Dr. Julia Höller: „Sozialpolitik ist hierbei die Wunderwaffe, nicht härteres Strafrecht“

Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Kinder- und Jugendkriminalität

Portrait Dr. Julia Höller

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Der Umgang mit einem so ernsten und wichtigen Thema wie der Kinder- und Jugendkriminalität irritiert mich irgendwie ein bisschen.

(Zuruf von der SPD: Bitte?)

Das Instrumentalisieren von Kindern und Jugendlichen auf der Basis von Zahlen, von denen wir alle wissen, dass sie das Problem nicht klar beschreiben,

(Jochen Ott [SPD]: Da ist sie wieder, die moralisierende Art und Weise zu reden!)

eine Leerformel nach der anderen in Ihrer Rede, Herr Ott, und den Antrag zu benutzen, in dem auch viele kluge Gedanken stecken, um hier eine Generalkritik an der Landesregierung zu üben, ist irgendwie nicht würdig.

(Kirsten Stich [SPD]: Passt doch! – André Stinka [SPD]: Ist doch so! – Zuruf von Jochen Ott [SPD] – Weitere Zurufe von der SPD)

Das alles machen Sie irgendwie, um dem Innenminister mal so richtig einen mitzugeben und mit dem Titel Ihres Antrags auch noch dem Ministerpräsidenten zum Mitschuldigen zu machen – nach dem Motto: Irgendetwas wird da hängen bleiben.

(Zurufe von der SPD)

Ich finde, dafür ist das Thema zu ernst.

(Serdar Yüksel [SPD]: War ja klar!)

Wir haben dankenswerter Weise in der Debatte ein bisschen Zeit zu sortieren. Deswegen habe ich sieben Punkte zu dem Antrag und zu dem Thema „Kinder- und Jugendkriminalität“.

(Zuruf von Andreas Bialas [SPD])

Erstens. Worüber sprechen wir hier? Worüber sprechen Sie in Ihrem Antrag? Sprechen wir über die entsetzlichen Tötungsdelikte, die extreme Ausnahmefälle sind? Sprechen wir über eine Zunahme von Gewaltkriminalität, die erschreckend, aber kein ausschließliches Phänomen von Kinder und Jugendlichen, sondern ein gesamtgesellschaftliches ist? Das macht es nicht besser, aber es ist wichtig, das in den Kontext zu setzen. Oder sprechen wir von der gestiegenen Alltagskriminalität bei Jugendlichen, die in der Fachliteratur häufig als Nachholeffekt nach Corona bezeichnet wird?

Diese drei Phänomene lassen sich hervorragend mit der Schlagzeile „Erschreckender Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität“ über einen Kamm scheren, obwohl es eigentlich komplett verschiedene Phänomene sind. Das ist auch ein Grund, warum niemand – wirklich niemand – aus der Fachcommunity populistische Aufschreie teilt, sondern überall eindringlich gebeten wird, umsichtig zu differenzieren.

Denn die Expertinnen und Experten aller Fachrichtungen sind sich einig, dass Delinquenz bei Kindern und Jugendlichen ubiquitär und episodenhaft ist – etwas, das es immer gab, immer geben wird und was sich eben in den allermeisten Fällen mit der Zeit auch auswächst. Fehlverhalten im Rahmen des Auflehnens gegen Autoritäten ist nun einmal ein Kennzeichen für pubertäre Entwicklung. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns ganz genau angucken, worüber und über welchen erschreckenden Anstieg – wie Sie es bezeichnen – wir hier sprechen. Was können wir aus den Zahlen denn wirklich herauslesen?

Deshalb – zweitens – die Zahlen. Es ist keine Überraschung: Ich halte die PKS für eine beschränkt aussagefähige Statistik bzw. ein beschränkt aussagefähiges Instrument – dazu aber an dieser Stelle nicht mehr, sondern bei anderer Gelegenheit. Schauen wir uns die Zahlen genau an – dafür muss man verschiedene Dokumente vergleichen und tief reingehen –, sehen wir, dass die Anzahl der tatverdächtigen Jugendlichen 2023 im Vergleich zu vor zehn Jahren, also 2013, um lediglich 3 % gestiegen ist. Die Zahl der Gewaltdelikte bei Jugendlichen ist im Vergleich zu vor 20 Jahren stark, nämlich um 16 %, zurückgegangen, aber im Vergleich zu 2013 wieder angestiegen.

