Gönül Eğlence: „Sie sind nicht am Wohl dieses Landes interessiert“

Zum Antrag der "AfD"-Fraktion zur "migrationspolitischen Kehrtwende"

Portrait Gönül Eglence

Gönül Eğlence (GRÜNE): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen der demokratischen Fraktionen! Rund 12,9 Millionen Menschen werden in den kommenden 15 Jahren das Renteneintrittsalter überschritten haben. Jeder vierte Beschäftigte in Deutschland ist laut dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) bereits über 55 Jahre.

Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist bereits jetzt in vielen Branchen so groß, dass wir bei der Nachbesetzung der offenen Stellen nicht nachkommen. Das ifo Institut prognostiziert zudem, dass die Mangellage mittel- bis langfristig noch schwerwiegender wird.

Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist dabei kein Problem im luftleeren Raum. Hinter dieser Problematik steckt eine Kette von Implikationen, die mittel- und unmittelbar unseren Wohlstand betreffen. Besonders gravierend sind die Folgen des demografischen Wandels für die Sozialsysteme. Insbesondere die Rente, Pflege und Gesundheit sind hier betroffen.

Um die rund 400.000 notwendigen Fach- und Arbeitskräfte, die wir jährlich brauchen, zu gewinnen, brauchen wir laut Wirtschaftsweisen rund 1 Million bis 1,5 Millionen Menschen, die jährlich zuwandern.

Gleichzeitig stehen wir im internationalen Vergleich auf Platz 15 der OECD-Länder, wenn es darum geht, für welches Land sich sogenannte Fachkräfte entscheiden. Daher ist es geradezu illusorisch – um mal ein stilistisches Mittel aus Ihrem Antrag aufzugreifen –, zu glauben, dass die Abschottung Deutschlands, eine Absage an die EU und die Ausländer-raus-Parole auch nur ansatzweise hilfreich wären.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Man müsste sogar sagen: Es ist geradezu kontraproduktiv. Geradezu dramatisch finde ich auch Ihre Absage an unseren Rechtsstaat durch Ihre Forderung, das individuelle Asylrecht abzuschaffen.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der jungen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit unter den Azubis um 64 % erhöht. Jeder dritte Azubi stammt laut dem Institut der deutschen Wirtschaft aus einem der acht größten Asylherkunftsländer: Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien.

In den Engpassberufen hat sich die Zahl der internationalen Azubis verdoppelt, zum Beispiel in der Gastronomie, aber auch im Handwerk und hier insbesondere bei Berufsfeldern, die für den Energie- und Klimawandel Bedeutung haben, wie zum Beispiel die Bauelektrik. Vier von zehn Unternehmen hilft die Beschäftigung von Geflüchteten bei der Fachkräftesicherung. Besonders häufig profitieren kleine und mittelständische Unternehmen davon.

Ich war erst vergangene Woche bei einem solchen mittelständischen Unternehmen. Dieses investiert mit Blick auf Sprachbildung und Zertifizierung jeweils zwischen 10.000 und 15.000 Euro zur Vorqualifizierung angehender Auszubildender. Das machen sie nicht aus bloßer Nächstenliebe oder weil sie so grünlinks versifft sind, nein, das machen sie, weil sie in ihre eigene Zukunft investieren, nämlich in das Überleben ihres Unternehmens.

In Ostwestfalen machte vor einigen Wochen der Satz – ich zitiere – „Wirtschaft in OWL warnt vor feindseliger Stimmung gegen Migranten“ Schlagzeilen in den lokalen Zeitungen. Die IHK – ich hatte gestern ein Treffen – legt Vorschläge vor, wie wir die Potenziale nutzbar machen können, und veröffentlicht dazu Flyer. Das, meine Damen und Herren, ist die Realität.

Zur Sicherung unserer sozialen Sicherungssysteme und zur Erreichung politischer Ziele wie Klimaneutralität und Digitalisierung ist die gezielte Anwerbung ausländischer Kräfte, aber eben auch die Erschließung der Ausbildungs- und Beschäftigungspotenziale von Geflüchteten und Zugewanderten unabdingbar.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Anstatt also die Debatte auf die ca. 9 % der Geflüchteten ohne Bleibeperspektive zu fokussieren oder eine ominöse Größe durch die Verwendung des Begriffs „irreguläre Migration“ zu suggerieren, müssen wir uns folgende Fragen stellen: Wie gelingt uns das Ankommen der Menschen, die zu uns kommen? Und wie können wir zu unserer aller Wohl Potenziale nutzbar machen?

Um einmal Licht ins Dunkel zu bringen, was eigentlich „irreguläre Migration“ meint: Mit Stand Dezember 2022 gibt es genau 304.308 dokumentiert ausreisepflichtige Personen – das ist die Größe, über die wir reden. Darunter fallen abgelehnte Asylbewerber*innen, ausländische Studierende, Arbeitnehmer*innen und Tourist*innen, deren Visum abgelaufen ist.

82 % dieser sogenannten Ausreisepflichtigen besitzen allerdings eine Duldung, das heißt, sie wurden aufgefordert, das Land zu verlassen, können aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden. Die Zahl der unmittelbar ausreisepflichtigen Menschen – also Personen, die tatsächlich irregulär sind – beläuft sich auf sage und schreibe 56.163.

(Zuruf von Andreas Keith [AfD])

Ihr Festhalten an dieser Gruppe als Ursache allen Übels ist geradezu obsessiv

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

und unterstreicht abermals, dass Sie nicht am Wohl dieses Landes interessiert sind, sondern ausschließlich daran, hier Ihr ideologisches Narrativ zu bedienen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Wir lehnen den Antrag ab, weil er undemokratisch, rassistisch, antieuropäisch und vor allem am Thema vorbei ist. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

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