Horst Becker: „Sie nehmen noch nicht einmal Ihre eigenen entfesselungsrhetorischen Maßnahmen ernst“

Gesetzentwurf der Landesregierung "Entfesselungspaket I"

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Horst Becker (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben bei meinem Vorredner gerade das erlebt, was wir eigentlich seit sechs Monaten erleben: Wesentliche Bestandteile dieser Koalition befinden sich immer noch im Rausch der Oppositionsrhetorik. Sie sind nicht auf Entzug und schon gar nicht in der Ernüchterung angekommen. Dabei wären Ernüchterung und Nüchternheit beim Regierungshandeln durchaus angebracht.
(Beifall von den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, vor wenigen Monaten war noch vom Bürokratiekosten-TÜV, vom Verwaltungsbenchmarking und von der Befristung der Gesetze mit umfangreichen Prüfungen im Falle der Verlängerung die Rede – übrigens ausdrücklich auch mit solchen Prüfungen, die mit einem Abbau von Sozialrechten und Standards zu tun hatten.
Wenn man sich diesen Entwurf für ein sogenanntes Entfesselungsgesetz anguckt, muss man zunächst einmal feststellen, dass es einerseits zum Glück weit hinter diesen Oppositionssprüchen zurückbleibt, andererseits aber immer noch eine krude Mischung aus dieser Oppositionsrhetorik und schädlichem Unsinn ist.
In Anbetracht der Kürze der Zeit will ich dazu wie meine Vorredner nur einige wenige Beispiele nennen.
Bei der Änderung des Ladenöffnungsgesetzes entfesseln Sie sich letztlich vom sogenannten Anlassbezug und auch von der Rechtsprechung. Es geht in Wahrheit natürlich nicht nur um acht – wobei acht auch schon zu viel sind –, sondern um bis zu 16 Sonn- und Feiertage, nämlich immer in den großen Städten, die verschiedene Bezirke haben. Wenn Sie Ihre eigenen Gesetzesvorhaben lesen, werden Sie das sehen. 16 Sonn- und Feiertage im Jahr bedeuten: Tatsächlich ist mehr als jeder vierte Sonn- oder Feiertag mit einer Geschäftsöffnung verbunden.
Es wird geradezu ein Stück aus dem Tollhaus, wenn Sie sich anlässlich dieser Erweiterung der Ladenöffnungszeiten hier zum Vorkämpfer gegen den Onlineversand aufspielen.
Wenn Sie etwas gegen den Onlineversand tun wollten, müssten Sie sich mit uns zusammen für eine faire Besteuerung einsetzen.
(Zuruf von den GRÜNEN: Richtig!)
Dann müssten Sie sich mit uns zusammen für eine ordentliche Stadtlogistik einsetzen. Da habe ich Sie aber bis jetzt nicht wahrgenommen.
(Beifall von den GRÜNEN)
Ich will mich mit Ihnen heute auch nicht über die Hygieneampel streiten. Deren Abschaffung ist ja angeblich ein großer Entfesselungsakt. Aber wenn ich sehe, dass das gestern beim Handwerk ein Entfesselungsakt war, dass das heute ein Entfesselungsakt ist und dass Sie in die Begründung Ihrer Vorhaben hineinschreiben – so Herr Pinkwart –, Sie wollten die Entwicklung eines Modells der Verbraucherinformation auf freiwilliger Basis, sage ich: Herr Kollege Pinkwart, Sie sollten sich doch einmal zurückerinnern oder mit Herrn Laumann sprechen. Sie beide haben von 2005 bis 2010 derselben Regierung angehört. Genau das ist damals von Herrn Uhlenberg versucht worden. An den freiwilligen Vereinbarungen hat sich damals niemand beteiligt. Ich bin mal gespannt, ob das dieses Mal anders ist.
Wo wollen Sie beispielsweise bei der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens zum LANUV „entfesseln“? Da entfesseln Sie nicht, sondern da legen Sie den Gerichten Fesseln an, und zwar neue Aktenberge, weil Leuten nicht bei Widerspruchsverfahren tatsächlich beschieden wird, sondern weil die sich demnächst vor Gericht ihr Recht suchen werden.
Beim Tariftreue- und Vergabegesetz sagt dieser Text dann eigentlich alles. Ich lese mal die Begründung vor: „Die Neufassung des Tariftreue- und Vergabegesetzes entspricht der Koalitionsvereinbarung.“ – Will sagen: Das entspricht also Ihrer Oppositionsrhetorik: Umweltschutz, Energieeffizienz, Beachtung von Mindestanforderungen an Arbeitsbedingungen, Frauenförderung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf – alles Anforderungen, die bei Ihnen Gedöns sind und weggehören.
Richtig ärgerlich übrigens und richtig schädlich auch – das ist einer der Punkte, bei denen ich hoffe, dass Sie wirklich noch einmal nachdenken – wird es beim Alten- und Pflegegesetz. Sie geben die Gleichstellung von Wohn- und Betreuungsangeboten vor. Aber in Wahrheit schaffen Sie mit dieser Abschaffung oder mit dieser angeblichen Gleichstellung natürlich die Abkehr vom Vorrang ambulanter Versorgung, ambulanter Wohn- und Versorgungsangebote. Wer weiß, dass davon im Land Nordrhein-Westfalen im Verhältnis zu den 180.000 anderen nur 6.000 da sind, der weiß, dass das ganz dringend ist und dass es übrigens, Herr Bombis, mit Sicherheit nichts ist, worauf sich die Bevölkerung freut.
(Beifall von den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, Sie nehmen es aber auch nicht so genau mit der Wahrheit. Sie schreiben, es gibt keine negativen Auswirkungen auf die Selbstverwaltung, und verweisen dann schon fast zynisch auf den § 17 des Krankenhausgestaltungsgesetzes. Sie wissen natürlich genau, dass es diese negativen Auswirkungen gibt.
Sie formulieren im Übrigen – auch das ist besonders spannend – folgenden Satz im Zusammenhang mit der Frage von vollautomatisierten Erlassen und der Konnexität – ich zitiere –:
„Mit der Einführung des vollautomatisierten Erlasses eines Verwaltungsaktes stellt das VwVfG NRW zwar ein neues Verfahrensinstrument zur Verfügung, ordnet dessen Verwendung aber nicht an. Finanzielle Auswirkungen entstehen erst, wenn die Behörden von den zur Verfügung gestellten Instrumenten Gebrauch machen.“
Meine Damen und Herren, das zeigt ganz deutlich: Sie nehmen noch nicht einmal Ihre eigenen entfesselungsrhetorischen Maßnahmen ernst. Ansonsten müssten Sie sich mit der Konnexität beschäftigen. Das haben Sie nicht getan.
Sie werden verstehen, dass ich mich angesichts dieser und vieler anderer Widersprüche und Ungereimtheiten auf die Beratungen freue. – Schönen Dank.