Eileen Woestmann: „Kinderschutz lebt von Kooperation, von Netzwerken, von Zusammenarbeit“

Zur Großen Anfrage der SPD-Fraktion zum Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Kindesmissbrauch“

Portrait Eileen Woestmann

Eileen Woestmann (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Der Missbrauchskomplex von Lügde bedeutet einen Einschnitt, ein Wachwerden der Gesellschaft bezüglich des Themas „Kinderschutz“. Deutschlandweit wurde plötzlich sehr präsent über das Thema gesprochen, und es wirkt auch heute noch nach.

Auch heute noch bekommen gerade Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder mediale Aufmerksamkeit, und das ist gut, denn Kinderschutz ist nichts, was im stillen Kämmerlein passiert, nichts, was nur Fachkreise etwas angeht, sondern es geht uns alle etwas an. Deshalb ist jede Debatte, jede Berichterstattung, wenn sie im Sinne der geschädigten Kinder passiert und es nicht um Clickbaiting geht, gut.

Aber Gewalt gegen Kinder ist nicht nur sexueller Missbrauch, das ist auch körperliche, psychische und emotionale Gewalt. Bei rund 60.000 Kindern wird jährlich eine sogenannte Kindeswohlgefährdung festgestellt. Was heißt das? „Kindeswohlgefährdung“ ist ein Begriff, der immer wieder auftaucht. Er wirkt so klar, so eingängig: Das Wohl des Kindes ist gefährdet. Schnell kann der Eindruck entstehen: Kind in Obhut genommen, Gefahr abgewendet, alles Friede, Freude, Eierkuchen.

Aber ist das wirklich so einfach? Ich kann Ihnen versichern: Das ist es nicht. – Ich habe einige der jährlich rund 60.000 Fälle begleitet, und ich könnte jetzt Stunden füllen, in denen ich Ihnen davon berichte: von Kindern mit verdächtigen blauen Flecken, aber nachvollziehbaren Erklärungen zur Ursache, von Kindern, die verstummt sind und nichts sagen, aber alles an ihnen schrie: „Hilfe!“, von kooperativen, aber auch völlig eskalierenden Gesprächen mit Eltern über den Verdacht der Misshandlung der Kinder, von Inobhutnahmen nachts um 22:00 Uhr, bei denen ich noch immer Gänsehaut bekomme, wenn ich daran denke, weil der Wunsch der Kinder, aus dieser Familie rauszukommen, so groß war.

Ich könnte Ihnen von einem Kinderarzt erzählen, der sich mit den Eltern verbündet und versucht hat, fachliche Expertise und Einschätzung zu sabotieren, und damit Kindern aktiv geschadet hat.

Ich könnte von herausragender Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und freien Trägern berichten und von Zusammenarbeit, bei der ich als Fachkraft schier wahnsinnig geworden bin, vom Verdacht des sexuellen Missbrauchs gegen Kinder und der Machtlosigkeit des Hilfesystems und von Eltern, die trotz all der Dramen, die sie erlebt haben, ihren Kindern ein gewaltfreies Aufwachsen ermöglichen wollen und dafür einen harten persönlichen Weg gehen.

Ich könnte Ihnen von Gerichtsverhandlungen erzählen, in denen Anwältinnen sitzen, denen die Kinder völlig egal sind, weil sie ausschließlich ihre Mandanten vertreten, und von einer Verhandlung, die wir mit der Richterin am Bett der Jugendlichen geführt haben, weil sie sonst nicht zustande gekommen wäre.

Diese beschriebenen Zustände sind keine Ausnahme, das ist daily Business im Kinderschutz, das ist komplex, es ist herausfordernd und je nach Fallkonstellation auch sehr individuell. Warum erzähle ich Ihnen das? Weil es unsere Aufgabe als Parlament ist, immer wieder zu schauen, wie wir Kinderschutz stärken können, indem wir das Thema „Gewalt gegen Kinder“ aus der Tabuzone holen und auch konkrete Maßnahmen beschließen.

Kinderschutz lebt von Kooperation, von Netzwerken, von Zusammenarbeit. Es ist ein wichtiger und richtiger Schritt, dass genau das auch im Landeskinderschutzgesetz festgehalten und damit auch gesetzlich geregelt ist, dass es nicht nur nice to have, sondern Grundlage der Arbeit ist.

