Eileen Woestmann: „Junge Menschen sind weder faul, verdorben oder böse noch brutal oder respektlos“

Zur Aktuellen Stunde auf Antrag der Fraktionen von FDP und "AfD" zu Jugendkriminalität

Portrait Eileen Woestmann

Eileen Woestmann (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ich würde mit Erlaubnis des Präsidenten gerne mit einem Zitat starten:

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul.“

Wenn wir ehrlich sind, dann klingt das doch ein bisschen wie „Jung, brutal, respektlos“. So lautet ein Titel der Presse im Rahmen der Berichterstattung zur Studie der Landesregierung in der vergangenen Woche.

Das Zitat, mit dem ich gerade gestartet bin, ist aber aus der Zeit um 1.000 vor Christus und stammt von einer babylonischen Tontafel.

(Heiterkeit von Verena Schäffer [GRÜNE] und Wibke Brems [GRÜNE])

Pauschalisierung über junge Menschen gab es also offensichtlich schon immer.

Wir alle wissen: Pauschale Aussagen sind meist wenig hilfreich. Vor allem werden weder die babylonischen Tonscheiben noch die aktuelle Presseberichterstattung dem gerecht, was junge Menschen ausmacht. Junge Menschen sind weder faul, verdorben oder böse noch brutal oder respektlos.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Marcel Hafke [FDP]: Wer hat das denn behauptet?)

Laut der Liz-Mohn-Studie aus dem Jahr 2023 geben 64 % der jungen Menschen an, dass sie es wichtig finden, zur Gemeinschaft beizutragen – um nur mal einen Aspekt zu nennen, der ein anderes Licht auf junge Menschen wirft.

Nichtsdestotrotz sehen wir eine Zunahme im Bereich der Jugendkriminalität. Darauf braucht es Reaktionen. Als Innenpolitikerin, aber vor allem auch als Sozialpädagogin kann ich dabei sehr klar sagen: Pauschale und einfache Antworten werden uns nicht weiterhelfen. Es muss gelingen, gemeinsam Lösungen zu identifizieren und miteinander zu kooperieren.

Natürlich muss sich dabei auch angeschaut werden: Warum werden Kinder und Jugendliche eigentlich kriminell? – In der von der Landesregierung beauftragten Studie werden spannende Hinweise gegeben.

Bei einem Hinweis vermisse ich ehrlicherweise den Aufschrei.

(Marcel Hafke [FDP]: Wir auch!)

Frau Kampmann, ich bin sehr dankbar, dass Sie auf diesen Aspekt gerade schon hingewiesen haben. Sie waren aber auch die Erste in dieser Aktuellen Stunde.

(Zuruf von Christina Kampmann [SPD])

Die Studie zeigt nämlich deutlich, dass es eine Zunahme von Elterngewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt. Seit ziemlich genau 25 Jahren, seit dem 8. November 2000, ist es in Deutschland verboten, Kinder zu schlagen. Das wird durch § 1631 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch garantiert. Ich habe ihn mitgebracht. Er besagt: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

(Franziska Müller-Rech [FDP]: Was ist denn jetzt die Lösung?)

Wenn Kinder angeben, dass es eine Zunahme von Gewalt durch ihre Eltern gibt, dann nehmen wir das offensichtlich achselzuckend zur Kenntnis. Vielleicht muss ich sogar noch einen Schritt weiter gehen: Es wird sofort gefordert, dass die Kinder, die genau das weitergeben, was sie von ihren Eltern gelernt haben, bestraft werden müssen.

(Zuruf von Enxhi Seli-Zacharias [AfD])

Wir reden nicht darüber, dass offensichtlich ein Problem bei Erwachsenen besteht, dass es Konsequenzen für schlagende Eltern braucht und dass Kinder Schutz vor Gewalt benötigen.

Lieber Herr Hafke, das ist kein pädagogisches Feigenblatt.

(Marcel Hafke [FDP]: Doch!)

Das ist zentral!

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Zuruf)

Auch in der Presseberichterstattung wird darüber teilweise nicht einmal mehr in einem Nebensatz berichtet. Das finde ich bedenklich. Gewaltfreie Erziehung ist kein Nice-to-have, sondern wird im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Grundgesetz garantiert.

