Wohnungslosigkeit entgegen wirken – Hilfeangebote ausbauen – Ursachen beseitigen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Mehrdad Mostofizadeh

I.  Ausgangslage

Die menschenwürdige Existenz ist ein Grundrecht und als solches in unserer Verfassung verankert. Das Recht auf Wohnen ist maßgeblicher Teil und Voraussetzung einer menschenwürdigen Existenz. Denn Wohnungslosigkeit hat einschneidende Auswirkungen auf die Lebenswelt der betroffenen Menschen und stellt daher eine der extremsten Formen von Armut dar. Die Versorgung mit Wohnraum ist damit ein elementares Grundbedürfnis. Ziel muss es daher sein, Wohnungslosigkeit zu vermeiden und zu beheben. Wohnen ist somit eine der zentralen sozialen Fragen unserer Zeit geworden.

Wohnungslosigkeit nimmt seit Jahren kontinuierlich zu

Die Zahl der wohnungslosen Menschen ist seit Jahren kontinuierlich angestiegen. Akute oder drohende Wohnungslosigkeit reicht bis in die Mitte der Gesellschaft. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe e. V. legt schon seit vielen Jahren grobe Schätzungen zur Lage der Wohnungs- und Obdachlosen vor. Der BAG zur Folge waren in Deutschland 2016 etwa 860.000 Menschen ohne Wohnung – seit 2014 ist dies ein Anstieg um rund 150 Prozent. Die Zahl der wohnungslosen anerkannten Flüchtlinge wird dabei auf ca. 440.000, die der wohnungslosen EU-Bürgerinnen und –Bürger auf etwa 50.000 geschätzt.
Etwa 52.000 Menschen lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße – auch hier ist die Tendenz seit Jahren steigend. Diese Zahlen zur Wohnungslosigkeit beruhen bundesweit noch auf Schätzungen, da es bis heute bundesweit keine verlässlichen, offiziellen Zahlen gibt. Auf Bundesebene ist die Zahl der Wohnungslosen immer noch in keiner Statistik erfasst.
Für die Zukunft ist noch mit einem Anstieg der von Wohnungslosigkeit betroffenen Personen zu erwarten. Es ist zu befürchten, dass sich die Entwicklung der vergangenen Jahre weiter fortsetzen wird. Um den von Verbänden erwarteten Anstieg der Wohnungslosigkeit wirksam bekämpfen zu können, sind auch auf Bundesebene empirische Untersuchungen nötig, die jährlich die Zahl der Wohnungslosen und die von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen erfassen. Nordrhein-Westfalen ist das bisher einzige Bundesland, das regelmäßig eigene Zahlen zur Wohnungslosigkeit und Wohnungsnotfällen erhebt. NRW hat 1965 erstmals eine Wohnungsnotfallstatistik auf Landesebene ins Leben gerufen. 2011 wurde die jährliche Wohnungslosenstatistik, in der die offiziell bei den Kommunen oder freien Trägern der Wohnungslosenhilfe angemeldeten Klientinnen und Klienten erfasst sind, aktualisiert und seither erneut durch- geführt. Diese unter Rot-Grün neu konzipierte integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung erlaubt eine Einschätzung zum Ausmaß, vor allem aber der Entwicklung und der Handlungsnöte.
In NRW hat sich seit 2011 die Zahl der gemeldeten Wohnungslosen bis 2016 bereits um annähernd 60 Prozent auf über 25.000 erhöht. Die anhaltend hohe Zahl der Haushalte mit Mietschulden und die Zahl der Räumungsklagen sind Indizien für die Dynamik dieser dramatischen negativen Entwicklung. Auch aufgrund der in vielen Städten in NRW stark angestiegenen Mietkosten verlieren immer mehr Menschen ihre Wohnung. Dabei ist die Zahl der Frauen, die wohnungslos bzw. obdachlos geworden sind, besonders stark angestiegen. Zudem gelingt es den Sozialdiensten der Kommunen und der Freien Wohlfahrtspflege immer weniger zeitnah für Menschen in prekären Lebenssituationen Wohnraum zu finden.
Die Berechnungen der BAG Wohnungslosenhilfe zeigen, dass von einer deutlich darüber hinaus gehenden Dunkelziffer ausgegangen werden kann. Denn diese statistische Zahl konzentriert sich auf einen Ausschnitt der Wohnungsnotfälle, nämlich auf Personen bzw. Haushalte, die tatsächlich von Wohnungslosigkeit betroffen und institutionell untergebracht sind bzw. von freien Trägern der Wohnungslosenhilfe betreut werden. Nicht berücksichtigt werden Personen, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben, etwa in beengtem Wohnraum, oder denen der Verlust der derzeitigen Wohnung unmittelbar bevorsteht sowie wohnungslose Personen, die weder ordnungsrechtlich untergebracht sind noch bei den freien Trägern der Wohnungslosenhilfe in Erscheinung treten.
Zudem besteht ein Wohnungsnotstand für die Menschen, die selbstständig leben wollen, für die es aber überhaupt kein Wohnungsangebot gibt und die deshalb gezwungen sind in Sondereinrichtungen zu leben. Nach Schätzungen der Freien Wohlfahrtspflege fehlen allein in NRW für mindestens 20.000 Menschen Wohnungen bspw. für Betreutes Wohnen oder dem „selbständigen Wohnen mit Assistenz“. Artikel 19 der UN- Behindertenrechtskonvention gibt uns vor, dass kein Mensch, der es nicht will in einer Sondereinrichtung leben muss. Auch für die Umsetzung dieses Menschenrechts brauchen wir vielerorts entsprechenden Wohnraum.

