Überprüfung und Moratorium der geplanten Straßenneu- und Ausbauprojekte im Bundesverkehrswegeplan und Landesstraßenbedarfsplan in NRW

Antrag der GRÜNEN im Landtag

  1. Ausgangslage

Der Klimawandel nimmt weiter an Fahrt auf und muss dringend auf allen Ebenen und mit einer Vielzahl von Maßnahmen bekämpft werden. Doch während es in fast allen Bereichen – allen voran der Energiesektor – Fortschritte bei der Einsparung des klimaschädlichen Ausstoßes von CO2 gibt, hinkt der Verkehrssektor deutlich hinterher. Gegenüber 1990 ist der CO2-Ausstoß des Verkehrssektors bis 2018 sogar um 2,2 Prozent gestiegen. Während der einzelne PKW und der einzelne LKW im Schnitt deutlich weniger CO2 ausstößt als noch vor Jahren, hat die Zunahme des PKW- und Güterverkehrs auf der Straße insgesamt die Erfolge der tech­nischen Entwicklung zu verbrauchsärmeren und damit CO2-sparenden Motoren zunichte ge­macht und ins Negative verkehrt. So hat der PKW-Verkehr zwischen 1995 und 2018 um rund 14 Prozent zugenommen, der Verkehrsaufwand der LKW (Tonnenkilometer) für transportierte Güter sogar um 81 Prozent.

Gleichzeitig wurden im Zuge der Bahnreform seit 1990 rund 5.400 km Schienenstrecken still­gelegt. Diese Entwicklung hat mit zu einer massiven Verschiebung des Güterverkehrs auf die Straße beigetragen und wirkt bis heute nach. Denn noch immer sinkt der Anteil der auf der Schiene transportierten Güter jährlich, während der Anteil der auf der Straße transportierten Güter weiter zunimmt. Im Zuge des Deutschlandtakts und der angestrebten Verdoppelung von Fahrgästen und Gütertransporten bis 2030 soll dieser Trend umgekehrt werden. Doch dafür müssten Prioritäten anders gesetzt und finanzielle Mittel vom Straßenbau in die Bahninfra­struktur umgeschichtet werden, dies ist jedoch bislang weder von Bundesverkehrsminister An­dreas Scheuer (CSU), noch von NRW-Landesverkehrsminister Wüst (CDU) beabsichtigt.

Der Ausbau der Straßen hat immer noch höchste Priorität vor allen anderen Verkehrsinfra-strukturvorhaben. Es werden sowohl im Bund als auch im Land und den Kommunen deutlich mehr Mittel in den Erhalt und den Neubau von Straßen investiert, als in allen andere Verkehrs­träger. So finanziert der Bund im Haushalt für 2020 nur 6,6 Mrd. Euro in das Schienennetz, während für den Straßenbau 7,75 Mrd. in 2020 und bis 2023 jährlich steigend sogar 8,68 Mrd. veranschlagt sind . Auch im Landeshaushalt nimmt der Straßenbau eine vorherrschende Rolle ein. Während für die Förderung der Eisenbahnen und des Nahverkehrs gerade mal 328,7 Mio. Euro originär aus Landesmitteln stammen (der Rest wird über die Regionalisierungsmittel und GVFG-Mittel vom Bund an das Land durchgereicht), stehen für die Unterstützung des kommu­nalen Straßenbaus rund 167 Mio. und für den Landesbetrieb Straßen.NRW rund 756 Mio. Euro zur Verfügung, davon 52 Mio. für den Neubau von Landesstraßen.

Insgesamt wurden im Jahr 2019 61 km Autobahn und 122 km Bundesstraßen neu gebaut, hingegen gerade mal 6 km neue Schienenwege. Das Land NRW plant für 2020 insgesamt 21 neue Landesstraßenbauprojekte.

Deutschland hat mit 76 Euro/pro Bürgerin oder Bürger eine der niedrigsten Pro-Kopf-Ausga­ben für die Schieneninfrastruktur. Während im Nachbarland Niederlande 133 Euro und in der Schweiz sogar 404 Euro in 2019 pro Kopf in den Erhalt, Neu- und Ausbau des Schienennetzes investiert werden und damit deutlich mehr Geld in die Schieneninfrastruktur als in den Stra­ßenverkehr fließt, ist es in Deutschland genau umgekehrt. Wenn es nach den Plänen der derzeitigen Regierungen im Bund und NRW geht, soll sich an diesem Trend auch nichts än­dern.

