Übergang beeinträchtigter junger Menschen ins Erwerbsleben nicht gefährden – sonderpädagogische Förderung an Berufskollegs bedarfsgerecht gestalten

Antrag der Fraktion der SPD der Fraktion der CDU und der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen

I. Der Landtag stellt fest:

Für junge Menschen, die in ihrem bisherigen schulischen Bildungsverlauf auf besondere Unterstützung angewiesen waren, ist es wichtig, dass in ihren Bildungsbiografien bei Übergängen keine Brüche entstehen. Ziel muss  es deshalb  sein, dass bei notwendigen Fördermaßnahmen – im berufsbildenden Bereich gegebenenfalls auch mit neuer Zielperspektive – Kontinuität ermöglicht wird. Diese Unterstützung wird multiprofessionell entwickelt  und trägt den unterschiedlichen Perspektiven Rechnung.
Um den Inklusionsprozess gerade im berufsbildenden Bereich weiter zu entwickeln, müssen die vorhandenen Bildungsakteure und ihre Kompetenzen stärker vernetzt werden. 
In einem solchen Netzwerkprozess nehmen die Förderberufskollegs ebenso wie die Berufsbildungswerke eine wichtige Rolle ein. Das gilt besonders  im Zusammenwirken mit der Arbeitsagentur. Über den Reha-Dienst der Arbeitsagentur eröffnet sich so für junge Menschen, in einer außerbetrieblichen Ausbildung in einem Berufsbildungswerk oftmals eine letzte Möglichkeit, um Lebens- und  Berufsperspektiven zu gewinnen. Oft haben diese jungen Menschen eine  lange Karriere des Scheiterns erlebt und benötigen nun einen besonders geschützten Raum, um sich entfalten zu können. 
Förderberufskollegs arbeiten in großem Umfang schon mit multiprofessionellen Teams. Neben Fachlehrkräften und Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen ist besonders stark  auch die Expertise aus Sozialpädagogik und Sozialarbeit in den Kollegien vertreten.
Aus den Erfahrungen der Förderberufskollegs erwachsen wichtige Impulse für den Inklusionsprozess in der beruflichen Bildung.
Einige Träger von Förderberufskollegs errichten oder kooperieren mittlerweile mit allgemeinen Berufskollegs und führen sie gemeinsam mit dem Förderberufskolleg als Bündelschule. Auf diese Weise   öffnen sie sich für einen erweiterten Kreis von Schülerinnen und Schülern. Das ermöglicht zum einen Kooperationen des Förder-BK-Angebots mit dem Angebot an allgemeinen Berufskollegs, zum anderen auch den Zugang für nicht mehr schulpflichtige junge Erwachsene. Diese können  parallel zu ihrer außerbetrieblichen Ausbildung, z.B. im Berufsbildungswerk Bildungsgänge eines allgemeinen Berufskollegs besuchen.
Übergänge im Bildungssystem sind  oftmals mit  Schwierigkeiten  für die jungen Menschen verbunden. Deshalb sollte das schulische Wissen so gesichert sein, dass ein Start in die nächste Ausbildungsphase oder an weiterführende schulische Ausbildung möglich ist.
Dazu muss es gemeinsames Ziel aller Akteure sein, jungen Menschen, die Hilfe suchen und sie annehmen möchten, jede notwendige Unterstützung zukommen zu lassen, um  Brüche in den Bildungsbiografien zu überwinden, neuen Anschluss an Bildungsprozesse zu finden und den Schritt ins Arbeitsleben zu ermöglichen.
Für den schulischen Alltag in Nordrhein-Westfalen sind damit insbesondere für den Bereich der sonderpädagogischen Förderung im berufsbildenden Bereich einige Herausforderungen verbunden und Klärungen erforderlich. Sie ergeben sich u.a.  aus den Anforderungen des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes („Erstes Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen“), das seine Wirkung auf die Berufskollegs zum 1. August 2016 entfaltet.
Nicht für alle Schülerinnen und Schüler, denen im Verlauf der Vollzeitschulpflicht ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung attestiert wurde, wird dieser Unterstützungsbedarf in den berufsbildenden Schulen weiterhin zuerkannt. Während die Fortsetzung sonderpädagogischer Unterstützung für junge Menschen mit geistiger Behinderung, mit Sinnesschädigungen oder mit körperlichen Behinderungen in Berufskollegs oder der Berufspraxisstufe der Förderschulen zumeist außer Frage steht, ist dies bei Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen sowie Emotionale und soziale Entwicklung aus verschiedenen Gründen oftmals nicht der Fall.
Aus Sicht der von der Landesregierung beauftragten Gutachter zum Themenfeld „Inklusion an Berufskollegs“ ist eine diagnostisch präzise Abgrenzung von jungen Leuten mit dem Förderschwerpunkt Lernen und jenen, die auch ohne diese Zuschreibung wenig erfolgreiche Bildungsbiografien durchlaufen haben, kaum möglich. Um Berufskollegs weiter zu unterstützen, stellt sich nicht nur die Frage, an welcher Stelle sonderpädagogische Förderung, sondern wo vor allem auch in welchem Umfang zusätzliche sozialpädagogische Unterstützung sinnvoll ist.
(Klaus Klemm: „Junge Erwachsene mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Berufskollegs des Landes Nordrhein-Westfalen – Bildungsstatistische Analysen und Empfehlungen“; „H.-Hugo Kremer/Marie-Ann Kückmann/Peter F. E. Sloane/Andrea Zoyke:„Voraussetzungen und Möglichkeiten der Gestaltung gemeinsamen Lernens für Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lern- und Entwicklungsstörungen“; Erhard Fischer: „Gestaltung inklusiver Unterrichts-settings an allgemeinen Berufskollegs mit Fokus auf die Zielgruppe Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung“)
Für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung ist in den allgemeinen Berufskollegs keine spezielle Schüler-/Lehrer-Relation vorgesehen. Besondere personelle Rahmenbedingungen finden sie jedoch  in Bildungsgängen allgemeiner Berufskollegs und Förderberufskollegs, wenn sie eine duale Ausbildung als Fachpraktiker  absolvieren, für die bereits eine verbesserte Schüler-/Lehrer-Relation existiert.  Dieser Weg erfolgt oft über Ausbildungsverträge, die im Rahmen eines Berufsbildungswerkes abgeschlossen werden.
In unserem dualen Ausbildungssystem hängt der Erwerb eines Berufsabschlusses vom berufsschulischen Ausbildungserfolg ebenso ab wie von einer erfolgreich absolvierten praktischen Ausbildung.
Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine betriebliche oder um eine außerbetriebliche Ausbildung für Menschen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf handelt.
Die doppelten Entscheidungsverfahren, einerseits nach Sozialrecht – bedingt durch Ansprüche aufgrund einer bestehenden Behinderung , andererseits nach Schulrecht – bedingt  durch Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung, führen häufig dazu, dass jungen Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf Wege in den allgemeinen Arbeitsmarkt und damit in ein selbständiges, selbstbestimmtes Leben zusätzlich erschwert oder sogar verwehrt werden.
Deshalb ist eine bessere Kooperation der Systeme erforderlich, um sowohl mehrfache Gutachten zu vermeiden als auch dem notwendigen Unterstützungsbedarf möglichst früh gerecht werden zu können. Die Expertise, die die Förderberufskollegs einbringen, sollte auch bei der Weiterentwicklung der Inklusion im beruflichen Bereich zum Tragen kommen.
Finanzmittel aus den Bereichen Schule, Arbeitsagentur und SGB  sollten zusammengeführt werden, um sowohl Doppelförderungen zu vermeiden als auch einen  effizienteren Einsatz sicherzustellen und dem jungem Menschen tatsächlich helfen zu können
Ein Unterstützungsbedarf muss nicht zwangsläufig an einem AO-SF-Verfahren festgemacht werden. Berufskollegs brauchen für den Unterricht multiprofessionelle Teams, um die verschiedenen Unterstützungsbedarfe ihrer Schülerinnen und Schüler abdecken zu können.