Ursachen der Wohnungslosigkeit

Zur wachsenden Wohnungslosigkeit tragen die zunehmende Armut in Deutschland sowie der Wohnungsmangel besonders in Ballungsgebieten bei. Der extreme Mietpreisanstieg gerade in vielen Kommunen mit einem angespannten Wohnungsmarkt, Luxussanierungen – nicht selten mit der Folge einer Gentrifizierung ganzer Stadtviertel – sowie das unzureichende Angebot an preiswertem Wohnraum haben sich seit Jahren abgezeichnet. Gegenmaßnahmen wurden zu wenig ergriffen. Gleichzeitig ist die Zahl der Haushalte mit niedrigem Einkommen gestiegen. Bereits 2013 hat der Deutsche Mieterbund vor steigenden Mieten, unbezahlbaren Modernisierungen und bis 2017 vor einem Fehlbestand von 825.000 Mietwohnungen vor allem in Ballungszentren, Groß- und Universitätsstädten, gewarnt.
Seit 1990 ist der Bestand an Sozialwohnungen um etwa 60 % gesunken. 2016 gab es noch ca. 1,2 Millionen Sozialwohnungen, bis 2020 werden weitere 170.000 aus der Bindung fallen. Zusätzlich haben eine Reihe von Kommunen, Bundesländer und der Bund eigene Wohnungsbestände an private Investoren verkauft. Damit wurden diese Reserven an bezahlbaren Wohnraums aus der Hand gegeben.
Allein in NRW fehlen mehr als 200 000 Sozialwohnungen. Zudem fallen jährlich etwa 10.000 Wohnungen aus der Sozialbindung heraus. Deshalb ist es notwendig, dass das Land weiterhin mit attraktiven Förderkonditionen neue Sozialwohnungen umfänglich zu fördert.
Das Problem der Wohnungslosigkeit beginnt allerdings bereits vor dem Verlust der festen Unterkunft. Die BAG Wohnungslose hat darauf hingewiesen, dass drei Gruppen unterschieden werden müssen: Wohnungslose, von Wohnungslosigkeit Bedrohte und Menschen, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben. Deswegen müssen Hilfs- und Unterstützungsangebote jedweder Art zielgruppen- und geschlechtsspezifisch ausgerichtet werden.

Arbeitslosengeld II und Wohnungsnotfälle

Wohnungslosigkeit droht häufig auch aufgrund von Sanktionen, zu hohen Kosten der Unterkunft, Miet- oder Energieschulden wie auch bei Verlust der eigenen Wohnung. Etwa 41% derer, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, sind im Leistungsbezug von ALG II. Bei allein 18% waren akute Miet- oder Energieschulden Auslöser des letzten Wohnungsverlustes. Nach Angabe des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erhielten ALG-II-Beziehende im vergangenen Jahr durchschnittlich 407 Euro pro Monat für die Kosten der Unterkunft, hatten aber im Schnitt einen Bedarf von 451 Euro und mussten die Differenz aus den Regelleistungen selbst erbringen. Auch aus den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit geht hervor, dass zwischen tatsächlichem Zahlungsanspruch bei den Wohnungskosten und dem nachgewiesenen Bedarf häufig eine Lücke von etwa 10 Prozent besteht.
Noch gravierender ist, dass Sanktionen und damit Kürzungen auch bei den Kosten der Unterkunft verhängt werden können. Besonders betroffen sind Personen unter 25 Jahren, deren Leistungen bis zu 100 Prozent gekürzt werden können.

