sie lassen – und das ist auch Ihre Verantwortung, Herr Ministerpräsident – die Familien, die Schulen, die Kinder alleine.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die FDP hat in dieser Woche ihre Kampagne vorgestellt. Der Claim der NRW-FDP zur Landtagswahl lautet: „Von hier an weiter“.

(Franziska Müller-Rech [FDP]: „Von hier aus weiter“!)

– Von mir aus, meinetwegen. Der entscheidende Punkt ist „weiter“. Denn ich glaube, dass es beim Thema „Schule“ für viele Familien und Lehrer*innen wie ein böses Omen wirken muss,

(Heiterkeit von den GRÜNEN und der SPD)

wenn Sie so weitermachen dürften.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Impfen ist der Weg aus der Pandemie. Eine hohe Impfquote ermöglicht eine dauerhafte und sichere Rückkehr in die Normalität, und sie ist die beste Vorbereitung auf den nächsten Herbst und Winter.

Die eindringliche Bitte der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten an die Menschen, sich impfen zu lassen, ist richtig. Aber das reicht nicht aus. Viele Menschen haben sich bereits impfen lassen. Sie übernehmen so Verantwortung für sich und ihre Gesundheit, aber sie übernehmen auch Verantwortung für die Gesellschaft. Dafür gilt ihnen unser aller Dank.

Trotzdem müssen wir feststellen, dass die Impflücke noch immer zu groß ist. Wir müssen leider auch feststellen, dass die Erst- und Zweitimpfungen mittlerweile nahezu zum Erliegen gekommen sind und die Booster-Impfungen leider ebenfalls stocken. Hier ist das Land gefordert, und man muss sagen: Es reicht nicht, immer mit dem Finger nach Berlin zu zeigen.

Unterstützen Sie die Kommunen bei aufsuchenden Impfangeboten. Verstärken Sie das Engagement bei der Frage der Impflotsen. Wir brauchen mehr niedrigschwellige Angebote für Kinder- und Familienimpfungen auch über die Schulen. Wir brauchen niedrigschwellige Angebote, und zwar nicht, um die Impflücken der Erwachsenen aufzufüllen, auf gar keinen Fall. Das kann und darf nicht auch noch die Verantwortung der Kinder sein. Es geht darum, sie selbst vor Erkrankungen zu schützen.

Insgesamt muss die Impfkampagne endlich wieder in Schwung kommen. Sie ist die entscheidende Vorbereitung auf den kommenden Herbst und Winter.

Dabei ist schon die Frage: Wie steht eigentlich die Union zu der allgemeinen Impfpflicht? Die kurzfristige Weigerung von Bayern und Sachsen, die einrichtungsbezogene Impfpflicht umzusetzen, die man vorher gemeinsam beschlossen hatte, hat doch dem Föderalismus und der Glaubwürdigkeit der gemeinsamen Pandemiebekämpfung schwer geschadet. Das darf sich in dieser Art und Weise nicht wiederholen.

(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Gesetze sind Gesetze. Daran müssen sich tatsächlich alle halten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Union muss endlich eine interne Klärung herbeiführen. Es reicht nicht, zu sagen, das sei allein Sache der Bundesregierung. Nein, auch hier ist der Ministerpräsident des größten Bundeslandes, der gleichzeitig Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ist, gefragt, zu erklären, wo die Union und wo er selbst in dieser Debatte steht.

Herr Ministerpräsident, Sie haben immer wieder erklärt, es bräuchte eine schnelle Lösung für eine allgemeine Impfpflicht. Da sind wir ganz bei Ihnen. Die Frage ist nur, ob der Rest der Union bei Ihnen ist. Friedrich Merz hat letztens noch erklärt, man könne ja überlegen, über ein Vorsorgegesetz für eine allgemeine Impfpflicht zu sprechen, und man müsse darauf schauen, wie die Zahlen im Herbst aussehen.

Dazu muss ich ganz deutlich sagen: Das ist das Gegenteil von vorausschauend. Das ist das Gegenteil von Achtsamkeit, Herr Wüst. Wir müssen jetzt die Impfquote steigern, um auf Herbst und Winter vorbereitet zu sein, um nicht wieder der Lage hinterherzulaufen. Ich erwarte mehr Engagement von Ihnen, aber das Werben für einen klaren Kurs im Gegensatz zu diesem Hin und Her kommt bei der Union nicht unbedingt an.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir brauchen aber auch – das hat nicht zuletzt der Expertenrat gesagt, und das wurde auch in einem MPK-Beschluss festgehalten – klare Monitoringmaßnahmen. Wir dürfen jetzt nicht in einen Blindflug kommen, sondern müssen die Pandemie und ihre Entwicklungen weiter im Auge behalten.

Das bedeutet, wir müssen ein konsequentes Monitoring des Gesundheitssystems aufstellen, aber auch Instrumente wie das Abwassermonitoring nutzen. Seit Monaten laufen wir Ihnen quasi hinterher und erklären, dass diese Form der Früherkennung der richtige Schritt ist. Seit Monaten weigern Sie sich, das umzusetzen.

Lassen Sie uns gemeinsam nicht in einen Blindflug kommen, sondern machen Sie endlich! Legen Sie nicht die Hände in den Schoß! Wir brauchen diese Instrumente, damit wir gut in Richtung Herbst und Winter kommen und nicht ins Hin und Her zurückkehren.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir alle miteinander wollen eine sichere Perspektive für Kunst und Kultur, für Sport und Freizeit, für Gastronomie und Einzelhandel, für Gewerbetreibende, für Kinder, Jugendliche und Familien, aber Verlässlichkeit baut auf Vorsorge auf. Damit wir dauerhaft in eine Normalität zurückkehren können, brauchen wir diese Verlässlichkeit.

Die Pandemie hat viele Menschen in existenzielle Nöte gebracht. Die kurzfristigen Hilfen sind wichtig und richtig, um akute Notlagen abzufedern, aber was die Menschen wirklich brauchen, das ist eine Politik, die Vorkehrungen trifft, damit das gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben weiter stattfinden kann, und zwar dauerhaft, damit wir von diesem Hin und Her wegkommen.

Herr Kollege Löttgen, ich schlage vor, Sie schließen sich nicht nur dem „Team Vernunft“ an, sondern Sie schließen sich endlich dem „Team Vorsorge“ an. Denn richtig ist auch:

Das Einzige, was dauerhaft die Freiheit sichert, sind Vorsorge und Verantwortung.

(Zurufe von Bodo Löttgen [CDU] und Marcel Hafke [FDP])

Das sichert am Ende die Freiheit für uns alle. Darauf muss es doch ankommen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, Rainer Schmeltzer [SPD] und Anja Butschkau [SPD])

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