Welche Schlüsse zieht die Landesregierung aus dem Urteil zu Nenad M.?

Kleine Anfrage von Sigrid Beer

Am 17.07.2018 entschied das Landgericht Köln, dass Nenad M. wegen Amtspflichtverletzung Anspruch auf Entschädigung durch das Land Nordrhein-Westfalen hat. Er wurde zu Unrecht als geistig behindert eingestuft. Auch trotz seiner Proteste gegen die Beschulung erfolgte offensichtlich keine Überprüfung der Diagnose. Sie wurde über die Schuljahre fortgeschrieben. NRW habe seine Amtspflichten verletzt und hafte für die fehlerhafte Beschulung des heute 21- jährigen urteilte das Gericht.
Dadurch wurden dem heute 21-jährigen Chancen in seiner Bildungslaufbahn genommen, bis heute sind die beruflichen Perspektiven des jungen Mannes belastet.
Der WDR berichtet am 17.07.2018 zusammenfassend:
„Nenad wurde als Kind in einer bayerischen Schule als Förderschüler eingestuft. Das war das Resultat nach einem Test, den Pädagogen mit ihm machten. Sein Intelligenzquotient lag laut Test bei 59. Der Junge war mit seiner Familie aus Serbien nach Deutschland gekommen und sprach kein Deutsch. Bei dem Test war kein Dolmetscher dabei. Diese Einstufung sollte jahrelang seinen schulischen Werdegang bestimmen. Auch als die Familie nach Köln zog, blieb er Förderschüler.
Mit den Jahren steigert sich Nenads Unzufriedenheit. Er selbst sagt, dass er auf der Förderschule in Köln-Poll nichts gelernt habe. Er bleibt hin und wieder lieber zu Hause und liest dort Bücher. In der Schule geht er auch zum Direktor und sagt ihm: „Ich will einen ordentlichen Abschluss machen, ich will auf eine andere Schule!““
Nenad M. ist fast 18, als er es u.a. mit Hilfe von mittendrin e.V. schafft auf ein Berufskolleg zu wechseln. Er macht dort einen Hauptschulabschluss mit der Note 1,6 als Klassenbester. Das Land NRW hat er in Folge auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt. Er fühlt sich um viele Jahre erfolgreichen Lernens mit Abschluss und gegebenenfalls einer Ausbildung gebracht. Mittlerweile ist auch festgestellt, dass er einen völlig durchschnittlichen Intelligenzquotienten aufweist.
Die Geschichte ist erschütternd und löst viele Fragen aus.
Es bleibt auch heute noch zu befürchten, dass es sich nicht um ein individuelles Phänomen handelt, sondern strukturelle Bedingungen solche Vorkommnisse begünstigen. Es muss dringend geklärt werden, ob noch mehr junge Menschen durch unzureichende Überprüfungen in einem Förderstatus eingruppiert sind, der objektiv nicht zu rechtfertigen ist. Es stellt sich zudem die Frage, wie viele zugewanderte Kinder aufgrund von Sprachbarrieren einer Förderschule zugewiesen wurden.
In der dpa-Meldung zum Gerichtsentscheid am 17.07.2018 heißt es zur Reaktion des Ministeriums: „Man werde die Urteilsbegründung nun sorgfältig auswerten, hieß es aus dem Schulministerium. Seit 2014 räume das Schulgesetz Eltern allerdings einen Rechtsanspruch ein, sich für eine Förderschule oder eine allgemeine Schule zu entscheiden. Das gelte mittlerweile für nahezu alle Jahrgänge der Pflichtschulzeit. Diese Regelungen sollen dazu führen, dass ein solcher Fall sich nicht wiederholt.“
Dieser Hinweis irritiert, denn bei Nenad M. ging es erstens um die fälschliche Zuweisung des Förderbedarfs und die nicht ordentlich durchgeführte Überprüfung. Hier hat das Land nach Ansicht des Gerichts die Amtspflicht verletzt, indem sie schulaufsichtsrechtlich nicht auf die nicht ordnungsgemäße Überprüfung reagiert habe.
Zweitens wird außer Acht gelassen, dass die zugewanderten Eltern von Nenad mit dem Umgehen mit schulrechtlichen Vorgaben überfordert gewesen sein dürften und vor allem drittens:
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat im Zentrum die Wahrung der Rechte des Kindes auf uneingeschränkte Teilhabe – und eben nicht ein Elternwahlrecht auf eine Förderschule oder gemeinsames Lernen.