II.  Landesprogramm gegen Wohnungslosigkeit ist wegweisend

Bereits seit 1996 wurde das Landesprogramm „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“ von der damaligen rot-grünen Landesregierung aufgelegt, das mit einigen konzeptionellen Änderungen bis heute besteht. Ab 2009 wurde hieraus das Aktionsprogramm„Obdachlosigkeit verhindern – Weiterentwicklung der Hilfen in Wohnungsnotfällen“ und zugleich die Förderung innovativer Modellprojekte in den Mittelpunkt gerückt. Hiermit sollen Kommunen, Träger der freien Wohlfahrtspflege und private Träger befähigt werden, die Wohnungsnotfallhilfe in eigener Verantwortung weiterzuentwickeln und zum integralen Bestandteil der Wohnungspolitik zu machen. Dabei hatte 2009 die damalige schwarz-gelbe Landesregierung zunächst versucht, die Landesmittel für die Wohnungslosenhilfe komplett zu streichen. Aufgrund der damals großen öffentlichen wie auch parlamentarischen Proteste musste die damalige Landesregierung diese Streichung allerdings wieder zurücknehmen.
Bis heute konnten in rd. 170 Projekten innovative Projektansätze und Konzepte von Kommunen, der Freien Wohlfahrtspflege und privaten Trägern zur Weiterentwicklung der Wohnungsnotfallhilfe aufgebaut und unterstützt werden. Hierzu gehört die

  • Einrichtung örtlicher Fachstellen für Wohnungsnotfälle in vielen Kommunen,
  • Förderung sozialer Wohnprojekte für Wohnungsnotfälle,
  • Wohnraumerschließung für Wohnungsnotfälle,
  • Ausbau der aufsuchenden Beratung und Hilfeangebote
  • soziale Beratung und Begleitung in Straßenzeitungsprojekten
  • aufsuchenden Hilfen zur Krankenpflege und gesundheitlichen Versorgung in bislang sechs Kommunen. Mit dem Umsetzungskonzept konnte die medizinischen Versorgung von wohnungslosen Menschen durch die mobilen medizinischen Dienste bereits an vielen Orten stabilisiert und zu einem Teil der Regelversorgung werden.

Seit 2011 gibt es in NRW die Vereinbarung zur aufsuchenden medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen, der bereits eine Reihe von Kommunen beigetreten ist. Zuvor wurden über das Landesprogramm Hilfen für Wohnungslose entsprechende Modellprojekte in einigen Kommunen gefördert.

III.  Ausbau der Landesförderung für Wohnungslosenhilfe notwendig

Bis heute ist NRW das einzige Bundesland, das ein entsprechendes Förderprogramm zur Unterstützung und Förderung von Projekten der Wohnungslosenhilfe aufgelegt hat. Allerding zeigen auch hier die steigenden Zahlen an wohnungslosen Menschen, dass in vielen Bereichen die Angebote weiter ausgebaut und auch neue Angebote geschaffen werden müssen. Zudem haben bisherige Erfahrungen haben gezeigt, dass sich nicht alle vorrangig für den großstädtischen Bereich entwickelte Angebote auch auf ländliche Strukturen übertragen lassen. Es bedarf deshalb weiterhin des Ausbaus einer erfolgreichen Wohnungslosenhilfe vor Ort und eine Überführung von erfolgreichen Projekten in die kommunale Praxis. Hierzu gehören

  • der weitere Ausbau medizinischer Hilfen und aufsuchender ärztlicher Versorgung für wohnungslose Menschen;
  • die Weiterentwicklung der frauengerechten Wohnungsnotfallhilfen;
  • der Ausbau zeitgemäßer Hilfe- und Unterstützungsformen für junge Erwachsene;
  • der Aufbau eines Hilfeangebotes für alte und pflegebedürftige wohnungslose Menschen;
  • Hilfeangeboten für Menschen mit Migrationshintergrund in Wohnungsnot u.a. für EU-Bürgerinnen und Bürger;
  • zielgruppenspezifischer Zugangswege zu den Angeboten der Wohnungslosenhilfe;
  • Entwicklung differenzierter Konzepte der präventiven Wohnungslosenhilfe auch auf die Situation in ländlich strukturierten Gebieten;
  • Ausbau der aufsuchenden Hilfen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten;
  • Unterstützung und Stabilisierung von Wohnungsverlust bedrohter Familien sowie
  • Stärkung der Straßensozialarbeit zur Stabilisierung betroffener Menschen im Wohnquartier.

