Eileen Woestmann: „Wir dürfen nicht nur das Symptom lindern, sondern wir müssen wirklich das Problem angehen“

Zur Aktuellen Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion zu Kinderarmut

Portrait Eileen Woestmann

Eileen Woestmann (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Angesichts des Beitrags gerade muss man sich schon fragen, ob die FDP weiß, was Armut eigentlich bedeutet.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Armut hat viele Gesichter. Da ist die Frau, die nicht weiß, ob sie ihren Einkauf bezahlen kann. Da ist der Mann, der Flaschen sammelt, die Familie, die Urlaub nur aus dem Prospekt kennt. Armut verändert Menschen in ihrem Denken und in ihrem Handeln und vor allem in ihrem Gefühl, Teil unserer Gesellschaft zu sein. Armut macht krank, einsam und ausgeschlossen.

Armut bei Kindern ist aber noch weitreichender. Es bedeutet, von Anfang an zu lernen, aufs Geld schauen zu müssen, die Sorgen der Eltern zu spüren und sich als Kind zurücknehmen zu müssen, Freundschaften anders zu erleben, wenn der Kinobesuch nicht mal eben drin ist oder ein neuer Modetrend nicht mal eben geshoppt werden kann.

Armut kann aber auch bedeuten, dass man das Gefühl von Hunger kennt – und das so wie wahrscheinlich die Allerwenigsten hier in diesem Saal.

Armut bei Kindern bedeutet schlechte Bildungschancen, bedeutet, abgehängt zu sein, noch bevor das Kind eigentlich die Chance hatte, dazuzugehören.

Dass Kinder satt werden, keinen Hunger leiden müssen, das ist auch für uns als Koalition ein wichtiges Anliegen. Genau deshalb hat das Land den „Stärkungspakt NRW – gemeinsam gegen Armut“ ins Leben gerufen. Wenn alle Möglichkeiten, die es bereits jetzt gibt, dass alle Kinder satt werden, alle Kinder mitessen können, ausgeschöpft sind, dann ist es möglich, dass Kommunen über den Stärkungspakt Gelder beantragen können, um damit bestehende Lücken zu schließen.

Klar muss aber auch sein: Allein durch die Übernahme von Essensgeldern beenden wir keine Armut, sondern bekämpfen wir nur ein Symptom.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Wir müssen Kinderarmut über alle Ebenen denken. Es muss unser aller Anliegen sein, das grundsätzliche, strukturelle Problem von Armut anzupacken.

(Nadja Lüders [SPD]: Geld allein reicht nicht, Handeln wäre schön!)

Dazu gehört insbesondere auch die Bundesebene, wo gerade – Gott sei Dank! – intensiv über die Kindergrundsicherung diskutiert wird, bei der es darum geht, materielle Kinderarmut wirklich zu beenden, damit bei Familien, bei denen die finanzielle Notwendigkeit besteht, mehr Geld ankommt als bei Familien, die ökonomisch gut aufgestellt sind.

Gerade profitieren vom Kinderfreibetrag vor allem gut verdienende Eltern. Auch die Erhöhung des Kindergelds auf 250 Euro war ein wichtiger Schritt. Aber es reicht nicht aus, und es reicht vor allem dann nicht aus, wenn Eltern, die Bürgergeld beziehen, das Geld wieder abgezogen bekommen. Es ist eine Ungerechtigkeit, dass gerade bei den Familien, die es so dringend bräuchten, das Geld wieder abgezogen wird.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aber das ist noch mal eine andere Debatte.

Bei der Kindergrundsicherung darf es nicht allein um eine Verwaltungsreform gehen, sondern es muss darum gehen, wie wir Kinder sehen. Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen, sondern sie haben als Kind ihre eigenen Bedürfnisse.

Ich habe als Sozialpädagogin lange Familien begleitet, die an und unterhalber der Armutsgrenze gelebt haben und auch immer noch leben, die oft nicht wussten, dass ihnen tatsächlich auch noch Gelder zustehen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben, Anträge deshalb nicht gestellt haben oder sie schlicht nicht verstanden haben. 70 % der Familien manchen ihre Ansprüche gegenüber dem Staat nicht geltend.

