Dr. Julia Höller: „Kritische Infrastrukturen sind dazu da, um die Versorgungssicherheit sicherzustellen“

Wir unterstützen die Schulen dabei, resilienter zu werden

Portrait Dr. Julia Höller

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Kitas und Schulen sind elementar für unsere Gesellschaft, und in der Pandemie wurde sichtbar, welchen Schaden es anrichten kann, wenn Schulen und Kitas über Wochen und Monate geschlossen bleiben.

Heute – darüber haben wir viel gesprochen – ist allseits anerkannt, dass diese Schließungen in Zukunft möglichst verhindert werden sollten.

Gerade – auch das wissen wir und haben darüber diskutiert – für Kinder, die in ihren Familien nicht so tatkräftig unterstützt werden können, bedeutet das, dass sie noch weiter abgehängt werden.

Hinzu kommen psychosoziale Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen.

Ganz unabhängig davon müssen wir Schulen und Kitas krisensicher machen. Das ist ganz oft gesagt worden, und das ist völlig unstrittig.

Gewundert hat mich an der Debatte bisher, dass die FDP so tut, als habe sie während der Pandemie und in der letzten Legislatur mit Kitas und Schulen so gar nichts zu tun gehabt.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Nun gut. Es stellt sich nun die konkrete Frage, ob Ihr Vorschlag, liebe SPD, zu den Bildungseinrichtungen als kritische Infrastruktur dazu geeignet ist, diese großen und hier oft zitierten Probleme im Bildungsbereich zu lösen. Spoiler: Nein, ist er nicht.

Manchmal hilft es, den Blickwinkel ein wenig zu verändern. Deshalb möchte ich einige Gedanken und Ideen aus Sicht der inneren Sicherheit des Katastrophenschutzes nennen. Es geht bei kritischen Infrastrukturen um Organisationen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, deren Ausfall – das ist das zentrale Element der Definition – Versorgungsengpässe oder erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit nach sich ziehen.

Ja, Bildungseinrichtungen haben natürlich eine wichtige Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, vielleicht sogar die wichtigste. Aber dennoch führt ihr Ausfall in einer akuten Krisensituation nicht zu nachhaltig wirkenden Versorgungsengpässen und auch nicht zu erheblichen Störungen der öffentlichen Sicherheit.

Es ist klar: Wenn die Intensivpflegerin im Krankenhaus nicht arbeiten kann, weil sie ihre Kinder betreuen muss, dann kann das die medizinische Versorgungssicherheit gefährden. Damit – das ist ein ganz zentraler Punkt – ist aber nicht die Bildungseinrichtung an sich kritisch, sondern kritisch ist die Dienstleistung „Betreuung“.

Aus Sicht des Katastrophenschutzes stellt sich dann die Frage: Wie schaffen wir es, die Kinder kurzfristig so zu betreuen, dass die Eltern weiter ihrer Arbeit nachkommen können, um eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit abzuwehren.

(Jochen Ott [SPD]: Dann ist Bildung nur Dienstleistung!)

Das ist die Perspektive der inneren Sicherheit: Versorgungssicherheit in einer aktuellen Krisensituation aufrechtzuerhalten. Dafür sorgen wir durch den besseren Schutz und eben auch durch besondere Anforderungen an kritische Infrastrukturen.

Das ist das Konzept „kritische Infrastrukturen“, und dieser Mantel „kritische Infrastrukturen“ bietet keinen angemessenen Schutz für unsere Kitas und Schulen und löst nicht diese Probleme, über die wir so häufig gesprochen haben. Es ist die falsche Lösung für diese skizzierten wesentlichen Probleme.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Frau Kollegin Dr. Höller, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Es liegt der Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kollegen Ott vor. Würden Sie die zulassen?

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Gerne.

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Das dachte ich mir.

Jochen Ott (SPD): Das ist sehr nett, vielen herzlichen Dank. – Würden Sie mir zustimmen, dass Ihre gerade gemachten Ausführungen zeigen, dass Kitas und Schulen in diesem Konzept nur Dienstleister und nicht die eigenständige kritische Infrastruktur sind?

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Nicht die eigenständige …?

Jochen Ott (SPD): Sie sind nicht eigenständig. Das heißt, es geht nicht darum, dass Kinder in der Kita sind und Bildung genießen, sondern es geht Ihnen darum, dass deren Eltern den Job in der kritischen Infrastruktur machen können. Das haben Sie gerade gesagt.

Dr. Julia Höller (GRÜNE): In Ihrem Antrag vermischten Sie ganz viele Punkte. Sie vermischen die großen Probleme in unserem Bildungssystem, die alle hier richtig benannt haben,

(Zuruf von der SPD)

mit den Funktionen, die der Schutz kritischer Infrastrukturen hat.

Kritische Infrastrukturen sind dazu da, um die Versorgungssicherheit sicherzustellen. Eine kritische Dienstleistung ist in dem Fall die Betreuung. Das hat aber nichts damit zu tun, dass wir das Bildungssystem natürlich ganz anders aufstellen müssen. Dazu komme ich gleich noch; es geht um Fachkräfte, um Digitalisierung. Das hat aber nichts mit kritischen Infrastrukturen zu tun.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Das immer wieder zu vermischen, macht keinen Sinn. Noch einmal: Dieser Mantel „kritische Infrastruktur“ bietet nicht den Schutz, den Sie zu Recht für Kitas und Schulen einfordern. Das ist das falsche Konzept.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Um unsere Kitas und Schulen krisenfester zu machen, braucht es ganz andere Dinge. Dafür brauchen wir Fachkräfte, dafür brauchen wir Digitalisierung. Aber Sie wissen doch, dass das alles mit dem Begriff „kritische Infrastruktur“ nicht vom Himmel fällt, meine Güte.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Mit Ihrem Antrag möchten Sie Schulen und Kitas ein neues Etikett geben.