Hilfe- und Unterstützung für wohnungslose Frauen flächendeckend ausbauen
Wohnungslose Frauen benötigen andere Hilfen als Männer. Frauen und Mädchen sind unterschiedlichen Formen von Gewalt extremer ausgesetzt und gehen anders mit Problemen um als Männer. Obdachlose Frauen versuchen häufig möglichst lange, ihre Situation zu verbergen. Verbunden ist dies mit Ängsten vor Ausgrenzung und sexuellen Übergriffen. Deshalb meiden Frauen auch die oftmals eher auf Männer ausgerichteten Obdachloseneinrichtungen, suchen sich provisorische Unterkünfte oder verharren in der Wohnung eines gewalttätigen Partners. Mittlerweile sind auch Dank des Landesprogramms eine Reihe von frauengerechten, bedarfsorientierten Angebote aufgebaut worden, darunter früh ansetzende und sozialräumlich ausgerichtete, präventive Hilfen. Notwendig ist es allerdings, diese erfolgreichen Beispiele in die Regelpraxis umzusetzen.
Mittlerweile gibt es in NRW 70 von bundesweit insgesamt 180 Diensten und Angeboten ausschließlich für Frauen. Die Angebote sind laut Wohnungslosenhilfe regional sehr ungleich verteilt; Angebote speziell für Frauen finden sich i.d.R. in den Großstädten. Keinesfalls selbstverständlich ist ein entsprechendes Angebot in den Flächenkreisen. Nicht zuletzt der starke Anstieg der Wohnungslosigkeit insbesondere bei Frauen erfordert einen verstärkten Ausbau der Hilfe- und Unterstützungsangebote für betroffene Frauen.

Unterstützung für wohnungslose junge Menschen ausbauen

Etwa ein Drittel der Wohnungslosen sind unter 30 Jahre. Diese jungen Erwachsenen leben zu einem großen Teil entweder ganz auf der Straße, in Abbruchhäusern oder kommen bei sog. Freunden und Bekannten unter. Dies sind häufig außerordentlich prekäre Wohn- und Lebensverhältnisse, die nicht selten von Gewalt und Missbrauch begleitet werden.
Die häufigen Sanktionen nach SGB II bei den jungen Erwachsenen und die immer seltener bewilligten Jugendhilfemaßnahmen für über 18-Jährige bewirken ein Übriges, so dass diese jungen Leute zunehmend sozial ausgegrenzt zu Wohnungsnotfällen werden. Vor diesem Hintergrund ist es gerade für unter 25jährige Arbeitslose von besonderer Bedeutung, die Sanktionen im SGB II abzuschaffen, und auch nicht mehr gezwungen sind, bei ihren Eltern zu wohnen.
Darüber hinaus weist die Wohnungslosenstatistik des Landes NRW (2015) aus, dass 1642 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in NRW auf der Straße leben. 3256 junge Menschen unter 25 Jahren leben ohne festen Wohnsitz. Sozialarbeiter*innen berichten von einem sich verschärfenden Problem, denn in den letzten Jahren ist die Anzahl junger Obdachloser weiter angestiegen.
In vielen Kommunen in NRW gibt es schon heute sehr gute Anlaufstellen für junge Menschen, denen es gelingt, diese wieder von der Straße zu holen. Die Kapazitäten sind aber vielerorts zu gering, die Anzahl von Notschlafstellen reicht hier bei weitem nicht aus. Insbesondere Angebote für Mädchen und junge Frauen sind Mangelware. Die Beratungsangebote für obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Jugendliche müssen deshalb dringend ausgebaut werden.

Wohn- und Unterstützungsangebote für pflegebedürftige und suchtabhängige Wohnungslose ausbauen

Einrichtungen für ältere und pflegebedürftige Wohnungslose gibt es bisher kaum. Dabei gibt es einen immer größer werden Bedarf an entsprechenden Wohn- und Betreuungsangeboten. Eine Versorgung nur mit Wohnraum alleine reicht oft nicht aus. Alte und vorzeitig gealterte obdachlose Frauen und Männer weisen einen spezifischen Bedarf auf und benötigen zumindest partiell oft hauswirtschaftliche, pflegerische und sozialpädagogische Unterstützungsleistungen.
Ein entsprechendes Angebot an Wohnprojekten für ehemals Wohnungslose mit Pflege- und Unterstützungsbedarf wie auch Suchterkrankten konnte bspw. in Münster in einer zum Wohnen umgebauten Kirche („Wohnprojekte Dreifaltigkeitskirche“) errichtet werden. Für Menschen in besonderen Lebenslagen mit einer psychischen Erkrankung konnte zudem mit den Konzepten Hotel plus in Köln bzw. Pension plus in Münster ein adäquates Angebot gestaltet werden. Geeignete Wohn- und Unterstützungsangebote für Wohnungslose mit Pflegebedarf bzw. Sucht- wie auch psychischen Erkrankungen gilt es in den kommenden Jahren in NRW weiter auszubauen.