Wir kommen also von sehr, sehr guten Zahlen in den 2000er-Jahren über eine Delle in den vergangenen Jahren zu jetzt wieder steigenden Zahlen. Diese Erkenntnis hilft erst einmal nicht bei dem aktuellen Problem. Sie ordnet es aber ein und setzt es in Relation. Wir sind uns, glaube ich, alle einig darüber, dass diese Zahlen keine guten Nachrichten sind und es eine Aufgabe für uns als Politik ist. Wir setzen deshalb diesen Fokus, aber maßvoll und ohne lautes Gebrüll.

Deshalb führen wir – drittens – die Maßnahmen, die Sie in Ihrem Antrag auflisten, auch konsequent fort. Die Häuser des Jugendrechts sind Maßnahmen für junge Intensivstraftäter. „Kurve kriegen“ ist eine kriminalpräventive Maßnahme. Die Brücke-Projekte aus Mitteln des Kinder- und Jugendförderplans sind Angebote für gefährdete und straffällig gewordene Jugendliche mit dem Ziel, ein dauerhaftes Abgleiten in die Kriminalität zu verhindern. Der Landespräventionsrat ist ein Netzwerk. Gewaltpräventionsprogramme im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz bieten Unterstützung für Fachkräfte. Das sind alles unterschiedliche Maßnahmen für die eben auch unterschiedlichen Phänomene, die wir fortsetzen, fördern und ausbauen.

Viertens. Prävention ist der Schlüssel. Ich sehe, Herr Ott hört mir gar nicht mehr zu, er dreht sich um. Ich höre schon: Ja, die Grünen wieder mit ihrem Präventionsdenken. – Richtig, Prävention ist erst mal irgendwie total unsexy, medial und in politischen Debatten. Mit „Erziehung statt Strafrecht“ gewinnt man keinen Blumentopf. Dennoch ist es in der Sache einfach richtig. Denn unsere Kinder und Jugendlichen haben ernsthafte Debatten mit klugen Lösungen verdient, und keine reißerischen, um einem Ministerpräsidenten billig einen Punkt abzuluchsen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Jochen Ott [SPD]: Haben Sie denn einen Vorschlag, Frau Höller? Nennen Sie mal einen Vorschlag! – Weitere Zurufe von der SPD)

Wohin richten Sie Ihren Blick? Zum Ministerpräsidenten. Ich bin überzeugt, das ist die falsche Blickrichtung. Denn wir müssen – fünftens – den Blick auf die Kommunen richten, auf Ordnungspartnerschaften, auf Netzwerke, …

(Andreas Bialas [SPD]: Macht doch! – André Stinka [SPD]: Es sind immer die anderen! – Zuruf von Jochen Ott [SPD])

– Hören Sie mir doch zu. Sie haben doch gerade gefragt, welche Lösungen ich habe. Hören Sie mir doch zu, anstatt hier irgendwie herumzukrakeelen! –

(Zurufe von der SPD)

… auf Ordnungspartnerschaften, auf Netzwerke vor Ort, die gemeinsam mit Jugendhilfe, Polizei, den Bezirksdiensten und den Schulen in den Bezirken eine hervorragende Arbeit leisten. Wir müssen gucken: Wie können wir von Landesseite die Menschen vor Ort in ihrer Tätigkeit unterstützen?

Hier würde – sechstens – eine enorme Stärkung der Bezirksdienste helfen, also der Beamtinnen und Beamte, die eine starke Bürgernähe haben, den Kontakt der Kinder und Jugendlichen mit der Polizei normalisieren und die erste Ansprechpartner im Veedel sind: Polizei als vertrauensvoller Gesprächspartner der Heranwachsenden.

(Christian Dahm [SPD]: Das haben wir hier mehrfach beantragt! Alles Sachen, die wir schon längst beantragt haben! Wir haben die Ordnungspartnerschaften thematisiert! – Andreas Bialas [SPD]: Seit sieben Jahren fordern wird das! – Weitere Zurufe von der SPD)

Jetzt fragen Sie: Das soll die Polizei auch noch leisten? – Nein, das soll sie nicht auch noch leisten, sondern das soll sie vor allem leisten. Denn das ist Prävention, und jeder Euro, den wir da reinstecken, rentiert sich.

