Josefine Paul: „45 Jahre hatte die Bundesrepublik gebraucht, um das Menschenrecht Homosexueller anzuerkennen und ihre staatliche Verfolgung endgültig zu beenden.“

Antrag von SPD und GRÜNEN zur Aufarbeitung der Verfolgung und Unterdrückung Homosexueller

Portrait Josefine Paul

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Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor fast auf den Tag genau 20 Jahren hat der Bundestag den § 175 Strafgesetzbuch aufgehoben. Am 10. März 1994 beschloss der Bundestag, die strafrechtliche Sondervorschrift gegen Homosexualität aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Seitdem steht dort nur noch: „§ 175 (gestrichen)“. 45 Jahre hatte die Bundesrepublik gebraucht, um das Menschenrecht Homosexueller anzuerkennen und ihre staatliche Verfolgung endgültig zu beenden – wenngleich dies bis heute keine völlige Gleichstellung bedeutet.
Die Argumente, mit denen auch in der Zeit nach 1945 und fortdauernd in der Bundesrepublik für den Erhalt des § 175 gestritten wurde, muten aus heutiger Zeit seltsam vertraut an. Anfang der 1960er-Jahre warnte die Bundesregierung vor einer Entkriminalisierung der Homosexualität mit folgenden Argumenten: Die werbende Tätigkeit homosexueller Gruppen im öffentlichen Leben würde wesentlich erleichtert. Und weiter: Dies würde jüngere Menschen in den Bann dieser Bewegung ziehen. – Das Regime Putin bedient sich einer ganz ähnlichen Rhetorik, um seine Gesetzgebung gegen sogenannte homosexuelle Propaganda zu rechtfertigen. Ähnlich wie im heutigen Russland wurde die Arbeit von Menschenrechtsgruppen der Lesben- und Schwulenbewegung schwer bis unmöglich gemacht.
Der § 175 strahlte weit über das Strafrecht hinaus und hatte auch negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Stellung Homosexueller. Zuweilen wurden mit Verweis auf § 175 auch Informationsstände oder Veranstaltungen homosexueller Emanzipationsgruppen untersagt. Dabei stellte § 175 eigentlich nur sexuelle Handlungen unter Strafe. Doch unter dem Deckmäntelchen des Jugendschutzes entschied das Oberverwaltungsgericht Münster noch 1976, dass auch Informationsstände untersagt werden könnten, da Jugendliche vor einer Kontaktaufnahme mit Homosexuellen jedenfalls auf öffentlicher Straße und dadurch möglicher Verführung zu schützen seien.
Durch diesen Paragrafen wurden nicht nur Menschen zu Unrecht strafrechtlich verfolgt – eine ganze Bevölkerungsgruppe wurde geächtet und staatlich drangsaliert. Razzien, sogenannte rosa Listen und die permanente Angst, gesellschaftlich geächtet und seiner bürgerlichen Existenz beraubt zu werden, prägten den Alltag vieler Homosexueller in der Bundesrepublik.
Allein die bundesdeutsche Justiz verurteilte bis 1969 etwa 50.000 Männer wegen gleichgeschlechtlicher sogenannter Unzucht. Viele weitere Männer gerieten in Ermittlungsverfahren. Die Bundesrepublik setzte damit eine unrühmliche historische Tradition deutscher Rechtsgeschichte fort. Seit 1871 stellte das Reichsstrafgesetzbuch männliche Homosexualität unter Strafe. Die Nazis verschärfen § 175 im Jahre 1935 noch. Unglaublicherweise blieb diese verschärfte Variante auch in der Bundesrepublik bis 1969 in unveränderter Form in Kraft – und das, obwohl der menschenverachtende Kern der nationalsozialistischen Verfolgung offenkundig war und bis heute erschüttert.
50.000 schwule Männer wurden verurteilt, Tausende wurden in Konzentrationslager gesperrt. Nur eine Minderheit von ihnen überlebte den Terror der Lager.
Nach zähen Verhandlungen sind die Unrechtsurteile der Nazizeit endlich im Jahre 2002 aufgehoben worden. Für viele Opfer kam diese Rehabilitierung allerdings zu spät.
Und auch diejenigen, die in der Bundesrepublik verfolgt und verurteilt wurden, weil sie als Mann einen Mann liebten oder begehrten, warten noch immer darauf, vollständig rehabilitiert zu werden. Auf ihrem Leben liegt auch 20 Jahre nach der endgültigen Streichung des § 175 StGB ein Schatten. Für viele ist leider auch das bereits zu spät.
Die Stärke eines demokratischen Rechtsstaates liegt aber doch darin, dass er Fehler der Vergangenheit in Gesetzgebung und Rechtsprechung anerkennt und korrigiert. Die Opfer seiner Irrtümer haben einen Anspruch darauf, dass ihnen jetzt endlich Recht widerfährt.
Es ist unsere moralische und politische Verpflichtung, den Menschen Wiedergutmachung zu leisten, die menschenrechtswidrig verfolgt, eingesperrt und um ihr Lebensglück gebracht wurden. Die Urteile, die bis 1969 gegen schwule Männer ergangen sind, müssen endlich aufgehoben werden.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Der § 175 StGB stellte nur männliche Homosexualität unter Strafe. Sexualität unter Frauen blieb straffrei. Doch in den gesellschaftlichen Verhältnissen der 1950er- und 1960er-Jahre waren auch sie gesellschaftlich tabuisiert und geächtet. Das Gesellschaftsbild der frühen Bundesrepublik sah für Frauen die Rolle als Ehefrau und Mutter vor. Die heterosexuelle Kernfamilie wurde zum Anker der bundesdeutschen Gesellschaft erhoben.
Auch die Begründung des Bundesverfassungsgerichts, warum die Straffreiheit lesbischer Liebe eben gerade nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, gewährt tiefe Einblicke in die Gesellschafts- und Sexualvorstellungen der Adenauer-Jahre:
„Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, dass das Sexualleben mit Lasten verbunden ist. … So gelingt der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen.“
So weit das Verfassungsgericht. – Mit dieser verquasten Sexualmoral wurde Frauen eine eigenständige Sexualität abgesprochen, erst recht eine eigenständige lesbische Sexualität.
Deutschland hat angesichts seiner Geschichte eine besondere Verantwortung im Kampf um die Anerkennung der Menschenrechte für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intersexuelle. Dazu gehört auch, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen und Unrecht aufzuarbeiten. Das Wissen um die Verfolgung und die Emanzipation von LSBTTI ist dabei insbesondere angesichts der Debatten um die rechtliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder um den Bildungsplan in Baden-Württemberg nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern ein zentraler Beitrag zur politischen und historischen Bildung.
Auch heute noch ist Homophobie ein alltägliches Phänomen in der Mitte unserer Gesellschaft. Homophobie ist aber keine legitime politische Meinung, sondern sie ist ein Ausweis von Menschenfeindlichkeit.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)
Dem wollen wir auch durch die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels bundesdeutscher Geschichte entgegentreten und damit einen kleinen Beitrag zur Wiedergutmachung erlittenen Unrechts, aber auch zur Mahnung, dass auch in einer Demokratie Minderheitenschutz erkämpft und jeden Tag verteidigt werden muss, leisten. – Vielen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)

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