"Housing First"-Ansatz fördern

Seit einigen Jahren hat mit dem „Housing-First“-Ansatz die Diskussion über einen Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe an Fahrt gewonnen. Statt der gängigen Stufensysteme für Wohnungs- lose, die einen schrittweisen Aufstieg zwischen verschiedenen Sonderwohnformen – Notunterkünfte, betreute Wohngruppen, Übergangswohnen/Trainingswohnen usw. – mit unterschiedlichen Graden von Autonomie und Kontrolle vorsehen, bevor eine Vermittlung in abgeschlossenen Wohnraum mit vollen Mieterrechten („Finalwohnung“) möglich ist, steht „Housing First“ für ein Hilfeangebot, bei dem Wohnungslose mit komplexen Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen ohne Vorbedingungen an Therapieteilnahme oder Abstinenz normaler Wohnraum und intensive persönliche und gesundheitliche Hilfen vermittelt wird. Finnland beispielsweise hat es mit seinem landesweiten HousingFirst-Programm geschafft die Zahl der Wohnungslosen Menschen deutlich zu senken. Inzwischen lebt dort fast niemand mehr dauerhaft auf der Straße – dank dem Housing-First-Programm. Auch in Portugal oder Österreich läuft dieses Programm mit Erfolg.
Begrüßenswert ist es daher, dass die Landesregierung im Rahmen des Förderprogramms „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“ das Pilotprojekt „Housing-First-Fonds“ über drei Jahre fördern will. Hierzu gehört eine Koordinierungsstelle zum Aufbau von „Housing- First“-Projekten vor Ort. Mit Hilfe des Fonds, der sich aus den Verkaufserlösen aus Werken des Malers Gerhard Richter speist, soll der Ankauf von bis zu 100 Wohneinheiten durch Träger der Freien Wohlfahrtspflege erfolgen. Diesen „Housing-First“-Ansatz, gilt es über dieses Projekt hinaus perspektivisch weiter auszubauen.