(Zuruf von Enxhi Seli-Zacharias [AfD])

Ich möchte gerne noch auf einen anderen Aspekt der Studie eingehen. Wer wiederholt die Erfahrung macht, dass ein Regelverstoß keine Konsequenzen hat, der zeigt eine niedrigere Normbindung. Er ist also weniger bereit, sich an Regeln zu halten. Ich halte das für einen sehr zentralen Aspekt.

Hierbei kommen wieder wir Erwachsene ins Spiel. Sowohl im Elternhaus und in der Schule als auch im öffentlichen Raum ist es zentral, dass gesetzte Regeln gelten und nicht heute so und morgen so ausgelegt werden. Regeln durchzusetzen und verlässlich zu gestalten, ist harte Arbeit. Das bedeutet harte Erziehungsarbeit für Eltern, harte Erziehungsarbeit in Schule, harte Erziehungsarbeit in Jugendhilfe, aber auch harte Arbeit im öffentlichen Raum.

Dieser Aspekt macht deutlich: Es ist eben nicht egal, wie man mit einem Diebstahl, mit einer Schlägerei oder mit Schulschwänzen umgeht. Vielmehr hat die Reaktion von Erwachsenen auf Regelverstöße eine zentrale Wirkung. Wir Erwachsene stehen in der Verantwortung.

Lieber Herr Hafke, diese Regeldurchsetzung geht nicht autoritär, sondern nur mit einer klaren Haltung, Respekt und klaren Konsequenzen,

(Zuruf von Franziska Müller-Rech [FDP])

aber trotzdem einem offenen Ohr für die Nöte junger Menschen.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von der SPD)

Dieser Verantwortung können wir nur gerecht werden, wenn die verschiedenen Systeme – Familie, Schule, Jugendhilfe, Polizei und Justiz – miteinander arbeiten, anstatt wie bisher noch so oft nebeneinander zu existieren.

Um einmal konkret auf den Aspekt „Schule“ einzugehen: Schule ist ein sehr zentraler Ort für junge Menschen, weil sie dort den Umgang mit einer Gruppe erlernen; sie haben dort ihre Peergroup und entwickeln sich weiter. Genau deswegen ist es richtig, dass Schule und Polizei in dem Landesprojekt „miteinander.stark.sicher – Gemeinsam für eine gewaltfreie Schule“ miteinander arbeiten und enger verzahnt werden.

Es gibt aber noch weitere Angebote in Nordrhein-Westfalen, um Jugenddelinquenz zu begegnen. Die Initiative „Kurve Kriegen“, bei der es darum geht, gezielt Intensivstraftäter zu erreichen, wurde heute schon mehrfach angesprochen. Wir haben in NRW sieben Häuser des Jugendrechts, in denen verschiedene Professionen zusammen mit den Menschen arbeiten, die eine Straftat begangen haben. Es gibt auch lokale Initiativen wie beispielsweise „#KölnSafe“, wo die Zunahme von Messergewalt im Fokus steht und Konzepte von Jugendlichen für Jugendliche entwickelt werden.

Zusätzlich muss man aber auch festhalten, dass wir gesamtgesellschaftlich eine Veränderung wahrnehmen. Lange Unsagbares wird wieder sagbar. Das Internet ist für viele noch immer der Ort, an dem alles erlaubt ist und an dem gerade Erwachsene sich teilweise so dermaßen danebenbenehmen, dass es kaum auszuhalten ist. Gewaltverherrlichende Abbildungen, hardcorepornografische Abbildungen: Es ist alles nur einen Klick entfernt und jederzeit abrufbar.

Das macht etwas mit Erwachsenen, und es macht vor allem auch etwas mit jungen Menschen. Dafür müssen wir auch einen Umgang finden, und zwar nicht nur für junge Menschen, sondern auch für uns Erwachsene.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sicherheitspolitik und Prävention müssen zusammengedacht werden. Säulen müssen aufgebrochen werden. Es muss ein Miteinander statt einem Gegeneinander entstehen. Handelnde Personen müssen sich kennen und vertrauen können. Polizei muss für junge Menschen real ansprech- und begreifbar sein. Nur so können wir Jugenddelinquenz am Ende auch begegnen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)