Jule Wenzel: „Armut ist keine Frage von Schuld“

Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Sozialpolitik

Portrait Jule Wenzel (c) M Laghanke

Jule Wenzel (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Armut ist keine Frage von Schuld. Viele Menschen in unserem Land sind von Armut betroffen, weil wir als Gesellschaft – sei es auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildung oder in der Teilhabe – nicht genügend auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Es kann jede und jeden von uns treffen, und wer einen schweren Schicksalsschlag erleidet, ist besonders gefährdet, in Armut zu rutschen. Niemand von uns möchte sich ausmalen, was passiert, wenn eine plötzliche Trennung, ein Arbeitsunfall oder gar der Verlust des Partners oder der Partnerin eintritt.

Es gibt Gruppen von Menschen, für die solche Schicksalsschläge besonders negative Folgen haben: Frauen im Rentenalter, Menschen mit geringem Einkommen und Aufstocker*innen, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationsgeschichte und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen.

Wer Armut nachhaltig bekämpfen will, muss Unterstützung leisten und vor allem das Stigma bekämpfen, das mit Armut einhergeht.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Ja, einige Menschen in unserer Gesellschaft brauchen mehr Hilfe als andere, weil sie einfach mit höheren Hürden zu kämpfen haben. Diese Ungerechtigkeit so gut es geht auszugleichen, ist eine staatliche Aufgabe, für die wir uns jeden Tag mit aller Kraft einsetzen.

Armut ist auch eine Frage dieser Zeit. Denn durch die Auswirkungen der Coronapandemie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sowie die damit einhergehende Inflation geht es uns dieses Jahr schlechter als in den Jahren zuvor. Wir als schwarz-grüne Regierung haben uns deshalb darauf verständigt, ein Sondervermögen zur Bekämpfung der Krisenlage aufzulegen.

Mit dem „Stärkungspakt NRW – gemeinsam gegen Armut“ wurden ganze 150 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Für Inflations- und Energiehilfen für die soziale Infrastruktur bis hin zur Einzelunterstützung von betroffenen Bürger*innen wurde hier in kürzester Zeit sehr viel Geld in die Hand genommen, um ganz konkret zu helfen.

Die SPD stellt mit ihrem Antrag hier und heute jedoch wieder einmal infrage, dass die Landesregierung aktiv Armutsprävention betreibt.

(Zuruf von Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])

Kein Wunder, denn sie hat sich hier in eine argumentative Sackgasse verrannt, aus der sie so schnell nicht wieder herauskommt.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: So ist es!)

Den „Stärkungspakt NRW – gemeinsam gegen Armut“ in Höhe von 150 Millionen Euro können Sie gar nicht anerkennen; denn Sie haben seine Umsetzung immer kritisch beäugt und nichts, aber auch wirklich nichts zum Gelingen beigetragen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Der Stärkungspakt ist durch die strengen Auflagen für Sondervermögen auf ein Jahr begrenzt. Dass wir erst ein Sondervermögen auflegen mussten, lag auch an Ihnen, liebe SPD. Sie haben von Haushaltstricks gesprochen und den Landesrechnungshof vorgeschoben, anstatt Verantwortung in dieser ernsten Lage zu übernehmen.

(Christian Dahm [SPD]: Deshalb haben wir den Haushaltsvorschlag nicht beklagt!)

Schlussendlich haben Sie dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt und gegen das Sondervermögen vor dem Verfassungsgerichtshof Klage eingereicht.

(Christian Dahm [SPD]: Das ist auch richtig so!)

Jede und jeder Abgeordnete der SPD, die hier sitzen, hat die Notlage, die für uns alle offensichtlich ist, mit der Unterzeichnung dieser Klage angezweifelt. Natürlich müssen Sie sich in dieser für Sie verzwickten Lage darauf einschießen, dass der Aktionsplan gegen Armut noch nicht fertig ist, während das MAGS gerade ganz praktisch in der Krisenlage hilft. Das ist niederträchtig.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Ganz ehrlich: Das ist durchschaubar, und ich hoffe, dass Sie die Bürger*innen in unserem Land da genauso wenig ernst nehmen können wie ich.

Ich kann Sie aber auch beruhigen: Das MAGS arbeitet trotz doppelter Belastung weiter daran, einen guten und wirksamen Aktionsplan gegen Armut aufzustellen, der alle Perspektiven einbezieht; auch die der von Armut Betroffenen in unserem Land.