IV.  Schaffung von ausreichenden bezahlbaren Wohnraum und präventiven wohnungssichernden Maßnahmen

Der Dreh- und Angelpunkt ist die ausreichende Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum. Die Schaffung von 250.000 neue Wohnungen bis 2022 wäre ein wichtiges Ziel, um dies zu erreichen. Das Land ist daher gehalten eine dauerhafte Verwendung der zusätzlichen Bundesmittel, die im Rahmen des Koalitionsvertrages vereinbart worden sind, für den sozialen Wohnungsbau zu gewährleisten und hierfür zeitnah ein Programm zur Verteilung der Mittel auflegen. Darüber hinaus müssen zukünftig zusätzliche entstehende Finanzspielräume des Landes, die zum Beispiel durch die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs ab 2020 entstehen vorrangig für den Wohnungsbau genutzt werden. Der Schwerpunkt der Wohnungsbauförder- mittel in NRW muss beim Ausbau des öffentlich geförderten Wohnungsbaus liegen. Dabei sieht die CDU/FDP geführte Landesregierung jährlich noch 520 Mio. Euro und ab 2020 dann 500 Mio. Euro für den öffentlich geförderten Mietneubau vor; 200 Mio. Euro weniger als die rot-grüne Vorgängerregierung.
Insbesondere in den Kommunen mit einem angespannten Wohnungsmarkt brauchen wir zudem eine Politik der „sozialen Bodennutzung“. Hierzu gehört, dass mindestens 30% der neu zu errichtenden Wohnflächen sozial geförderter Wohnungsbau sein muss. Die Kommunen müssen mit gutem Beispiel voran gehen und bei Neubaugebieten 60% sozial geförderten oder förderfähigen Wohnungsbau ausweisen. Grundstücke sollen nicht nach Höchstgebotsverfahren an den Meistbietenden veräußert, sondern zum gutachterlich festgelegten Verkehrswert an denjenigen, der/die die niedrigste Startmiete für die Mieterinnen und Mieter nach Fertigstellung garantiert. Zudem sollen städtische Liegenschaften vorrangig an gemeinschaftliche Wohnprojekte vergeben werden, die einen Beitrag zum Quartier leisten. Gleichzeitig brauchen wir eine Stärkung der kommunalen Wohnungsunternehmen, die nicht zuletzt auch eine wichtige Rolle dabei spielen, auch für Menschen in besonderen Lebenslagen Wohnraum zu ermöglichen.
Zur Sicherung von Wohnraum ist darüber hinaus in den Kommunen ein breiter Mix an Förderungen notwendig, der auch die Schaffung von barrierefreien (auch rollstuhlgerechten) Wohnungen bis hin zu genossenschaftlichen Wohnen und sozialen Wohnprojekten für Menschen mit Unterstützungsbedarf wie auch für Menschen in besonderen Lebenslagen umfasst.
Um für Menschen in einer Wohnungsnotsituation und prekären Lebenssituationen Wohnungen vermitteln zu können, benötigen die Kommunen auch entsprechenden Wohnraum. Mit dem WFNGÄndG NRW wurde 2012 zu Gunsten der Kommunen in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf eine Satzungsermächtigung eingeführt, mit der diese Mieterbenennungsrechte für öffentlich geförderte Mietwohnungen festlegen können. Mit diesem Belegungsmanagement zu Gunsten einer Begleitung und Vermittlung Wohnungssuchender mit dringendem Versorgungs- und hohem Unterstützungsbedarf, sollen die institutionelle Wohnungswirtschaft und die privaten Vermieter dazu angehalten werden, durch die Freimeldung von Wohnraum bzw. durch den Abschluss von Kooperationsvereinbarungen diesen Personenkreis zu berücksichtigen. Diese Möglichkeiten gilt es verstärkt zu nutzen.
Zudem sind wohnraumsichernden Aktivitäten seitens der Kommunen und Freien Träger notwendig, um in vielen Fällen den Verlust einer Wohnung verhindern zu können. So werden insbesondere in den größeren Städten in NRW auch sozialrechtliche Maßnahmen zur Prävention und Verhinderung von Wohnungslosigkeit ergriffen. Hierzu gehören Beratung und Unterstützung bei Verhandlungen mit dem Vermieter/der Vermieterin, aber auch die Mietschuldenübernahmen nach § 22 Abs. 8 SGB II wie auch die Übernahme der Mietschulden nach § 36 SGB XII. Bei etwa einem Viertel der Fälle, bei denen Wohnungsverlust aufgrund von Mietschulden droht, werden die Mietschulden seitens der Kommunen bzw. Jobcenter übernommen. Zudem gibt es oft auch Bedarf an über die unmittelbare Wohnraumsicherung hinausgehender Hilfe für die betroffenen Haushalte.
Gerade die örtlichen kommunalen Fachstellen für Wohnungsnotfälle sollen in den Kommunen die Zuständigkeiten von Sozial- und Wohnungsämter bei den Wohnungsnotfällen miteinander verzahnen. Sie fungieren als Präventionsstellen zur Wohnungssicherung. Hinzu kommen die entsprechenden Stellen bei den Jobcentern sowie die Fachstellen der Freien Träger und die Träger, die in der örtlichen Wohnungslosenhilfe engagiert sind.
Die meisten kommunalen Präventionsstellen erhalten auch aufgrund von Absprachen Informationen über fristlose Kündigungen wegen Mietzahlungsverzugs von Wohnungsunternehmen oder auch von privaten Vermietern und Vermieterinnen, um bereits im Vorfeld von Räumungsklagen intervenieren zu können. Das gilt besonders für die Zentralen Fachstellen, aber auch in allen anderen Städten mit ausgebauten Präventionsstellen ist dies anzutreffen. Allerdings sind in den kleineren kreisangehörigen Städten entsprechende Kooperationen mit Wohnungsunternehmen und privaten Vermietern oft nur gering ausgeprägt oder gar nicht vorhanden.
Einer begrüßenswerten Präventionsstrategie in vielen Kommunen steht aber – so wie oben aufgezeigt – oft auch einer unzureichenden bzw. restriktiven Leistungsgewährung für ALG II- Bezieherinnen und Bezieher bei den Wohnkosten gegenüber, die nicht selten mit ursächlich ist für die Wohnungsnotfälle.

