Dr. Ruth Seidl: „Die Hochschulen in NRW sind dank der rot-grünen Hochschulreformen so frei wie nirgendwo sonst in Deutschland“

Antrag der CDU auf Aktuelle Stunde zur Hochschulfreiheit

Dr. Ruth Seidl (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Freimuth, Sie tragen seit 2006 einen Mythos vor sich her: den Mythos, dass Sie, insbesondere die FDP-Fraktion, die Erfinder der Hochschulfreiheit in Nordrhein-Westfalen seien.
(Beifall von der FDP)
Dabei ist es mit dem sogenannten Hochschulfreiheitsgesetz in Ihrer Regierungszeit zu einer höchst umstrittenen politischen Weichenstellung gekommen. „Weniger Staat und mehr Wettbewerb“ hieß die Devise. Und seitdem war nicht mehr klar, wer eigentlich für eine vernünftige Landesplanung zuständig ist. Das fand im Übrigen auch der damalige Vorsitzende der Landesrektorenkonferenz, Herr Prof. Ronge, der im Rahmen der Anhörung zum HFG sagte – ich zitiere –:
Man muss sich überlegen, ob wir überhaupt noch von einer Hochschullandschaft in Nordrhein-Westfalen sprechen können; denn wir haben dann eine Vielzahl von Hochschulen, deren integratives Element, das bisher durch den Staat geleistet worden ist, entfallen ist. Dann haben wir viele Hochschulen, aber nicht mehr eine Landesstruktur des NRW-Hochschulwesens.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus meiner Sicht ist es unerklärlich und unverantwortlich, wie man sich in einem Land, das die größte Dichte an Hochschulen in ganz Europa besitzt, so aus der gesamtstaatlichen Verantwortung zurückziehen konnte.
(Beifall von den GRÜNEN – Marcel Hafke [FDP]: Ist doch lächerlich!)
Inzwischen gibt es in Nordrhein-Westfalen 69 Hochschulen. Und es ist politische Aufgabe, die groben Ziele der Landesplanung zu definieren: Wie viele Studienplätze brauchen wir? Wie muss perspektivisch die Fächerentwicklung für ein zukunftsfähiges Nordrhein-Westfalen aussehen? Wie gelingt die inhaltliche und strukturelle Reform des Bologna-Prozesses? Wie können wir einen höheren Anteil an Frauen in Spitzenpositionen der Wissenschaft bringen? Oder: Wie gehen wir mit den im Mittelbau zunehmenden prekären Beschäftigungsverhältnissen um?
Ihr Ansatz war immer: Die einzelnen Hochschulen werden das schon machen. – Unser Ansatz ist: Die Hochschulen brauchen dazu unsere Unterstützung und eine vernünftige landespolitische Steuerung.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir gesetzlich verankern, dass uns das MIWF künftig eine für die gesamte Hochschullandschaft verbindliche strategische Planung des Landes in einem Landeshochschulentwicklungsplan vorlegt, dessen Eckpunkte in regelmäßigen Abständen fortgeschrieben und vom Landtag beschlossen werden.
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind sehr dafür, den Hochschulen mehr Autonomie und Gestaltungsfreiheit zu geben. Der Staat hat sich weitestgehend aus der Detailsteuerung der Hochschulen herauszuhalten. Deshalb ist es absoluter Blödsinn, zu behaupten, Herr Berger, Rot-Grün wolle die Hochschulen wieder zu nachgeordneten Behörden des Landes bzw. Landeseinrichtungen machen, damit das Ministerium wieder über unmittelbare Durchgriffsrechte verfüge. Das ist Populismus pur!
(Beifall von den GRÜNEN)
Um Ihr Geschichtsbewusstsein aufzubessern, sage ich Ihnen Folgendes: Die Hochschulen in NRW sind dank der rot-grünen Hochschulreformen in den vergangenen Jahren so frei wie nirgendwo sonst in Deutschland. Wir haben die Berufung von Professorinnen und Professoren sowie die Einrichtung von Studiengängen vollständig an die Hochschulen delegiert. Das erfolgte ja noch unter der damaligen Wissenschaftsministerin Kraft. Auch die Einführung der Globalhaushalte geht auf die rot-grüne Regierungszeit zwischen 2000 und 2005 zurück. Daran geknüpft wurde eine moderne Hochschulsteuerung über Ziel- und Leistungsvereinbarungen und eine staatliche Finanzierung, welche ein Teil der Mittel nach Kriterien leistungsorientiert vergibt.
Seit 2000 haben wir diesen Prozess kontinuierlich nach vorne gebracht. Im Übrigen haben wir die Verselbstständigung als Körperschaft, die Sie ja dann eingeführt haben, vom Grundsatz her nicht abgelehnt. Aber wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass wir dann auch ein neues Steuerungsmodell brauchen, das die Belange der Hochschullandschaft als Ganzes in den Blick nimmt.
