Horst Becker: „Wir müssen die Debatte führen, ob wir im Moment tatsächlich eine Soziale Marktwirtschaft haben“

Antrag der Fraktionen von CDU und FDP zur Sozialen Marktwirtschaft

Horst Becker (GRÜNE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen hat der Präsident eingangs der Sitzung zu 70 Jahren Grundgesetz gesprochen, und wir hatten vorhin eine Debatte darüber.
Es lohnt sich selbstverständlich auch bei diesem Tagesordnungspunkt, noch einmal in das Grundgesetz zu schauen, insbesondere in den Art. 14, und nicht nur in den Art. 15, Herr Bombis. In Art. 14 heißt es in Satz 2 wörtlich:
„Eigentum verpflichtet.
(Monika Düker [GRÜNE]: Hört! Hört!)
Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Satz 3 lautet:
 „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“
Meine Damen und Herren, insbesondere die von der CDU, Sie stellen heute einen Antrag zur Diskussion, den Sie zusammen mit der FDP auf den Weg gebracht haben – der Partei, die im Bundestag gerade in einem populistischen Reflex sagt, dass sie diese Enteignungsmöglichkeit abschaffen will. Ganz offensichtlich meint die FDP nicht die Enteignungen, die über 200-mal für Bundestraßen und Bundesautobahnen stattgefunden haben.
Sie meinten auch ganz offensichtlich nicht die massenhafte Enteignung von Heimat und von Wohnungen,
(Zurufe von der FDP)
die im Braunkohlegebiet stattgefunden hat.
(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist Ihre Regierungsverantwortung! – Weitere Zurufe)
Sie meinen auch selbstverständlich nicht die Enteignungen indirekter Art, die durch Nachtfluglärm stattfinden. Sie meinen auch nicht die Enteignungen, die durch Wasserschäden in den Auskiesungsgebieten stattfinden, und die nicht abgegolten werden.
(Zurufe von der FDP)
Sie meinen immer nur die Enteignungen bei Großkonzernen. (Beifall von den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, was meinen Sie aber wirklich, wenn Sie heute diese Debatte anzetteln – letztlich wegen des Zitats eines Juso-Vorsitzenden? Ich mache persönlich überhaupt keinen Hehl daraus, dass ich es gaga finde – um das so offen zu sagen –, dass jemand, der mehr als eine Wohnung besitzt, diese Wohnung abgeben soll. Aber wenn wir über Soziale Marktwirtschaft reden, müssen wir selbstverständlich auch darüber reden, dass es vernünftig ist, Bodenspekulanten mit einem Baugebot zu zwingen, wertvolle innerstädtische Grundstücke zu bebauen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Selbstverständlich ist es auch richtig – darauf müssen wir alle zusammen achten –, die Eigentümer von Wohnblocks zu enteignen, wenn diese Wohnblocks absichtlich dem Verfall preisgegeben werden, um sie später in Eigentumswohnungen umzuwandeln, nachdem man die Mieter rausgetrieben hat. Das ist nicht nur sozial, sondern auch vernünftig. Das dient der Allgemeinheit. Denn Eigentum verpflichtet.
(Beifall von den GRÜNEN)
Wenn wir schon bei den Worten „vernünftig“ und „sozial“ sind, Herr Hovenjürgen: Es war weder vernünftig noch sozial, dass Sie seinerzeit die Wohnungen der LEG verkauft haben, verbrämt mit einer Sozialcharta, die nach zehn Jahren abgelaufen ist. Ich erinnere mich sehr gut an die Debatten, die wir hier zusammen geführt haben. Darin haben wir Ihnen genau diese Entwicklungen vorhergesagt.
Das jetzt mit irgendeiner rot-grünen Bundesentscheidung in Zusammenhang zu bringen, (Zuruf von Marc Herter [SPD])
ist so etwas von tollkühn und abartig, dass ich wirklich sagen muss: Das ist ein intellektuelles Armenhaus.
(Beifall von den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, wenn wir heute über die Soziale Marktwirtschaft diskutieren, gibt es schon ein paar Fragen, Herr Laumann, die wir hier stellen müssen, wenn wir nicht nur postulieren wollen, dass wir eine Soziale Marktwirtschaft haben wollen. Wir müssen uns die Frage stellen: Ist die Marktwirtschaft, die wir zur Zeit haben – eine Marktwirtschaft ist es ohne Zweifel –, eine liberale, eine unregulierte oder eine Soziale Marktwirtschaft?
Um das zu beantworten, müssten wir wenigstens ein paar weitere Fragestellungen antickern: Ich frage zum Beispiel: Wo standen Sie – CDU und FDP – bei der Auseinandersetzung um die Einführung eines Mindestlohns? Den haben Sie bis 2015 bekämpft. Es war Ihnen völlig egal, dass zum Beispiel Friseusen im Osten 3,50 Euro die Stunde verdient haben und davon nicht leben konnten. Wo stehen Sie eigentlich heute in der Mindestlohndebatte?