Wohnungslosenhilfe vor Ort stärken

Zielgruppen der Wohnungslosenhilfe sind auch Menschen mit Migrationshintergrund, deren Integration häufig durch Wohnungslosigkeit mindestens behindert wurde. Zunehmend wird die Wohnungslosenhilfe von Menschen benötigt, die nicht nur einen Bedarf an Wohnraum haben, sondern auch maßgebliche Integrationsbedarfe in den Bereichen Sprache, Beschäftigung, Kultur und Gesellschaft. Bei der kommunalen Wohnungslosenhilfe muss es in den Kommunen in der Zusammenarbeit mit den Trägern vor Ort deshalb auch darum gehen zu klären, welche gemeinsamen Schritte unter Berücksichtigung der individuellen Situation der Betroffenen die Akteure vor Ort unternehmen können, um eine erfolgreiche Integration möglich zu machen.
In den letzten Jahren hat die Zuwanderung von Menschen aus den EU-Mitgliedstaaten erheblich zugenommen. Die Regelungen, die seit Ende des Jahres 2016 mehr EU-Bürgerinnen und-Bürger von Sozialleistungen ausschließen, haben oft auch zur Folge, dass immer mehr von ihnen in äußerst prekären Lebensverhältnissen leben und von verschiedenen Formen der Ausbeutung, etwa am Wohnungs- und Arbeitsmarkt, betroffen sind. Da ein Anspruch auf ALG II- Leistungen häufig nicht sofort zu klären ist, sind die Menschen während dieser Zeit der Prüfung mittellos und ohne Unterkunft. Die betroffenen Menschen nutzen deshalb insbesondere die Infrastruktur der existenzunterstützenden Angebote der Wohnungslosenhilfe. Hierzu gehören auch örtliche Projekte, die im Rahmen des Europäischen Sozialfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) finanziert werden. In NRW sind es 21 Projekte die u.a. auf die Unterstützung für neuzugewanderte EU- Bürger und Bürgerinnen ausgerichtet sind, die sich in prekären Lebenslagen befinden. Die Finanzierung der Projekte ist allerdings auf zwei Jahre begrenzt, die erste Förderphase läuft bis Ende 2018, eine zweite ist für 2019-20 vorgesehen. Hier bestehen Finanzierungsnotwendigkeiten über diesen Zeitrahmen hinaus. Hier gilt es auch zu prüfen, ob Hilfen nach §§ 67-69 SGB XII gewährt werden können.

V.  Der Landtag stellt fest:

1.   In zahlreichen Städten herrscht heutzutage Wohnraummangel, insbesondere im unteren und mittleren Preissegment. Nicht zuletzt auch deshalb ist die Zahl der wohnungslosen oder von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen in den letzten Jahren in Deutschland und auch in NRW deutlich angestiegen. Die Frage der Versorgung mit angemessenem Wohnraum ist gerade in NRW zu einer der zentralen Gerechtigkeitsfragen geworden. Die Schaffung und Sanierung bezahlbaren und attraktiven Wohnraums ist eine der zentralen städtebau-, sozial-, aber auch klimapolitischen Aufgaben der nächsten Jahre.2.   Mit der Hilfe des Landesprogramms „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“ konnte bisher eine Vielzahl an wichtigen Projekten der Wohnungslosenhilfe in den Kommunen aufgebaut werden. Gerade die steigende Zahl wohnungsloser Menschen zeigt, dass ein verstärktes Engagement in der Wohnungslosenhilfe und auch ein Ausbau der Hilfen und Angebote im Rahmen des Landesprogramms notwendig.3.   In vielen Bereichen der Wohnungsnotfallhilfe müssen weiterhin Angebote für eine erfolgreiche Wohnungslosenhilfe vor Ort entwickelt bzw. ausgebaut werden. Hierzu gehören u.a.

  • der Ausbau der medizinischen Hilfen und aufsuchenden ärztlichen Versorgung für wohnungslose und obdachlose Menschen;
  • die Weiterentwicklung der frauengerechten Wohnungsnotfallhilfen mit dem Ziel, Impulse für den Aufbau örtlicher Gesamthilfesysteme für Frauen in Wohnungsnot zu setzen und ein flächendeckendes Angebot zu schaffen;
  • der Ausbau und die zeitgemäße Weiterentwicklung der Hilfe- und Unterstützungsformen für junge Erwachsene (geschlechtsspezifisch ausgerichtet);
  • der Aufbau eines Wohn- und Hilfeangebotes für alte und pflegebedürftige wohnungslose Menschen;
  • die Schaffung von Hilfeangeboten für Menschen mit Migrationshintergrund in Wohnungsnot und zielgruppenspezifischer Zugangswege zu den Angeboten der Wohnungslosenhilfe;
  • die Entwicklung differenzierter Konzepte der präventiven Wohnungslosenhilfe für den ländlichen Raum;
  • die aufsuchenden Hilfen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten, hauswirtschaftliche Beratung und Unterstützung zur Stabilisierung für von Wohnungsverlust bedrohten Familien;
  • begleitende Sozialberatung sowie Straßensozialarbeit zur Stabilisierung im Wohnquartier.

