Eileen Woestmann: „Sexuelle Gewalt gegen Kinder gibt es in jeder einzelnen Stadt in Nordrhein-Westfalen“

Zum Antrag der SPD-Fraktion zum "Missbrauchskomplex Lügde"

Portrait Eileen Woestmann

Der Entschließungsantrag zu Antrag der SPD von den Fraktionen von CDU, FDP und GRÜNEN im Landtag

Eileen Woestmann (GRÜNE): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ein bis zwei – ein bis zwei! – Kinder sind in Deutschland pro Schulklasse von sexueller Gewalt betroffen. Davon geht die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs aus.

Ein bis zwei Kinder – das würde hochgerechnet auf unseren Landtag bedeuten, dass allein hier in diesem Plenum statistisch gesehen zehn Menschen in ihrer Kindheit Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Andere Schätzungen gehen davon aus, dass jeder siebte bis achte Erwachsene Opfer von sexuellem Missbrauch war.

Warum fange ich mit diesen allgemeinen Zahlen an, wenn es bei diesem Tagesordnungspunkt eigentlich konkret um „Lügde“ geht? Weil ich Ihnen deutlich machen möchte, dass wir, wenn wir über sexuellen Missbrauch sprechen, nicht über schreckliche Hotspots reden. Lügde, Münster, Bergisch Gladbach, Wermelskirchen – all diese Orte haben im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Schlagzeilen gemacht. Aber sexuelle Gewalt gegen Kinder gibt es in jeder einzelnen Stadt in Nordrhein-Westfalen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sexualisierte Gewalt ist immer ein Angriff auf die Integrität, die Ganzheit des jungen Menschen – egal, ob online oder offline, ob hands on oder hands off. Sexualisierte Gewalt führt zu dem Gefühl eines maximalen Vertrauens- und Kontrollverlustes, zu Ohnmacht, Demütigung, Scham und Ekel. Die seelischen, körperlichen, finanziellen und sozialen Auswirkungen der sexuellen Gewalt können erheblich sein. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch die Aufdeckung für das Umfeld eine enorme Herausforderung ist: für die Eltern, die Kinder, für die Geschwister, die Schule, Freundinnen und Freunde.

Auch wenn wir alle es nicht wahrhaben wollen: Wir alle kennen Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben oder noch erleben. Manchmal ahnen wir etwas, manchmal wissen wir es konkret und können handeln, aber viel zu oft bleibt diese Form der Gewalt unentdeckt.

Genau aus diesem Grund vermeide ich es, hier in dieser breiten Öffentlichkeit konkret über missbräuchliche Handlungen zu sprechen, und zwar erstens, um Betroffene zu schützen und zweitens, um Missbrauchsschilderungen nicht immer und immer wieder zu reproduzieren.

In Lügde wurde jahrelang sexualisierte Gewalt von den Behörden nicht erkannt, obwohl es zahlreiche Hinweise gab. Deswegen gibt es zu Recht den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Es wurden enorme Fehler von Institutionen gemacht, die eigentlich die Bürgerinnen und Bürger und vor allem ihre Kinder schützen sollten. Über 40 Kinder wurden Opfer von mindestens zwei Tätern. Sie waren ihnen schutzlos ausgeliefert, weil nicht ist, was nicht sein darf.

Zahlreiche Hinweise hätten dazu führen können, dass die Täter früher von der Straße geholt worden wären, wie ein Polizist es im Rahmen einer Befragung so treffend sagte.

Dann treffen diese Menschen mit ihren vielfältigen traumatischen Erfahrungen auf das sogenannte Opferentschädigungsgesetz. Vielleicht könnte man auch sagen: Leid trifft auf Verwaltungsbürokratie. Denn beim Opferentschädigungsgesetz geht es nicht darum, ob eine Gewalttat stattgefunden hat, sondern ob ein Schaden davon getragen wurde.

Das Ansinnen, die Überprüfung sensibel im Sinne der Kinder durchzuführen, ist absolut richtig. Es darf aber nicht dazu führen, dass die Verfahren sich unendlich in die Länge ziehen.