(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])
Das, Herr Dr. Berger, sind wir nicht zuletzt den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schuldig, denn schließlich gehen Jahr für Jahr mehr als 4 Milliarden € an die Hochschulen und die Universitätsklinika in Nordrhein-Westfalen. Dafür tragen wir, das Parlament, der Haushaltsgesetzgeber, die Verantwortung.
(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])
Ihr Hochschulfreiheitsgesetz geht in der Tat eindeutig einen Schritt zu weit, was den Rückzug aus der staatlichen Verantwortung angeht. Das ist aber nicht mit einem Mehrwert von zusätzlicher Freiheit gleichzusetzen. Vielmehr haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, mit einem starken externen Hochschulrat einen neuen Player eingeführt, auf den Kompetenzen sowohl vom Ministerium als auch von den Gremien der Hochschule übertragen wurden. Das Ergebnis war nicht mehr, sondern eher weniger Freiheit für Forschung und Lehre.
(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)
Entsprechend negativ fiel damals das Echo der Hochschulen aus.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren Mythos ausräumen: Wir als Grüne haben uns im Parlament nie grundsätzlich gegen die Konstruktion von Hochschulräten ausgesprochen. Aber wir haben sehr deutlich gemacht, dass ein solches Gremium keinen Verlust von Mitbestimmungsrechten für Professorinnen und Professoren, für Studierende und Mitarbeiterinnen bedeuten darf.
Die Hochschulen können sehr wohl von einem gesellschaftspolitischen Input und einer gesellschaftspolitischen Vernetzung profitieren. Auch ich bin der Meinung, dass eine Hochschule nicht im eigenen Saft schmoren sollte und es gut tut, wenn der Blick von außen auf die Organisation fällt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Eingriff externer Hochschulratsmitglieder, die sich mehr oder weniger regelmäßig in der Hochschule treffen und die nicht zur wissenschaftlichen Community gehören, in das Kerngeschäft der Hochschulen ist aus unserer Sicht nicht zielführend.
Deshalb brauchen wir eine neue Diskussion über die Zusammensetzung, den Status und die Aufgaben der Hochschulräte in Nordrhein-Westfalen. Die jetzt vorliegenden Eckpunkte der HG-Novelle sind das Ergebnis der ersten Beratungsrunde mit den Hochschulen und gesellschaftlichen Gruppen. Auf dieser Grundlage werden wir jetzt in einen breiten Dialog und Konsultationsprozess gehen. Denn wer könnte die Auswirkungen des HFG wohl besser bewerten als die betroffenen Statusgruppen selber?
Für eine Evaluierung des HFG werden wir darüber hinaus eine wissenschaftliche Expertise einholen. Die Ergebnisse beider Bewertungsphasen fließen dann in den Gesetzentwurf und das parlamentarische Verfahren ein.
Mit Blick auf Ihren Beitrag, Frau Freimuth, kann ich nur sagen: Ihr Gejammer über die verlorene Hochschulfreiheit wirkt vor dem Hintergrund der Diskussion ein wenig wie Phantomschmerz,
(Marcel Hafke [FDP]: Alle Rektoren!)
wie der Wehmut über den Untergang der FDP und ein Freiheitsverständnis, das die Menschen in diesem Land überhaupt nicht mehr akzeptieren. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)


2. Runde:

Dr. Ruth Seidl (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier heute eine sehr interessante Gemengelage. Auf der einen Seite fordern Sie, CDU und FDP, eine bedingungslose Hochschulfreiheit, ohne sich der Verantwortung für die große Hochschullandschaft in Nordrhein-Westfalen zu stellen. Auf der anderen Seite haben wir die Piraten, die alle Autonomieansätze eigentlich im Kern wieder zerschlagen wollen.
(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Nein! Falsch verstanden!)
Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass Rot-Grün einen Mittelweg einschlagen will.
Wenn heute von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, behauptet wird, es gäbe überhaupt keinen Nachbesserungsbedarf am Hochschulfreiheitsgesetz und es gäbe auch überhaupt keine Kritik aus den Hochschulen, dann würde ich Ihnen gerne noch einmal in drei Punkten zusammenfassen, was in den vergangenen Jahren die durchgängige Kritik relevanter Persönlichkeiten aus den Hochschulen am Hochschulfreiheitsgesetz war.
Erstens. Kritisiert wurde die Entdemokratisierung der eigentlichen Gremien der Hochschulen.
(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN – Beifall von Karl Schultheis [SPD])
Zweitens. Kritisiert wurde die Verlagerung von Entscheidungs­kompetenzen des Ministeriums und des Senats auf einen mit wenig Sachkenntnis ausgestatteten Hochschulrat.