(Jochen Ott [SPD]: Genau!)

Das Etikett ist aber falsch

(Jochen Ott [SPD]: Nein!)

und es hilft nicht. Das Etikett bringt keine einzige Fachkraft mehr.

Wer sich einmal mit Branchensicherheitsstandards oder der BSI-Kritisverordnung beschäftigt hat – ich habe mich intensiv damit beschäftigt –, weiß auch, dass das eher schlimmer wird, wenn wir das definieren, denn im schlimmsten Fall führt dieses Etikett dazu, dass die Schulen aufgrund der BSI-Kritisverordnung jede Menge zusätzlicher Verwaltungsarbeit machen müssen, anstatt sich um unsere Kinder zu kümmern.

(Beifall von der CDU und den GRÜNEN)

Es ist eben nicht so, dass man sagen kann: Wenn Schulen und Kitas kritisch sind, dann gibt es diese und jene zusätzlichen Anforderungen. – Die Anforderungen gibt es schon; die sind festgelegt. Deswegen stimmt dieses Etikett für diese Lösung nicht.

Unsere Bildungseinrichtungen müssen wir krisenfester machen. Wir müssen Kinder und Familien im Krisenmanagement ganz anders als in der Pandemie berücksichtigen. Das haben wir gelernt, und das werden wir in der nächsten Krise anders machen.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Gleichzeitig müssen wir die Versorgungssicherheit aufrechterhalten und kritische Infrastrukturen besser schützen, um erhebliche Störungen in der Sicherheit abzuwenden. Beide Dinge sind wichtig, und nichts davon lässt sich durch diesen Antrag erreichen. Deswegen lehnen wir ihn ab. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Frau Kollegin Dr. Höller, wie es Ihrer Aufmerksamkeit sicherlich nicht entgangen ist, wurde angezeigt, dass eine Kurzintervention vom Kollegen Ott vorliegt. Sie kennen die parlamentarischen Bräuche, Sie können auf diese Kurzintervention auch vom Platz aus erwidern. Jetzt hat erst einmal der Kollege Ott für 90 Sekunden das Wort.

Jochen Ott (SPD): Herr Präsident, ich bedanke mich. – Ich möchte auf Ihre Rede noch einmal eingehen. Jetzt ist klar geworden, dass Sie in der Abwägung zwischen Innen- und Bildungspolitik den Schwerpunkt bei der Innenpolitik setzen.

Das Bundesinnenministerium in Berlin hat ein Gutachten in Auftrag gegeben und hat von Professor Karutz, Universität Hamburg, untersuchen lassen, welche Optionen es gibt. In diesem Gutachten ist sehr deutlich beleuchtet, dass ein Weg, Schulen und Bildungseinrichtungen zur kritischen Infrastruktur zu machen, sehr wohl gegangen werden kann.

Es sind bestimmte Dinge definiert worden. Es ist in der Anhörung – übrigens auch von der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung – vorgetragen worden, dass dazu verschiedene Definitionen zu erfolgen haben, aber dass das ein richtiger Weg ist, weil Bildung etwas Eigenständiges ist.

Das Bundesverfassungsgericht gibt dem Recht auf Bildung den genauso großen Stellenwert gibt wie der Betreuung von Kindern, deren Eltern in der kritischen Infrastruktur arbeiten.

Deshalb bleiben wir bei der These: Wenn wir gemeinsam Kindertagesstätten und Schulen zur kritischen Infrastruktur entwickeln und diese als solche definieren wollen, und zwar mit all den Unterschieden, die diese Einrichtungen im Vergleich zu anderen kritischen Infrastrukturen haben, dann helfen wir den Kindern und Jugendlichen, dann helfen wir dem System, wenn es in Zukunft zu einer ähnlichen Lage kommt. Wenn wir das nicht tun, wird es angesichts der komplexen Organisationsstruktur auch beim nächsten Mal zunächst wieder zu Schulschließungen kommen. Das sage ich Ihnen voraus.

Ich bedaure es sehr, dass Sie nicht wenigstens bereit sind, in einen solchen Prozess einzusteigen.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Herzlichen Dank, Herr Kollege Ott. Das waren fast genau 90 Sekunden. – Jetzt hat Frau Kollegin Dr. Höller 90 Sekunden für ihre Erwiderung.

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Vielen Dank für Ihre Kurzintervention. Ich denke, es ist klar geworden, dass Sie die Punkte, die Sie in Ihrem Antrag nicht auseinandergehalten haben, auch jetzt nicht auseinanderhalten.

Wir alle teilen, dass wir Bildung, dass wir Schulen und dass wir Kitas krisenfester machen müssen. Der Weg, sie als kritische Infrastrukturen zu definieren, ist aber nicht der richtige, denn er hilft niemandem. Er hilft nicht den Schülerinnen und Schülern, er hilft nicht den Familien, und er hilft auch nicht den Kindern. Das Konzept „kritische Infrastruktur“ ist nämlich nicht dafür ausgelegt, Bildung oder Schulen krisenfester zu machen. Denn diese tragen nicht zur Versorgungssicherheit bzw. Abwehr einer Störung der öffentlichen Ordnung bei.

(Jochen Ott [SPD]: Ja, innen first!)

Das ist allerdings das Ziel der kritischen Infrastruktur, die eine Aufrechterhaltung der kritischen Dienstleistungen gewährleisten soll.

(Beifall von den GRÜNEN – Jochen Ott [SPD]: Das ist die Innensicht, genau!)

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