Dr. Julia Höller: „Einfach würden wir es uns machen, wenn wir sagten: Ach, alle wegsperren; Problem erledigt“

Zum Antrag der Fraktionen von CDU und GRÜNEN zu Kinder- und Jugendkriminalität

Portrait Dr. Julia Höller

Der Antrag „Ursachen und Gründe für gestiegene Kinder- und Jugendkriminalität wissenschaftlich untersuchen und Lösungskonzepte entwickeln“

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Wir als demokratische Fraktionen sind vereint in unserer tiefen Betroffenheit und auch Sprachlosigkeit angesichts der schrecklichen Tat in Freudenberg. Ich möchte hier noch einmal der Familie und allen Freund*innen unser tiefes Beileid ausdrücken.

Wir sind sprachlos angesichts dieser unfassbaren Tat, bei der gleichaltrige Kinder ein anderes Kind getötet haben. Wir sind sprachlos angesichts des Schmerzes, der die Familien des Opfers, aber auch der Täterinnen ereilen muss. Ja, vielleicht sind wir als Politik auch deshalb sprachlos, weil es keine schnelle Antwort auf solche schrecklichen Taten gibt.

Diese Sprachlosigkeit – darum bitte ich die Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen – darf beim Thema „Kinder- und Jugendkriminalität“ nicht in Polemik, nicht in populistischer Rhetorik und nicht in übereilten politischen Forderungen münden.

Liebe Opposition, Sie hatten Ihren Law-and-Order-Auftritt im letzten Plenum bei der aktuellen Stunde zum Thema „Messerangriffe“. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam differenziert und faktenbasiert auf dieses schwierige Thema schauen.

Tötungsdelikte unter Kindern und Jugendlichen sind extrem selten. Jeder Fall ist unfassbar tragisch. Überwiegend handelt es sich bei den erfassten Delikten von Kinder- und Jugendkriminalität aber um geringfügige Delikte wie Diebstahl oder Sachbeschädigung. Es ist wichtig, dass wir nicht alle Deliktfelder über einen Kamm scheren. Auch hier müssen wir darauf achten, zu differenzieren.

2021 gab es erstmals seit vielen Jahren einen Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Bis dahin war es eine kriminologische Tatsache, dass Kinder- und Jugendkriminalität kontinuierlich weniger wird. Auch jetzt muss dieser Anstieg nicht zwangsläufig eine Trendumkehr bedeuten.

Es ist aber unsere Verantwortung als Politik, die Zahlen und Fakten, die uns vorliegen, ernst zu nehmen. Dieser Verantwortung stellen wir uns mit diesem Antrag.

Weil wir die Zahlen ernst nehmen und verantwortungsvolle Politik machen, müssen wir mehr darüber wissen: Was sind die Tatmotive? Was sind die Hintergründe? Welche Rolle spielen Gewalterfahrungen, Armut und Marginalisierung? Welche Rolle spielt die Pandemie? Welche Rolle spielt gesellschaftliche Verunsicherung durch einen Krieg in Europa? Was macht es mit Kindern und Jugendlichen, wenn schon im Kindesalter pornografische Videos und Fotos zur Normalität werden, wenn Hass und Hetze in sozialen Medien zum Alltag werden?

Um diese Fragen zu beantworten, fordern wir die Landesregierung auf, eine unabhängige wissenschaftliche Studie auf den Weg zu bringen, die diese Fragen aufnimmt und beantwortet und auch genau beobachtet: Handelt es sich bei den Zahlen um einen statistischen Ausreißer oder doch um eine Trendumkehr?

Wenn wir die Antworten zu den Ursachen und Gründen haben, kommt der schwierige Teil. Denn dann müssen wir sehen, wo wir als Politik gegensteuern können und wie wir Maßnahmen aufsetzen können, die Kinder und Jugendliche gar nicht erst straffällig werden lassen.

Es ist auch deshalb nicht leicht, weil der innenpolitische Instrumentenkasten nicht ausreicht und sich unter anderem Familien- und Jugendpolitik, Sozialpädagogik, Justiz, Polizei und der Bildungsbereich gemeinsam dieser Verantwortung stellen müssen.

Ich höre jetzt schon, insbesondere auch von rechts: Mit Prävention und Erziehung macht ihr es euch ganz schön einfach; hier muss sich endlich einmal der Rechtsstaat durchsetzen. – Doch der Rechtsstaat setzt sich im Jugendrecht mit dem Erziehungsgedanken durch. Der Rechtsstaat setzt sich durch, weil wir anders reagieren, wenn Kinder straffällig werden, anders reagieren, wenn es Jugendliche sind und noch einmal anders reagieren, wenn Erwachsene eine Straftat begehen.

Ehrlich: Erziehung ist doch viel schwieriger als Bestrafen. Prävention ist doch viel mühsamer als Wegsperren. Einfach würden wir es uns machen, wenn wir sagten: Ach, alle wegsperren; Problem erledigt.

So einfach ist es eben nicht. Erziehung, Prävention: Es mag sein, dass diese Ansätze weniger populär in der breiten Masse sind. Aber sie sind die richtigen Antworten unseres Rechtsstaates. Und dafür, wie genau wir diese einsetzen, benötigen wir diese Studie.

Ich habe zu Beginn das Wort „Sprachlosigkeit“ genutzt. Das tut man in der Politik eigentlich nicht. Aber Sprachlosigkeit bedeutet hier nicht, ratlos oder tatenlos zu sein – im Gegenteil. Wir haben erkannt: Wir wissen zu wenig. Also brauchen wir Fakten zu Hintergründen und Ursachen, zu Risikofaktoren und möglichen Maßnahmen.

Das ist faktenbasierte Politik. Das ist faktenbasierte Innenpolitik.

Ich freue mich sehr und bedanke mich herzlich bei allen, die dabei mitmachen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

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