Herr Laumann hat sich geäußert. Vielleicht kann er gleich noch mal etwas dazu sagen, dass er es für falsch hält, den Mindestlohn nur auf 9,19 Euro zu erhöhen, weil das zu wenig ist, wenn man die Preissteigerungen für Energie, Mieten und Lebensmittel berücksichtigt. – Da haben Sie recht, Herr Laumann. Aber wo steht denn die FDP, wo steht denn die CDU in diesem Hohen Haus? Ich bin mir sehr sicher: Die stehen aufseiten der Wirtschaftsverbände und nicht auf Ihrer Seite.
(Beifall von den GRÜNEN)
Also: Es wäre sozial, uns gemeinsam für einen Mindestlohn einzusetzen, der deutlich höher liegt als 9,19 Euro, und der dazu führt, dass man später nicht auf eine Grundrente angewiesen ist, sondern von der eigenen Rente leben kann.
(Zuruf von Henning Höne [FDP])
Sind Sie von CDU und FDP wirklich der Meinung, dass es sozial ist, dass es ein Ausbund der Sozialen Marktwirtschaft ist, wenn immer noch 4,7 Millionen Menschen ausschließlich von schlecht bezahlten 450-Euro-Jobs leben müssen?
(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Das stimmt doch nicht!)
–  Das stimmt. – Sind Sie immer noch der Meinung, dass das tatsächlich Soziale Marktwirtschaft ist?
(Zuruf von Henning Höne [FDP])
Sind Sie der Meinung, dass die atypisch Beschäftigten, die nicht von ihrer Arbeit leben können, ein Ausbund der Sozialen Marktwirtschaft sind?
(Zuruf von Henning Höne [FDP])
Sind Sie wirklich der Meinung, es sei ein Ausbund der Sozialen Marktwirtschaft, dass sich in den letzten 20 Jahren die Vorstandsgehälter und die Erfolgsprämien der Vorstände in den Aktiengesellschaften vervielfacht haben, während gleichzeitig der Lohn eines Durchschnittsverdieners kaum gestiegen ist? Ist das für Sie Soziale Marktwirtschaft?
 (Beifall von den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, ich will noch einen anderen Punkt ansprechen. Herr Herter hat eben darauf hingewiesen, was bei thyssenkrupp passiert. Das lässt sich doch beliebig erweitern.
(Marc Herter [SPD]: Natürlich!)
Schauen Sie sich mal an, was bei Daimler los gewesen ist! Herr Schrempp hat von der „Hochzeit im Himmel“ gesprochen, er hat damals 20 Milliarden Euro verbrannt und zur gleichen Zeit die Debatte mit der IG Metall darüber geführt, dass eine fünfminütige Pinkelpause in den Werken dazu führen würde, dass Daimler-Benz nicht mehr konkurrenzfähig ist. – Das ist keine Soziale Marktwirtschaft. Das ist eine unregulierte, liberale Marktwirtschaft – eine Marktwirtschaft, die wir so nicht wollen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich kann das bis in die Gegenwart fortsetzen. Das, was thyssenkrupp heute durchmacht, ist neben dem Strukturwandel, der eh an vielen Stellen ansteht, maßgeblich einer Fehlentscheidung des Managements geschuldet. 10 Milliarden Euro sind in Brasilien verbrannt worden, die heute bei einer vernünftigen Umstrukturierung dieses Werkes fehlen.
Ich will gar nicht davon reden, was VW alles gemacht hat. VW hat wegen des Betrugs an Verbraucherinnen und Verbrauchern bereits 30 Milliarden Euro an Strafen bezahlt – Managementfehler ohne Ende.
Sehr verehrte Damen und Herren, in der Gegenwart stellen sich neue Fragen, zum Beispiel, ob wir mit Blick auf die aufkommenden Superkonzerne wie Apple, Google, Amazon und Co tatsächlich nicht in der Lage sind, national und international durchzusetzen, dass diese Firmen gerechte Steuern bezahlen, dass diese Firmen nicht mit wenig Personal und geringen Lohnsummen monopolartige Stellungen erobern und damit den Staat und die Bevölkerung um das bringen, was wir alle brauchen, um Bildung, Strukturwandel und soziale Gerechtigkeitsfragen durchzusetzen.
Deswegen sage ich Ihnen in diesem Zusammenhang ganz deutlich: Wir alle müssen die Debatte führen, ob wir im Moment tatsächlich eine Soziale Marktwirtschaft haben. Wer diese Debatte verweigert und nicht wie Herr Blüm sagt: „Globalisierung wird zur Kostensenkungsolympiade“ – nach dieser Logik müssten wir für den höchsten Gewinn die Kinderarbeit wieder einführen; sie ist billiger –, der verkennt, dass wir genau an dieser Stelle als Gesellschaft ein Problem haben.
Wir müssen einen Regulierungsrahmen einführen, damit tatsächlich faire Löhne und faire Steuern bezahlt werden, und wir alle in der Gesellschaft wieder den Eindruck haben – nicht nur wir, denen es besser geht –, dass alle mitgenommen werden, dass alle eine Chance haben, aufzusteigen, und dass das nicht nur behauptet wird, weil es Ihr ideologisches Mantra ist. – Schönen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN – Beifall von Marc Herter [SPD])

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