Drittens. Kritisiert wurde der Rückzug von gesamtstaatlicher Verantwortung für die Gestaltung der Hochschullandschaft als Ganzes.
So hat Prof. Hellermann, Rechtswissenschaftler an der Universität Bielefeld, zum Thema „Entscheidungsbefugnis des Senates“ bei der Anhörung zum HFG am 24. August 2006 wie folgt Stellung genommen – ich zitiere –:
„Auch im Übrigen verbleibt dem Senat als einzige echte Entscheidungsbefugnis der Erlaß der Grundordnung und weiterer Ordnungen der Hochschule … Ein derart weitgehender Entzug von originären Entscheidungskompetenzen gegenüber den Gremien der akademischen Selbstverwaltung unter Verlagerung auf Externe gefährdet die Wissenschaftsfreiheit strukturell und ist daher mit der Verfassung nicht mehr vereinbar.“
Ja, was war denn das für ein Hochschulfreiheitsgesetz, wenn es noch nicht mal mit der Verfassung vereinbar war?
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Wenn Sie stattdessen lieber die Stimme der Hochschulrektorenkonferenz hören wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen – das ist heute schon mehrfach gesagt worden –, möchte ich sie noch einmal zitieren. Frau Prof. Wintermantel moniert Folgendes:
„Uns leuchtet aber nicht ein, warum der Hochschulratsvorsitzende oder die Hochschulratsvorsitzende Dienstvorgesetzte oder Dienstvorgesetzter der hauptberuflichen Präsidiumsmitglieder sein soll.“
Und jetzt noch eine dritte Gruppe! Ganz besonders kritisch bewertet der Hochschullehrerbund die Einführung eines Hochschulrates mit weitgehenden Rechten. Ich zitiere:
Die Mitglieder des Hochschulrates werden Entscheidungen treffen, für die sie weder die Sachkompetenz besitzen noch die Folgen persönlich tragen müssen.
Das Versagen von Aufsichtsräten deutscher Aktiengesellschaften muss davor warnen, Externen Entscheidungsrechte einzuräumen.
(Dr. Stefan Berger [CDU]: Aber Frau Schulze kann es besser, nicht!)
Das Grundprinzip der Einheit von Aufgaben, Verantwortung und Entscheidungskompetenz wird durch die Einführung des Hochschulrates eklatant durchbrochen. Die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Motivation der Professorinnen und Professoren lassen sich in ihrem ganzen Ausmaß bisher nur erahnen. Es ist kaum nachvollziehbar, dass diejenigen, die letztlich für den Erfolg der Hochschule Verantwortung tragen und gleichzeitig Kernkompetenz verkörpern, nicht auch nachhaltig die wesentlichen Entscheidungen treffen sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die Stimmen der Hochschullehrer in Nordrhein-Westfalen.
Um es abzurunden: Benedikte Winterstein von der Landespersonalrätekonferenz der wissenschaftlich Beschäftigten an den Hochschulen und Universitätsklinika in Nordrhein-Westfalen, eine große Gruppe im Mittelbau. Zitat:
Eine Hochschule hat sich einmal die Mühe gemacht, die Dienstaufgaben der obersten Dienstbehörde – Hochschulrat – zusammenzustellen. Dabei kam ein eng beschriebenes siebenseitiges Papier heraus. Bei den meisten Punkten stand daneben: nicht delegierbar. – Wir fragen uns wirklich, wie das funktionieren soll. Infolgedessen ist ja insbesondere in Bochum, aber auch an anderen Hochschulen die Tendenz nicht zu übersehen, dass der Hochschulrat, der häufig aus hochwohlgeborenen Persönlichkeiten besteht, die furchtbar wenig Zeit haben, diese Aufgaben gerne wieder loswerden möchte.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und den PIRATEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Stellungnahmen – ich wollte sie heute noch mal zitieren, weil Sie hier heute sozusagen die Gegenstellungnahmen zitiert haben – unterscheiden sich natürlich gegebenenfalls auch von denen der Präsidenten und Kanzler. Sie zeigen aber auch, dass es eine große Unzufriedenheit gibt bei den Lehrenden, bei den Studierenden, bei den wissenschaftlichen und nicht­wissenschaftlichen Beschäftigten an unseren Hochschulen.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)
Eine Hochschule funktioniert aus unserer Sicht nur als demokratische Gemeinschaft, in der vor allem – das sage ich hier auch noch mal ganz deutlich – die Freiheit von Wissenschaft und Forschung Vorrang hat. In diesem Sinne wollen wir eine andere Kultur. In der Tat: Wir wollen das Hochschulgesetz neu gestalten. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)