Dr. Julia Höller: „Prävention ist das Schlüsselwort“

Zum Antrag der SPD zum Schutz von Einsatzkräften

Portrait Dr. Julia Höller

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Jeder Angriff auf Rettungskräfte, auf Polizeibeamtinnen und -beamte ist inakzeptabel. Dass Helferinnen und Helfer in der Silvesternacht attackiert wurden, macht mich wütend.

Polizei und Rettungskräfte tragen Sorge für die Sicherheit aller Menschen und riskieren dabei immer wieder ihre eigene Gesundheit. Sie sind seit Monaten enormen Belastungen ausgesetzt und leisten ihren Einsatz weiterhin unermüdlich, während andere feiern. Die Täter müssen ermittelt und die Taten strafrechtlich verfolgt werden. Da ist die Staatsanwaltschaft dran.

Ich bedanke mich bei allen Einsatzkräften für ihre professionelle Arbeit in dieser besonderen Silvesternacht, aber eben auch an allen anderen 364 Tagen und in den Nächten.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Bitte lassen Sie uns alle differenziert auf das im Antrag skizzierte Problem schauen. Hier reflexartig rassistische Ressentiments zu bedienen, wie es der AfD-Antrag tut, der uns nachher noch Zeit stiehlt, ist unterkomplex und schäbig.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Zuruf von Thorsten Klute [SPD])

Auch wenn ich nicht alle der in dem SPD-Antrag aufgeführten Schlussfolgerungen teile, bin ich froh, dass Sie versuchen, einen sachlichen Debattenbeitrag zu leisten. Denn leider werden solche Vorfälle viel zu oft instrumentalisiert: eine schnelle Schlagzeile zum Preis der Stigmatisierung gesellschaftlicher Gruppen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Für das Problem „Gewalt gegen Einsatzkräfte“ brauchen wir kluge, durchdachte Lösungen. Nur ein Teil der Lösungen liegt im Bereich der Innenpolitik.

(Christina Kampmann [SPD]: Genau!)

Wir müssen uns viele Fragen stellen. Weshalb führen wir die Debatte über Gewalt gegen Einsatzkräfte jetzt nach Silvester und nicht etwa nach Karneval oder dem Oktoberfest, wo es auch immer wieder zu Übergriffen kommt?

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Wen markieren wir in unserer Gesellschaft als nicht dazugehörig, und was macht das mit diesen Menschen? Faktenbasierte Innenpolitik bedeutet auch: Um kluge Lösungen zu erarbeiten, müssen wir das Problem kennen und uns deshalb die Zahlen ansehen.

Während der Silvesternacht wurden in NRW 33 Strafanzeigen im Zusammenhang mit Angriffen auf polizeiliche Einsatzkräfte erfasst. Insgesamt wurden 41 polizeiliche Einsatzkräfte verletzt. Zum Jahreswechsel 2018/19 waren es 40. Die Zahl sonstiger verletzter Personen ist sogar gesunken.

Damit will ich nichts verharmlosen. Jeder verletzte Mensch ist einer zu viel. Aber wir müssen diese Zahlen in einen Kontext setzen. Hatten wir dieses Silvester eine besondere Quantität der Delikte? Das scheint nicht der Fall zu sein. Hatten wir eine besondere Qualität? Da müssen wir genau hinsehen.

Es gibt in Deutschland seit mindestens einem Jahrzehnt einen langfristigen Abstieg der Gewaltdelikte bei jungen Menschen. Das können Sie jede Kriminologin und jeden Gewaltforscher fragen. Haben wir also ein grundsätzliches Problem mit ansteigender Jugendgewalt? Nein. Müssen wir uns trotzdem um die Fälle kümmern, die es gibt? Ja, ganz unbedingt.

Es handelt sich bei den Jugendlichen, die gewalttätig werden, immer wieder um männliche Jugendliche und Heranwachsende aus benachteiligten Stadtteilen, die aus einer spontanen Gruppendynamik heraus, oft in Verbindung mit Alkohol, Gewaltdelikte begehen. Hinzu kommt, dass Gesellschaften nach Krisen fragil sind. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse, sondern Basics der kriminologischen Forschung.

Wir müssen uns also fragen: Was machen Männlichkeitsbilder aus? Was machen Gruppendynamiken aus? Was macht Alkohol? Welchen Einfluss hat Marginalisierung auf Gewalt? Was für einen Effekt haben die Erfahrungen aus der Coronapandemie? Was bewirken die ständige Verfügbarkeit von Kameras und das Teilen auf Social Media?

Wenn wir uns diese Fragen stellen, dann sehen wir: Der innenpolitische Werkzeugkasten passt nicht zu den skizzierten gesellschaftlichen Problemen.

Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Wir sollten uns davor hüten, die Ursachen gesamtgesellschaftlicher sozialpolitischer Probleme durch Law and Order, wie es manch einer fordert, anzugehen,

(Beifall von den GRÜNEN)

wobei Ordnungsrecht natürlich ein Teil der Lösung ist, genau wie die Stärkung der Justiz zur schnelleren Ermittlung der Täter, genau wie Sozial- und Familienpolitik mit Maßnahmen zur Verbesserung von Bildungsteilhabechancen für Familien in prekären Stadtteilen, genau wie Integrationspolitik und genau wie Jugendpolitik und sicher noch einiges mehr.

Prävention ist das Schlüsselwort, Prävention in all diesen Bereichen. Wir im Innenbereich können unseren Teil dazu beitragen, zum Beispiel durch die Stärkung des Landespräventionsrats, durch die Stärkung der Zusammenarbeit vor Ort zwischen Bildungseinrichtungen, Polizei, Zivilgesellschaft und auch durch die Stärkung von Bezirksbeamten, die genau wissen, wo es in ihren Vierteln gerade schwierig wird.

Darüber müssen wir sprechen. Ich freue mich daher auf die weiteren Beratungen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

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