Dagmar Hanses: „Es ist beschämend, dass wir heute, 70 Jahre nach Kriegsende, über diese letzte Chance sprechen müssen, weil noch immer nicht alle Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen wurden.“

Gemeinsamer Antrag zu "Operation Last Chance"

Dagmar Hanses (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Einsatz und das Bestreben des Simon-Wiesenthal-Zentrums bei „Operation Last Chance“ erhält heute breite Unterstützung des gesamten Parlaments. Denn dieses Zentrum setzt sich für die Strafverfolgung von Täterinnen und Tätern des Nationalsozialismus ein.
Dieser Antrag ist bitter nötig. Liebe Piraten, deshalb sind wir froh, dass alle Fraktionen im Landtag Ihre Initiative aufgegriffen haben und wir jetzt zu einem gemeinsamen Antrag gekommen sind. Vielen Dank dafür.
(Beifall von allen Fraktionen)
Er ist deshalb bitter nötig, weil es beschämend ist. Es ist beschämend, wie lange der dunkle Schatten des Nationalsozialismus auf der Justiz in Deutschland lag. Es ist beschämend, dass wir heute, 70 Jahre nach Kriegsende, über diese letzte Chance sprechen müssen, weil noch immer nicht alle Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen wurden. Viele Verbrechen der Nazizeit sind noch nicht aufgeklärt und die Schuldigen noch nicht verurteilt. Der Rechtsstaat der Bundesrepublik hat versagt, als es darum ging, die großen Verbrechen der Schoah beharrlich und ohne Verdrängung aufzuarbeiten. Die Justiz der Bundesrepublik Deutschland hat hier große Schuld auf sich geladen.
Die heutige Justiz in Deutschland ist eine andere, eine unabhängige Justiz auf der Grundlage des Grundgesetzes und des deutschen Richtergesetzes. Deshalb ist es heute umso mehr unsere Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass jeden Tag die Strafverfolgung der noch lebenden Täterinnen und Täter vorangebracht wird.
(Beifall von allen Fraktionen)
Denn für Gerechtigkeit darf es nie zu spät sein. Wir wissen: Mord verjährt nicht. Und für das Leid der Überlebenden gibt es auch keine Verjährung.
Mich persönlich bewegt es, wenn Überlebende in Anbetracht dieses unendlichen Leids vergeben oder gar verzeihen können, wenn Überlebende die menschliche Größe zeigen, auf Unmenschliches mit Verzeihung zu reagieren.
Aber bitte vergessen wir nicht: Es ist ihr Recht und das Recht ihrer Angehörigen und ihrer Nachkommen, selbst über den Umgang mit der Schoah zu entscheiden und zu bestimmen. Ob sie als Zeitzeugen wertvolle Jugendarbeit an Schulen und Gedenkstätten leisten wollen, ob sie ihren Peinigern jemals wieder gegenübertreten wollen, ob sie im Strafprozess selbst als Nebenklägerin oder Nebenkläger auftreten wollen oder welche Form des Umgangs sie auch wählen – all das ist ihr gutes Recht.
(Beifall von allen Fraktionen)
Simon Wiesenthal sagte, er habe sich immer wieder gefragt, was er für die tun kann, die nicht überlebt haben. Herr Präsident, ich zitiere:
„Die Antwort, die ich für mich gefunden habe (und die keineswegs die Antwort jedes Überlebenden sein muss), lautet: Ich will ihr Sprachrohr sein, ich will die Erinnerung an sie wachhalten, damit die Toten in dieser Erinnerung weiterleben können.“
Gerade wenn wir in der nächsten Woche den 70. Jahrestag der Befreiung vom Naziregime gedenken, ist es wichtig, dass nun die letzten möglichen Verurteilungen stattfinden. Jeder Strafprozess stellt die individuelle Schuld einer Person fest. Jeder Strafprozess benennt Unrecht beim Namen. Jeder Strafprozess macht Verbrechen sichtbar. Jeder heutige Strafprozess ist Teil der Versöhnung.
Die Sichtbarmachung des Unfassbaren ist nicht nur wichtig für die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auch unsere Verantwortung für die Zukunft. Denn jedem Aufkeimen von neuen Rechten oder Neonazis werden wir entschlossen entgegentreten.
(Beifall von allen Fraktionen und der Regierungsbank)
Jede Form von Rassismus, Antiziganismus und Homophobie werden wir mit demokratischen Mitteln bekämpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit uns das glaubwürdig und aufrichtig gelingt, müssen wir die letzte Chance für die Strafverfolgung der alten Verbrechen nutzen. – Vielen Dank.
(Beifall von allen Fraktionen und der Regierungsbank)

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