Die Förderung der Nahmobilität in NRW mit rund 27 Mio. Euro und die Radschnellwegeförderung sowie die Förderung von Radwegen an Landesstraßen mit insgesamt 19,4 Mio. Euro fallen im Vergleich zur Förderung der anderen Verkehrsarten finanziell kaum ins Gewicht. Hinzu kommt, dass nur ein Bruchteil dieser verfügbaren Mittel tatsächlich ausgegeben werden, was vor allem auch an der fehlenden Priorisierung von umweltfreundlicher Mobilität durch die Landesregierung liegt. Dies zeigt sich beispielhaft in der Zuweisung von Personal beim Lan-desbetrieb für die Radverkehrsinfrastruktur. Der Verkehrsminister hat angekündigt, gerade mal 10 neue Stellen für die schnellere Planung und Bau von Radverkehrsmaßnahmen bei Straßen.nrw zu schaffen, insgesamt arbeiten dort rund 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Diese ungute Entwicklung und ungerechte, einseitige Verteilung von finanziellen Mitteln und personellen Ressourcen hat bislang zu einer starken Bevorzugung des motorisierten Individu­alverkehrs mit den entsprechenden Folgen geführt. Angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel und der deshalb dringend notwendigen Verkehrswende ist ein Umlenken überfällig.

Auch die Bürgerinnen und Bürgern artikulieren sich immer deutlicher gegen den ungebremsten Ausbau des Straßenverkehrs und engagieren sich in unzähligen Bürgerinitiativen gegen Stra­ßenneu- und -ausbauprojekte. So gibt es mittlerweile in NRW erhebliche Widerstände bei­spielsweise gegen den Neubau der Autobahnen A1 in der Eifel und der A46 im Sauerland sowie gegen die Verbreiterung der A3 im Kreis Mettmann und der A565 („Tausendfüßler“) in Bonn. Auch der Aus- und Neubau von Bundes- und Landesstraßen wird inzwischen fast über­all kritisch gesehen, teilweise sprechen sich auch Städte und Gemeinden einstimmig oder mehrheitlich für eine Änderung oder Abbruch der geplanten Vorhaben aus. Doch mit dem der­zeitigen Bundesverkehrswegeplan 2030 und dem Landesstraßenbedarfsplan sollen unzählige Projekte, die teilweise vor Jahrzehnten angedacht und damals für notwendig befunden wur­den, in den nächsten Jahren geplant und umgesetzt werden.

In vielen Umfragen in jüngster Zeit wird deutlich, dass die Bevölkerung den Verkehr als eines der dringendsten politischen Problemfelder ansehen und hier dringend eine Verkehrswende hin zu mehr ÖPNV und Radverkehr wünscht. Der weitere Ausbau der Straßeninfrastruktur wird nicht nur durch die Klimaschutzproblematik, sondern auch unter den Aspekten Raumknapp­heit, Versiegelung von Freiflächen und Verlärmung von immer mehr Menschen als aus der Zeit gefallen betrachtet.

Hinzu kommt, dass sich durch die Covid-19-Pandemie das Verkehrsverhalten insgesamt ver­ändert hat. Pendlerverkehre haben durch mehr Homeoffice und den Ersatz von Dienstreisen durch Videokonferenzen abgenommen. Der Fahrradverkehr hat an Bedeutung für die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger gewonnen, wohingegen aus Infektionsschutzgründen weniger Fahrgäste den ÖPNV und Bahnverkehr nutzen als noch in den Vorjahren.

Unberücksichtigt bei den Ausbau- und Neubauvorhaben an Bundes- und Landesstraßen blei­ben auch die Verlagerungseffekte, die durch den Ausbau anderer Verkehrsträger entstehen könnten. Die sogenannte „Netzlösung“ für die Bewertung von Vorhaben des Bundesverkehrswegeplans fand bei der Aufstellung des BVWP 2030 keine Anwendung.

Vor dem Hintergrund des Klimawandels und der dadurch dringend notwendigen Verkehrs­wende, der Covid-19-Pandemie und der geänderten Einstellung der Bevölkerung gegenüber Straßenbauprojekten sollen alle Vorhaben, die zu einem weiteren Aus- und Neubau der Stra­ßeninfrastruktur in NRW führen, dahingehend überprüft werden, ob sie noch zeitgemäß und verkehrlich notwendig sind.