Ich bin überzeugt, dass uns alle hier der Wunsch eint, dass die Kinder aus Lügde möglichst schnell entschädigt werden – auch mit dem Wissen, dass kein Geld der Welt diese schreckliche Erfahrung rückgängig machen kann.

Ein Sonderfonds, wie ihn die SPD vorschlägt, klingt im ersten Moment absolut charmant. Es bedeutet aber keinesfalls ein einfaches oder unbürokratisches Verfahren. Ich bezweifle stark, dass so das Geld schneller abgerufen und vor allem auch ausgezahlt werden kann, als die nun genannte Frist bis zum 31. März 2023.

Ich hätte mich wirklich gefreut, liebe Sozialdemokraten, wenn wir bei diesem Thema weiter Hand in Hand arbeiten und wir gemeinsam diesen Weg gehen würden. Schade, dass dazu vorher keine Kommunikation stattgefunden hat. Unsere Hand ist und bleibt ausgestreckt; denn die Themen „Kinderschutz“ und gerade „Lügde“ sollten uns alle einen und nicht trennen.

Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, diesen Ergänzungsantrag gemeinsam mit der FDP und der CDU auf die Beine zu stellen, und danke für eure Aufmerksamkeit. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Woestmann. – Es gibt eine Kurzintervention aus den Reihen der SPD durch den Kollegen Ott.

Jochen Ott (SPD): Danke schön, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns ist durch die Zeitungsberichterstattung zur Kenntnis gekommen, dass es in anderen Bundesländern – hier Niedersachsen –anscheinend möglich war, die Auszahlung deutlich zu beschleunigen. Bei uns ist das bisher nicht gelungen. Deshalb ist es nur richtig, dass man in einer solchen Debatte darauf hinweist, dass auch mit dem bestehenden Gesetz ein schnelleres Verfahren möglich ist. Trotzdem unterstützen wir es nachhaltig, die Strukturen dieses Opferschutzgesetzes anzupacken und zu überarbeiten.

Unsere Sorge ist nur: In dem vorgelegten Entschließungsantrag findet sich kein Hinweis darauf, dass den Kindern, die vom Gericht festgestellt Opfer gewesen sind und gelitten haben, jetzt kurzfristig und beschleunigt Geld ausgezahlt worden wäre.

Wir haben in Nordrhein-Westfalen damals mit den Entschädigungszahlungen rund um die Loveparade gute Erfahrungen gemacht. Das war nicht bürokratisch, sondern es ging zügig und schnell. Wir sind der Auffassung, dass all das, was zu Recht von den Vorrednern gesagt wurde, dazu führen muss, dass diese Kinder das Geld jetzt schnell ausgezahlt bekommen.

Das muss das Ziel jeder Initiative sein.

Was in Ihrem Entschließungsantrag steht, ist eine Willenserklärung, bedeutet aber keine Beschleunigung. Die fehlt uns. Darum bitten wir und fordern es auch mit unserem Antrag.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Zur Stellungnahme hat Frau Kollegin Woestmann noch einmal das Wort.

Eileen Woestmann (GRÜNE): Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Ott, für die Frage bzw. die Kurzintervention. Ich denke, dieses Thema ist zu komplex, als dass man es über Zeitungsartikel und Ähnliches abschließend behandeln könnte.

(Zuruf von der SPD: Oh!)

Ich finde es richtig und wichtig, dass wir in der kommenden Woche in zwei Sitzungen des PUA Expertinnen und Experten dazu hören, die uns konkreter sagen können, warum die Bearbeitung in NRW aktuell nicht so schnell wie in Niedersachsen erfolgt. Darüber können wir uns mit den Expertinnen und Experten austauschen, und dann können wir sehr gerne noch einmal gemeinsam besprechen, wie wir damit umgehen, um, sofern nötig, gegebenenfalls einen weiteren Antrag zu formulieren. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN

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