Völlig unverständlich ist die Äußerung der Anwältin, die das Land und damit auch das Schulministerium vor Gericht vertrat. Dpa meldete: „Die Anwältin des beklagten Landes hatte während des Prozesses betont, die Lehrkräfte hätten regelmäßig in den Zeugnissen Einschätzung vorgenommen. Die Sonderschule habe der Junge bis zum 18. Lebensjahr besuchen können, während er auf einer Regelschule nach Ansicht der Pädagogen «nicht förderlichen» Einflüssen ausgesetzt gewesen wäre und schon mit 16 Jahren hätte abgehen müssen.“
Eine solche Darlegung nährt den Verdacht, dass die Förderschule als Schonraum gegenüber einer Beschulung in einer allgemeinen Schule verstanden wird. Auch die Einschätzung, dass Nenad M. bei einer Beschulung an einer Regelschule „nicht förderlichen Einflüssen“ ausgesetzt sei, irritiert erheblich, wird damit doch pauschal eine Beschulung an Regelschulen als nicht förderlich bewertet.
Es war jedoch der Förderort „Geistige Entwicklung“ in einer Förderschule, der Nenad M. überhaupt keinen adäquaten Abschluss ermöglicht und ihn partiell sogar in die Schulverweigerung getrieben hat.
Schon 2013 hat der Landesrechnungshof in seiner „Unterrichtung des Landtags über die Prüfung des Schulbetriebs an öffentlichen Förderschulen“ vom 25.04.2013 festgestellt: „Die jährliche Überprüfung des festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfs, Förderschwerpunktes und Förderortes führte nur in sehr wenigen Fällen zu einer Rückschulung in die allgemeine Schule.“ Des Weiteren mahnte der LRH auch hinsichtlich der jährlichen Überprüfung Optimierungsbedarf an, und zwar sowohl hinsichtlich etwaiger noch zu erlassender Regelungen als auch hinsichtlich der Beachtung der bereits normierten Vorgaben. Der LRH regte zudem an, nicht nur die AO-SF-Verfahren, sondern auch die jährlichen Überprüfungen und die daraus resultierenden Rückschulungen, Förderschwerpunkt- und Förderortwechsel sowie Zuordnungen zur Gruppe der Schwerstbehinderten statistisch zu erfassen.
Dieser Bericht des Landesrechnungshofs erhält nun angesichts der kurz vor der Sommerpause vorgelegten Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Inklusion durch das Schulministerium eine neue Aktualität. Schließlich werden erklärtermaßen die Förderschulen gestärkt und zusätzliche Ressourcen für das gemeinsame Lernen werden frühestens und dann nur teilweise (aufwachsend ab dem 5. Jahrgang) in Aussicht gestellt. Das Ziel der konsequenten Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems wird damit aufgegeben, zumal mancherorts die integrierten Schulen auch noch Ressourcen an die Förderschulen abgeben sollen. Insgesamt werden falsche Impulse auch an die Lehrkräfte gesendet, die – in Teilen – wieder darin bestärkt werden, sich vermeintlich nicht mit der Inklusion beschäftigen zu müssen.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

  1. Wie gewährleistet die Landesregierung, dass es keine weiteren gravierenden Fehldiagnosen, ggf. mit Zuordnung zu Förderschulen wie im Fall Nenad M., in NRW gibt?
  2. Wie bewertet die Landesregierung die Begründung der Rechtsvertreterin des Landes vor Gericht, dass das Festhaltens am Förderschwerpunkt geistige Entwicklung im Fall Nenad M. erfolgt sei, da er sonst „an einer Regelschule nicht förderlichen Einflüssen ausgesetzt“ gewesen wäre?
  3. Wie gewährleistet die Landesregierung, dass zugewanderten Kindern nicht allein aufgrund von Sprachbarrieren sonderpädagogische Unterstützungsbedarfe zugeschrieben werden?
  4. Wer nimmt die Aufsicht über die Handhabung und Qualität der Überprüfungen der Einstufung in Förderschwerpunkte wahr?
  5. Welche grundsätzlichen Änderungen an den Überprüfungen und Feststellungen sonderpädagogischen Förderbedarfes plant die Landesregierung?