  1. Der Landtag stellt fest
  • Der Klimawandel erfordert dringend eine Veränderung der Mobilität, damit auch der Verkehrssektor zur Einhaltung der Klimaziele beiträgt.
  • Der weitere Ausbau des heute schon im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern in jeder Hinsicht bevorteilte Straßenverkehrsnetz führt zu noch mehr motorisiertem In­dividualverkehr und LKW-Güterverkehr und konterkariert die Erreichung der Klima­ziele in NRW.
  • Belastungen durch Verkehrslärm, Verknappung des vorhandenen Raums durch neue Straßen und parkende Fahrzeuge sowie die Versiegelung von Natur- und anderen Freiflächen stoßen bei der Bevölkerung zunehmend auf Widerstand gegen den Aus-und Neubau von Straßen.
  • In vielen Regionen, Städten, Gemeinden und Stadtteilen in NRW gibt es zum Auto­verkehr kaum eine oder keine Mobilitätsalternative. Dies liegt in erster Linie daran, dass in der Vergangenheit überall in NRW ein dichtes Straßennetz aufgebaut wurde, während vorhandene Schienen, Bahnhöfe, Straßenbahnen und andere ÖPNV-Infra-struktur vernachlässigt oder abgebaut wurden.
  • Nur die Neuverteilung der vorhandenen und durch die Pandemie-Krise zukünftig knapper werdenden öffentlichen Mittel der Verkehrshaushalte zugunsten des Aus­baus von Schienen-, ÖPNV- und Fahrrad- sowie andere Nahmobilitätsinfrastruktur schaffen klimaschonend und nachhaltig eine Entlastung des vorhandenen Straßen­verkehrsnetzes.
  • Eine Überprüfung der im Bundesverkehrswegeplan 2030 und im Landesstraßenbedarfsplan aufgeführten Projekte hinsichtlich ihrer Wirkung auf Klimaschutz, Verlage­rung von Verkehren zulasten von umweltfreundlichen Verkehrsträgern, verkehrliche Notwendigkeit unter Einbeziehung vorhandener und zukünftiger alternativer Ver­kehrsinfrastruktur, Auswirkungen auf landwirtschaftlich genutzte oder natürliche Flä­chen sowie politische Beschlüsse der betroffenen kommunalen Vertretungen ist drin­gend geboten.
  • Ein Moratorium für noch nicht mit der Planung begonnene oder sich erst im Vorplanungsstadium befindliche Projekte des BVWPs 2030 und des Landesstraßenbedarfsplans ist deshalb notwendig, damit die unter anderen Rahmenbedingungen und po­litischen Prioritäten aus dem letzten Jahrhundert gefassten Beschlüsse nicht die Zu­kunftsfestigkeit der Verkehrsinfrastruktur in NRW nachhaltig gefährden
  • Der Landtag beschließt:

Die Landesregierung wird aufgefordert:

  • Eine Überprüfung aller im Landesstraßenbedarfsplan aufgeführten Projekte hinsicht­lich der Kriterien:
  • Auswirkungen auf die Erreichung der Klimaschutzziele und durch das Projekt zu erwartenden CO2-Emmissionen durch Verlagerung oder Anziehung von Verkeh­ren
  • Auswirkungen der Versiegelung von landwirtschaftlich genutzten oder anderer in Anspruch genommener Flächen durch die Neu- und Ausbauprojekte unter be­sonderer Berücksichtigung von Versickerung bei Starkregenereignissen sowie CO2-Minderung durch Bäume und anderen Pflanzenbewuchs
  • Tatsächliche verkehrliche Notwendigkeit unter Einbeziehung vorhandener oder zukünftiger alternativer Verkehrsinfrastruktur
  • aktuelle politische Beschlusslagen vor Ort für oder gegen die geplanten Projekte
  • ein Moratorium für alle noch in Planung befindlichen oder noch nicht mit der Planung begonnenen Projekte des Landesstraßenbedarfsplan einzulegen, bis die Überprü­fung abgeschlossen ist
  • gegenüber der Bundesregierung einzufordern, insbesondere bei den Projekten des Bundesverkehrswegeplans 2030, die NRW betreffen, ebenso zu verfahren
  • dem Landtag die Ergebnisse der Überprüfung und ggfs. Neubewertung der Projekte des Landesstraßenbedarfsplans zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen
  • dem Landtag die Ergebnisse und ggfs. Neubewertung der Projekte des Bundes im BVWP 2030 zur Beratung vorzulegen und dem Bund gegenüber als Ergebnis der Beratung entsprechende Stellungnahmen abzugeben
  • die im Haushaltseinzelplan des Verkehrsministeriums zukünftig eingestellten Mittel so zu gestalten, dass die Absicht, eine Gleichwertigkeit der Verkehrsträger unterei­nander herzustellen, auch finanziell abgebildet wird. Dazu sollen Defizite der bisher deutlich vernachlässigten und unterfinanzierten Infrastruktur wie Schiene, ÖPNV, Radverkehr und Nahmobilität kurz- und mittelfristig ausgeglichen werden mit dem Ziel, diese an die Netzdichte und Angebotspolitik der derzeit vorhandenen Straßeninf­rastruktur langfristig anzugleichen.