Siebtens: Der Ruf nach härteren Strafen für Kinder und Jugendliche. Das ist irgendwie verständlich, aber es ist falsch. Das ist genauso falsch wie eine Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze. Darüber müssen wir auch gar nicht erst nachdenken.

(Sarah Philipp [SPD]: Das haben wir nicht gefordert! – Elisabeth Müller-Witt [SPD]: Das ist Ihr Koalitionspartner!)

Empirische Untersuchungen zeigen, dass härtere Sanktionen die Kriminalität bei Jugendlichen eben nicht reduzieren, sondern fördern. Konsequenzen für das eigene Handeln zu erlernen, ist super wichtig. Deshalb greifen als Reaktion auf Gewalttaten eben auch Konsequenzen, aber eben Konsequenzen: intensive Betreuung, Sanktionsmaßnahmen, und zwar im Rahmen des Erziehungsgedanken und nicht im Rahmen des Strafrechts.

(Elisabeth Müller-Witt [SPD]: Sagen Sie das der CDU! – André Stinka [SPD]): Sagen Sie das Ihrem Koalitionspartner! )

Allen voran brauchen Kinder und Jugendliche Teilhabechancen. Sie brauchen Unterstützungsangebote. Die Familien brauchen Unterstützung, uns zwar finanzielle Unterstützung sowie Unterstützung bei der Erziehung mit Fokus auf die Integration.

Wir müssen jegliches Ausschließen von gesellschaftlicher Teilhabe vermeiden. Sozialpolitik ist hierbei die Wunderwaffe, nicht härteres Strafrecht und auch nicht der Ministerpräsident.

Unsere Verantwortung ist es, die Ursachen für die gestiegenen Zahlen in den verschiedenen Bereichen zu erfahren und uns nicht Bauchgefühlen hinzugeben. Die Studie zur Kinder- und Jugendkriminalität wird uns genau das vorlegen. Unsere Verantwortung ist es, nicht den lauten und einfachen Weg, sondern den richtigen Weg zu wählen, auf Prävention zu setzen und auf Populismus zu verzichten.

Es braucht keine Taskforce, die schnell populistische Forderungen umsetzt, sondern es braucht eine Zusammenarbeit zwischen Sozialpolitik, Bildungspolitik, Jugendhilfe, kommunalen Ordnungspartnerschaften und der Polizei,

(Jochen Ott [SPD]: Fangt doch mal an!)

eine Stärkung der Bezirksdienste und gemeinsame Präventionsanstrengungen.

(Sebastian Watermeier [SPD]: Wie organisieren Sie sie denn? –Jochen Ott [SPD]: Sie schaffen ja nicht mal ein Landesgesetz!)

Als Grüne und als Koalition stehen wir eben nicht für diesen Aktionismus durch eine Eingreiftruppe, denn es geht nicht um schnelle Aktionen wie Sandsäcke schleppen oder Masken beschaffen, sondern um faktenbasierte, wohlüberlegte Präventionsmaßnahmen, die bekanntlich auch dann nicht schneller wirken, wenn der Ministerpräsident sie anordnet.

(Elisabeth Müller-Witt [SPD]: Führung nennt man das!)

Deshalb lehnen wir den Antrag ab. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Zuruf von Sebastian Watermeier [SPD])

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte wird dem ernsten Thema „Kinder‑ und Jugendkriminalität“, zu dem Sie einen Antrag gestellt haben, nicht gerecht.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Dann merken Sie in der Debatte, dass Ihre Vorwürfe gar nicht zünden.

(André Stinka [SPD]: Das müssen Sie nicht beurteilen!)

Im nächsten Redebeitrag holen Sie die nichtdeutschen Tatverdächtigen heraus; um die ging es in Ihrem Antrag gar nicht. Dann holen Sie kiffende Polizisten heraus. Das ist komplett aus dem Zusammenhang gegriffen.

(André Stinka [SPD]: Das sind Aussagen Ihres Ministers!)

Das wird dieser Debatte nicht gerecht. Wir sollten noch einmal überlegen, ob wir hier nicht alle für die Kriminalitätsbekämpfung, für unsere Kinder und Jugendlichen einstehen sollten. Wenn Sie einen Antrag dazu stellen, wäre es gut, in der Debatte bei dem Thema zu bleiben. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

 

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