Dr. Ruth Seidl: „Die akademische und die berufliche Ausbildung sind keine konkurrierenden Systeme, sie ergänzen sich“

Antrag von SPD und GRÜNEN zu duale Ausbildung und Studium als gleichwertige Ausbildungsalternativen

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Dr. Ruth Seidl (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zehn Jahren verzeichnen die Hochschulen Rekordzahlen bei der Aufnahme von Studierenden. Warum ist das so? Ein Studium ist attraktiv, weil Akademikerinnen und Akademiker oft höhere Einkommen erhalten und auch seltener arbeitslos sind.
Keine Frage, gut verdienen kann man auch ohne Studium, wie uns eine kürzlich erschienene aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln belegt. Auch Absolventinnen und Absolventen beruflicher Bildung haben hervorragende Perspektiven, denn ihr großes Plus ist die berufliche Praxis. Sie sind eine Stütze des Mittelstands, begehrte Fachkräfte und ein Erfolgsfaktor für unsere Wirtschaft. Die Frage, ob der Studierendenboom das duale System bedrohe, ist deshalb eine Frage, die sich eigentlich gar nicht stellt.
Wer wie die CDU behauptet, alle jungen Menschen würden studieren wollen – so suggerieren Sie es auch in Ihrem Antrag –, sollte sich die Zahlen genauer ansehen. Das Interesse an einer beruflichen Ausbildung ist nach wie vor ungebrochen. Seit Jahren will jede oder jeder fünfte Studienberechtigte eine Berufsausbildung machen, und unter den Kindern nicht akademisch gebildeter Eltern ist das sogar jede oder jeder Vierte.
Wer bei Bachelorstudierenden eine Abbruchquote von 28 % kritisiert, muss auch erwähnen, dass es bei der beruflichen Ausbildung 25 % sind. Im Übrigen wurden in beide Prozentzahlen auch diejenigen eingerechnet, die in andere Ausbildungstypen oder an andere Einrichtungen, Betriebe und Hochschulen wechseln.
Wer schließlich die hohe Zahl an Studienanfängerinnen und Studienanfängern als Maßstab für eine vermeintliche Überakademisierung nimmt, muss die ebenso hohe Zahl an Ausbildungssuchenden sowie diejenigen, die sich in der schulischen Berufsausbildung und im Übergangssystem befinden, daneben halten. 103.000 Studierende haben sich im Wintersemester an einer Hochschule in Nordrhein-Westfalen eingeschrieben, 102.730 haben sich in diesem Zeitraum um einen Ausbildungsplatz bemüht, und etwa 60.000 junge Menschen belegen Plätze in der schulischen Berufsausbildung sowie im Übergangssystem.
Die akademische und die berufliche Ausbildung sind insofern keine konkurrierenden Systeme. Sie ergänzen sich und bauen aufeinander auf. Der vorliegende Entschließungsantrag der CDU qualifiziert hingegen die akademische Bildung ohne Not ab und spielt sie gegen die berufliche Ausbildung aus. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist das, finde ich, anachronistisch.
Es gibt wohl kaum ein anderes Bundesland, in dem die Durchlässigkeit von dualer Ausbildung und Hochschulausbildung so hoch ist, wie in Nordrhein-Westfalen. Das müssten auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, einmal zur Kenntnis nehmen, wenn Sie eine mangelnde Gleichwertigkeit der verschiedenen Systeme beklagen.
Das Land hat eine ganze Reihe von gezielten Unterstützungsangeboten aufgelegt, die wir im Ausschuss auch diskutiert haben und die vorgestellt wurden, wie das Projekt Talentscouting, das Landesvorhaben „Kein Abschluss ohne Anschluss“, der bundesweit einmalige StudiFinder oder die Initiative „Zukunft durch Innovation (zdi). Alle diese Initiativen bieten jungen Menschen Orientierungshilfen und Anregungen sowohl für berufliche als auch für akademische Bildungswege.
Zu nennen sind auch das duale und das sogenannte triale Studium, bei dem akademische und berufliche Ausbildung zusammengeführt werden. Bei Letzterem kann neben dem Bachelorabschluss auch der Meistertitel erworben werden. Zudem hat die Verordnung über den Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte den Zugang zum Studium ohne Abitur deutlich erleichtert.
Während das Land in der schulischen Berufsausbildung und mit dem Hochschulpakt zahlreiche zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen hat, liegt das Angebot der Unternehmen hingegen deutlich unter der Zahl derjenigen, die eine betriebliche Ausbildung suchen. Hinzu kommt – was noch schlimmer ist –, dass nur noch 7 % der Betriebe Hauptschülerinnen und Hauptschüler ausbilden. Die Betriebe haben sich offensichtlich an eine Bestenauslese gewöhnt, und der Appell der Partner im Ausbildungskonsens lautet deshalb auch, Hauptschülerinnen und Hauptschülern eine gleichwertige Chance zu geben und sich dabei nicht alleine an Zeugnisnoten zu orientieren, da diese nur wenig über die praktischen, personalen und sozialen Fähigkeiten aussagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Deutschland sehr viele junge Menschen, die die Fachkräfte von morgen sein könnten. Ihnen müssen wir durch Beratung und weitergehende Maßnahmen dazu verhelfen, ihr Potenzial zu entfalten – egal ob in einer akademischen oder in einer beruflichen Ausbildung.
Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit!
Dr. Ruth Seidl (GRÜNE): Wenn alle zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze mit Interessierten besetzt würden, hätten wir kein Fachkräfteproblem. Die Wirtschaft verlangt hingegen nach noch mehr akademisch ausgebildeten Fachkräften. Es darf sich kein Widerspruch auftun, was nur möglich ist, wenn das gesamte Potenzial derjenigen genutzt wird, die ausbildungswillig und ausbildungsfähig sind.
Auf den Punkt gebracht: Wer die Attraktivität …
Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit!
Dr. Ruth Seidl (GRÜNE): … der dualen Ausbildung stärken will, muss eine Ausbildungsgarantie verwirklichen.
Mit Ihrem heute vorgelegten Entschließungsantrag versuchen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, die Phantomdebatte über den Akademisierungswahn erneut aufleben zu lassen. Aus guten Grund haben wir diesen auch schon im vergangenen Jahr abgelehnt.