4.   Die Förderung weitere Unterstützungsformen ist notwendig. So bietet „Housing First“ ein Hilfeangebot, bei dem auch ohne Vorbedingungen an Therapieteilnahme oder Abstinenz normaler Wohnraum und intensive persönliche und gesundheitliche Hilfen vermittelt werden.

5.   Die ausreichende Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum muss ein zentrales Ziel sein. Der soziale Wohnungsbau muss Vorrang in der Wohnungspolitik des Landes haben, um das ambitionierte, aber notwendige Ziel von 250.000 Wohnungen bis 2022 erreichen zu können.
6.   Zudem braucht es insbesondere in den Kommunen mit einem angespannten Wohnungsmarkt eine Politik der „sozialen Bodennutzung“. Hierzu gehört, dass mindestens 30% der neu zu errichtenden Wohnflächen sozial geförderter Wohnungsbau sein muss.
7.   Der Bedarf an gemeinschaftlichen und tragfähigen Wohn- und Lebensformen wächst. Für die Schaffung von dauerhaft bezahlbaren Wohnraums auch für Menschen in prekären Lebenslagen haben Wohnprojekte eine wichtige Bedeutung.
8.   Die wohnraumsichernden Aktivitäten seitens der Kommunen und freien Träger gilt es zu stärken und bedarfsgerecht auszubauen.
9.   Ziel muss es sein, dass die Mieten von geförderten Wohnungen grundsätzlich mit den Kosten der Unterkunft kompatibel sind.
10.   Durch den kontinuierlichen Ausbau des Wohnungsangebotes für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf gilt es das Recht auf ein selbstbestimmtes Wohnen entsprechend Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention zielstrebig umzusetzen.

VI.  Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. Weiterhin für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums einzutreten und die soziale Wohnraumförderung zu stärken
  2. Die Landesförderung zur Wohnungslosenhilfe und Hilfe in Wohnungsnotfällen weiterzuentwickeln und auszubauen. Hierbei gilt es insbesondere die unter Punkt V.3 – 5 aufgezeigten Angebote und Maßnahmen einzubeziehen.
  3. Die „Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung“ kontinuierlich fortzuführen.
  4. Dafür Sorge zu tragen, dass die Hilfe- und Unterstützungsangebote für wohnungslose Frauen flächendeckend ausgebaut und auch in den Kreisen vorangebracht werden, wo bisher noch kein ausreichendes Angebot besteht.
  5. Über den Jugendhilfeplan und die Finanzierung von Projekten mit dem Schwerpunkt Obdachlosigkeit die Unterstützung für junge wohnungslose Menschen auszubauen.
  6. Den „ Housing First“-Ansatz über das bereits bewilligte Pilotprojekt „Housing-First- Fonds“ hinaus mit einem Landesprogramm „Housing First“ zu fördern, mit dem Pro- jektträger finanziell und infrastrukturell unterstützt und Mittel für die Evaluation der Maßnahmen bereitstellt werden.
  7. Sich dafür einzusetzen, dass eine soziale Wohnraumförderung vor Ort durchgeführt und Wohnangebote für Menschen in besonderen Lebenslagen kontinuierlich ausgebaut werden.
  8. Die Finanzierung der Projekte zur Unterstützung für neuzugewanderte EU- Bürger und Bürgerinnen, die sich in prekären Lebenslagen befinden, über 2020 hinaus zu übernehmen.
  9. Die in Kapitel V. formulierten Forderungen und Zielsetzungen umzusetzen.
  10. Sich dafür einzusetzen, dass das Wohnungsangebot für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf zielstrebig ausgebaut und ein bedarfsgerechtes Angebot an barrierefreien Wohnungen inklusive rollstuhlgerechten Wohnungen sowie ambulanten gemeinschaftlichen Wohnformen geschaffen wird.

VII.  Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass

  1. die Bundesregierung eine bundesweite nationale Statistik zur Erfassung der Obdachund Wohnungslosigkeit einführt, um auf dieser statistischen Grundlage die Basis für die nachhaltige Bekämpfung von Wohnungs-und Obdachlosigkeit zu schaffen;
  2. die Sanktionen im Arbeitslosengeld II abgeschafft werden und eine Neuberechnung der Regelleistungen sowie der Unterkunftskosten erfolgt, die den tatsächlichen Bedarfen gerecht wird;
  3. über den Ausbau von öffentlich geförderten Sozialwohnungen hinaus die Einführung einer Wohnungsgemeinnützigkeit wieder neu eröffnet wird.