(Lena Teschlade [SPD]: Liebe Frau Wenzel, damit haben Sie vielleicht Frieden in der Regierung!)

Das ist ein echtes Anerkennen von Armut und der Demokratie in diesem Land, und ich möchte an dieser Stelle einen großen Dank an alle Mitarbeitenden im MAGS richten, die sich daran beteiligen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Rodion Bakum [SPD]: Danke für die Rede!)

Auf noch eine Forderung schießen Sie sich ein: 1,6 Millionen Euro für die Tafeln in unserem Land. Ich sage Ihnen: Wir sind uns einig, dass die Tafeln einen wichtigen Beitrag gegen Lebensmittelverschwendung in unserem Land leisten. Genauso sind wir uns einig, dass sie das soziale Netz in unserem Land nicht ersetzen können. Ein angemessener Mindestlohn und würdevolle Sozialleistungen – darauf gehe ich gleich noch genauer ein – muss sich ein reiches Land wie Deutschland leisten können. Sie erkennen auch an, dass die Lage der Tafeln gerade misslich ist.

Frau Kollegin Teschlade, Sie haben kürzlich davon gesprochen, dass man Ernährungsarmut ernst nehmen soll. Wir als schwarz-grüne Koalition haben in diesem Jahr einen Antrag zur Ernährungsstrategie eingereicht.

(Inge Blask [SPD]: Davon haben wir noch nichts gehört!)

Was gab es dazu von Ihrer Seite? In einem Entschließungsantrag hat die SPD in einem Punkt zur Ernährungsstrategie gefordert, den Tafeln Zuwendungen zuzusprechen. Da fragt man sich doch: Weiß die linke Hand nicht, was die rechte Hand tut, oder ziehen Sie sich hier ein Narrativ an den Haaren herbei?

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Sehr geehrte Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber das war wohl die Aufforderung zu einer Zwischenfrage von der Kollegin Teschlade. Würden Sie die zulassen?

Jule Wenzel (GRÜNE): Ich wüsste nicht, dass ich sie aufgefordert habe, aber ich nehme die Zwischenfrage gerne an.

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Das war meine Definition, Entschuldigung. – Frau Teschlade, bitte schön.

Lena Teschlade (SPD): Frau Wenzel, Sie stellen es bewusst falsch dar. Ich würde gerne wissen: Erkennen Sie den Unterschied zwischen kurzfristigen Hilfen und einer Verstetigung, wie sie der Sozialminister fordert?

(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Frau Kollegin, Sie können jetzt antworten, bitte schön.

Jule Wenzel (GRÜNE): Liebe Kollegin Teschlade, Sie können gerne den Standpunkt einnehmen, dass ich das falsch dargestellt hätte, aber ich kann in Ihrem Entschließungsantrag nichts von kurzfristigen Hilfen lesen. Deswegen kann ich auch nur davon ausgehen, dass Sie das so gemeint haben, wie Sie es im Antrag geschrieben haben.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Lena Teschlade [SPD]: Also nein!)

Ihr Fraktionsvorsitzender Jochen Ott hat in seiner Rede gestern das Niveau sinken lassen und behauptet, Karl-Josef Laumann wäre sozialpolitisch ein einsamer Mann.

(Thorsten Klute [SPD]: Das stimmt doch auch! – Rodion Bakum [SPD]: Er ist ganz alleine da!)

Das ist natürlich absurd angesichts der Tatsache, dass sich die regierungstragenden Fraktionen bei diesem Haushalt, in dem wir sparen müssen, einig sind, bei Sozialem nicht zu sparen.

(Lachen von der SPD)

Wir setzen hier die richtigen Prioritäten und unterstützen diejenigen in unserem Land, die es am dringendsten brauchen.

(Zuruf von Lisa-Kristin Kapteinat [SPD]: Schade, dass Sie das nicht merken!)

Aber gestatten Sie mir an dieser Stelle einen Vergleich. Frau Teschlade, Sie haben gerade Hubertus Heil als Bringer der Kindergrundsicherung dargestellt.

(Rodion Bakum [SPD]: Guter Mann!)