Aber Netzwerke leben von den Menschen, die die Netze knüpfen. Ja, die Hauptaufgabe von Kinderschutz liegt beim Jugendamt, denn hier ist das Wächteramt des Staates über das Wohl des Kindes verortet. Das Jugendamt alleine kann es aber nicht richten. Es ist angewiesen auf Hinweise, auf Wahrnehmungen, Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, mit Polizei, mit Kita, mit Schule, Staatsanwaltschaft, Ärztinnen, aufmerksamen Nachbarn usw.

Kinderschutz bedeutet, gemeinsam hinzuschauen und nicht wegzusehen. Netzwerke sind dabei maßgeblich, und wir müssen immer wieder feststellen, dass es in NRW bereits viele Kommunen gibt, die eine superbreite Zusammenarbeit ermöglichen. Es gibt aber leider auch Städte, in denen die strukturelle Zusammenarbeit noch nicht funktioniert.

Kinderschutz lebt davon, dass Menschen engagiert dabei sind, sich einzubringen und für die Kinder Partei ergreifen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob jemand viel Berufserfahrung hat oder gerade von der Uni kommt. Entscheidend ist, hinzuschauen, wahrzunehmen, nachzufragen, sich auszutauschen und vor allem ernst zu nehmen.

In Lügde ist einiges falsch gelaufen. Genau deshalb arbeiten wir die strukturellen Fehler im PUA auf. Hinweise wurden nicht ernst genommen. Menschen, die für die Kinder Partei ergreifen wollten, wurden abgewiesen. Kinder wurden nicht gehört oder beteiligt.

Der PUA hat die Aufgabe, Strukturen zu durchleuchten, wo die Fehler gemacht wurden, und genau diese Strukturen zu verbessern. Wir wollen keine schnellen oberflächlichen Teillösungen, um das politisch zu vermarkten. Wir wollen echte Veränderung in den Strukturen in der Praxis. Genau dafür liefert uns der PUA weiterhin verschiedene wertvolle Aspekte. Dazu gehört auch, dass das bereits verabschiedete Landeskinderschutzgesetz in der Praxis umgesetzt wird und dass wir natürlich gemeinsam evaluieren, wo nachjustiert werden muss.

Wir werden uns gemeinsam dafür einsetzen, dass Kinderschutz in den Haushalten der Kommunen abgebildet wird, dass Netzwerkarbeit mit Zeitkontingenten ausgestattet wird und Fachkräfte befähigt werden, gute Arbeit zu leisten; denn Kinderschutz ist kein Schlagwort, um sich politisch zu rühmen und dann wieder abzutauchen, sondern es bedeutet, dass wir Strukturen schaffen müssen, in denen Kinderschutz als oberste Priorität anerkannt wird, Fachkräfte Wertschätzung erfahren und wir alle als Gesellschaft hinschauen. Kinderrechte müssen dafür auch politisch endlich umgesetzt werden.

Das Einsetzen des Landesbeauftragten für Kinderschutz und Kinderrechte zeigt: Wir statten die Themen „Kinderschutz“ und „Kinderrechte“ auch personell aufseiten der Landesregierung im Konsens mit den anderen demokratischen Fraktionen aus.

Kinderschutz geht auch auf politischer Ebene nur miteinander, und am Ende findet Kinderschutz in der Praxis vor Ort statt. Unsere Aufgabe als Politik muss sein, gesamtgesellschaftlich für eine Sensibilisierung des Themas zu sorgen, dafür zu sorgen, dass über Kinderschutz gesprochen wird: empowernd und stärkend, ohne Missbrauchshandlungen verbal zu reproduzieren und nicht im Versuch, parteipolitisches Kalkül daraus zu ziehen.

Zum Schluss möchte ich noch eine Sache sagen: Für uns Grüne steht der Schutz der Kinder auch im Rahmen des PUAs an erster Stelle. Dazu gehört für uns auch, dass das Thema nicht auf Kosten der Kinder skandalisiert wird, sondern die Opfer geschützt werden. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Eileen Woestmann (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ich möchte meine restlichen Minuten Redezeit nutzen, um über das Thema „Prävention“ zu sprechen.

Ja, wenn wir über sexuelle Gewalt gegen Kinder sprechen, dann müssen wir über Prävention sprechen. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass Kinder Worte bekommen: Worte für ihren Körper, für ihre Körperteile und natürlich auch für ihre Geschlechtsteile. Denn nur wer Worte hat, wird Sprache finden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dennoch muss uns klar sein, dass allein Prävention und allein die Arbeit mit Kindern Gewalt nicht verhindern werden. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir hinschauen, dass der kritische Blick der Erwachsenen vorhanden ist und zwar unabhängig davon, in welchem familiären Kontext Kinder leben. Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, Kinder zu schützen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)