Am Ende gibt es zwei Leidtragende: Das sind einmal die Kinder, weil sie nicht zum Fußball-, Basketballverein oder sonstigen Vereinen gehen können, keine Nachhilfe finanziert bekommen, weil sie nicht teilhaben können. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es für die Eltern belastend ist, wenn sie ihren Kindern nicht das bieten können, was sie sich wünschen.

Der Antrag, bei dem ich am meisten gestöhnt habe, wenn ich ihn mit meinen Klientinnen und Klienten stellen musste, war der Antrag auf BuT-Mittel, also Mittel für Bildung und Teilhabe, denn die Beantragung ist dermaßen kompliziert, dass es mich überhaupt nicht wundert, dass die Mittel nur in einem sehr geringen Umfang abgerufen wurden.

Dabei sind das eigentlich gute Leistungen. Denn damit bekommen alle, die Anspruch auf Bildung und Teilhabe haben, Unterstützung, beispielsweise für Ausflüge, für Klassenfahrten, für Nachhilfe, aber auch ein kostenloses Mittagessen. Genau da müssen unsere Abrufraten besser werden, die Hürden für die Beantragung gesenkt werden.

Wir brauchen endlich Hilfe aus einer Hand – kein Antrags- und Bewilligungsmarathon mehr –, sondern Gelder, die dort ankommen, wo sie wirklich benötigt werden. Genau dafür brauchen wir die Kindergrundsicherung.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Aber die Bundesebene alleine reicht nicht aus. Auch auf Landesebene haben wir als Koalition den „Pakt gegen Kinderarmut“ auf den Weg gebracht, um damit Beratungsstellen zu stärken und auch hier Hilfen aus einer Hand anzubieten. Denn wir verlieren Menschen dann, wenn sie von Pontius nach Pilatus geschickt werden, um Hilfe zu bekommen.

Hilfe muss niederschwellig und vor Ort erreichbar sein. Darauf zielen beispielsweise auch die Familienzentren, die auch 2023 weiter gestärkt werden. 150 neue Familienzentren wird es dieses Jahr in Nordrhein-Westfalen geben. Dann gibt es über das Land verteilt über 3.250. Hier gibt es niederschwellige Beratungsangebote in einem vertrauten Umfeld, damit Familien frühzeitig Unterstützung bekommen.

Denn Teilhabe gelingt nicht nur durch finanzielle Ressourcen, sondern vor allem durch Wissen. Ich habe gerade schon gesagt: 70 % der Familien rufen ihnen zustehende Leistungen nicht ab. Genau dafür ist eine gute Beratungsinfrastruktur so wichtig, wo ausgebildete Fachkräfte die Menschen unterstützen und empowern, den Weg noch mal mitgehen, Ängste nehmen und bei Bedarf Anträge auch übersetzen und genau damit dafür sorgen, dass das Geld, das es gibt, auch dort ankommt, wo es gebraucht wird.

Besonders von Armut betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden. 43 % aller Ein-Eltern-Familien gelten als arm. Genau deshalb, um hier die Beratungslandschaft in NRW besser zu vernetzten und ein breiteres Angebot für Alleinerziehende zu schaffen, befindet sich gerade die Landesfachstelle Alleinerziehende in der Planung. Auch hier geht es darum, Wissen zu bündeln und damit zu vermitteln, dass Unterstützungsmöglichkeiten genutzt werden und die richtigen Anträge auf finanzielle Hilfen gestellt werden können.

Denn auch das ist ein Teil der Prävention gegen Kinderarmut.

Wir finanzieren außerdem weiterhin das Programm „kinderstark“, damit auch in den Kommunen vor Ort das Netz gegen Kinderarmut enger geknüpft werden kann. In den Haushalt 2023 sind dafür 15 Millionen Euro eingestellt worden, damit die Kommunen dort Präventionsketten ausbauen können, wo es notwendig ist, beispielsweise durch Familiengrundschulzentren oder auch durch Kita-Sozialarbeit.

(Zuruf von Dr. Dennis Maelzer [SPD])

Es braucht eine gemeinsame Kraftanstrengung, um Kinderarmut entschieden entgegenzutreten. Vor allem dürfen wir nicht das Symptom lindern, sondern wir müssen wirklich das Problem angehen. Das geht nur vom Bund über das Land in die Kommunen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

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