Das stimmt nicht. Sie, liebe SPD, lassen auf der Bundesebene Lisa Paus, die grüne Ministerin, die die Kindergrundsicherung auf den Weg bringt, allein. Sie lassen sie allein.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Die Kindergrundsicherung ist neben dem Bürgergeld das sozialpolitische Projekt der Bundesregierung. Von dem Kanzler ist allerdings in den Verhandlungen über die Höhe oder die Ausgestaltung wenig zu hören. Ein zaghaftes „Ja muss es geben“; dafür hat es gereicht. Auch wenn die Rolle der FDP,

(Rodion Bakum [SPD]: Was hält Ihr Koalitionspartner davon?)

– darauf gehe ich jetzt ein –

(Rodion Bakum [SPD]: Ich meine die CDU!)

die quengelnd auf Sachleistungen anstatt Leistungserhöhungen besteht, noch deutlich kritischer zu sehen ist, hat sich die SPD auf Bundesebene nicht mit Ruhm bekleckert. Das können Sie aber ändern, wenn Sie schon ständig behaupten, die Kindergrundsicherung erfunden zu haben.

(Lena Teschlade [SPD]: Haben wir auch!)

Die schwarz-grüne Koalition in NRW steht zur Kindergrundsicherung und hat sie stets konstruktiv begleitet. Unser Fokus ist die größtmögliche Chancengerechtigkeit für alle Kinder und die finanzielle Absicherung der Kommunen, denn da wird Armutsprävention gemacht; in Schulen, in Kitas, in Quartieren.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Zuruf von Rodion Bakum [SPD])

Genauso stehen wir zur Einführung der EU-Mindestlohnrichtlinie und für eine Verbesserung der Tarifbindung; das haben wir auch in unserem Koalitionsvertrag vereinbart. Guter Lohn bedeutet Absicherung gegen Armut, und dafür treten wir ein.

Wir Grüne haben beim Bürgergeld von Anfang an würdevolle Regelsätze gefordert und auch für eine regelmäßige Anpassung gekämpft, denn nur so kann Teilhabe in Würde gelingen. Eine Priorisierung im Bundeshaushalt zulasten von Sozialleistungen läuft nicht nur konträr zur Würde des Menschen, sie ist auch Nährboden für antidemokratische Kräfte.

(Rodion Bakum [SPD]: Erzählen Sie das Friedrich Merz!)

Auch der Minister Karl-Josef Laumann hat sich erst vor Kurzem in einem Interview gegen die Kürzung von Sozialleistungen und für die Erhöhung des Bürgergeldes ausgesprochen. Unsere Haltung ist also klar: Wir sind das soziale Rückgrat in diesem Land.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Und doch ist die Lage der sozialen Infrastruktur kritisch. Es kommt nicht häufig vor, dass 25.000 Menschen vor dem Landtag in Nordrhein-Westfalen demonstrieren. Ein Meer aus Beschäftigten, bis hinunter zur Kniebrücke, ist für sich und die Menschen, für die sie jeden Tag eintreten, auf die Straße gegangen.

(Thorsten Klute [SPD]: Gegen Ihre Politik! – Christian Dahm [SPD]: Genau!)

Wir müssen anerkennen, worum es hier wirklich geht: Eine dauerhafte Tarifsteigerung wird nicht zu finanzieren sein, wenn der Bund in Tarifverhandlungen zwar bestellt, die Belastungen für Länder und Kommunen aber erhöht. Das passt nicht zusammen.

(Zuruf von Lena Teschlade [SPD])

Sie haben kurzfristige Rettungspakete über die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse gefordert. Die Wahrheit ist aber: Diese müsste das Land schneller zurückzahlen, als uns lieb ist. Das Loch ist verschoben, nicht aufgehoben, das Kartenhaus fällt in sich zusammen.

(Zuruf von Rodion Bakum [SPD])

Das ist genauso unseriös wie der Zeitpunkt, zu dem Sie diese angebliche Lösung eingebracht haben: kurz vor der dritten Lesung des Haushalts und ohne Beteiligung der Ausschüsse. Sie stellen auch diesen Antrag hier und heute zur direkten Abstimmung. Damit wird klar: Sie zeigen gerade nicht die notwendige Ernsthaftigkeit, sich gemeinsam über alle Ebenen hinweg auf Lösungen zu verständigen. Die Menschen in diesem Land verstehen das nicht.

Ich schließe mich an. Stellen Sie hier keine Schaufensteranträge, sondern kommen Sie zur Sachpolitik zurück. Ihren Antrag werden wir ablehnen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

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