II. Vor diesem Hintergrund bekräftigt der Landtag:

1. Auch im Bereich der beruflichen Bildung haben Schülerinnen und Schüler mit Förderschwerpunkten außerhalb der  Lern- und Entwicklungsstörungen einen Anspruch auf Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs und gegebenenfalls auf sonderpädagogische Förderung. Die Feststellung geschieht grundsätzlich auf Antrag. Antragsberechtigt sind die Schülerinnen und Schüler, bzw. bei Minderjährigkeit die gesetzlichen Vertreter.
2. Auch für Schülerinnen und Schüler, die im Verlauf der Vollzeitschulpflicht einen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung sowie im Förderschwerpunkt Lernen hatten und in letzterem keinen allgemeinen Schulabschluss erwerben konnten, sind im berufsbildenden Bereich oftmals besondere personelle Unterstützungen notwendig, um ihre Möglichkeiten auf Teilhabe an Beruf- und Arbeitswelt zu verbessern. Allerdings unterscheidet sich diese Gruppe oftmals kaum von anderen Schülerinnen und Schülern mit bisher wenig erfolgreichen Bildungskarrieren. Zudem muss die erforderliche zusätzliche personelle Unterstützung nicht unbedingt durch Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung erfolgen, sondern kann zielgerichtet durch andere Personen eines  multiprofessionellen Teams erfolgen. In der Konsequenz des sogenannten Baethge –Gutachtens „Zu Situation und Perspektiven der Ausbildungsvorbereitung von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf“ wurden u.a. die Ausbildungsvorbereitung in den Berufskollegs gestärkt und in der Folge 200 Stellen für multiprofessionelle Teams an den Berufskollegs zur Verfügung gestellt. Davon profitieren auch besonders die Schülerinnen und Schüler, bei denen sich in ihrer bisherigen Lernbiografie Unterstützungsbedarf aufgrund Lern- und Entwicklungsstörungen gezeigt hat.
3. Bewilligt die Arbeitsagentur einen Antrag auf Förderung einer Reha-Maßnahme zur Berufsorientierung oder einer außerbetrieblichen Reha-Ausbildung in einem Berufsbildungswerk, so muss sichergestellt werden, dass die schulische Förderung der Betroffenen entweder in einem Förderberufskolleg oder an einem allgemeinen  Berufskolleg – gegebenenfalls geführt in der Form einer Bündelschule (§ 105 Abs. 4 SchulG) – erfolgen kann. Hierzu sind die rechtlichen Grundlagen zu prüfen und gegebenenfalls zu präzisieren.
4. Junge Menschen mit Geistiger Behinderung haben nach den geltenden schulrechtlichen Bestimmungen ein Schulbesuchsrecht bis zum Ablauf des Schuljahres, in dem sie das 25. Lebensjahr vollenden, das sich allerdings nur auf die Berufspraxisstufe der Förderschule bezieht. Mit Blick auf den Inklusionsprozess ist sicherzustellen, dass dieses Recht künftig auch in (einigen) allgemeinen Berufskollegs realisiert werden kann, die sich der beruflichen Bildung von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung widmen.
5. Die Förderberufskollegs für junge Menschen mit Sinnesschädigungen oder körperlichen Behinderungen in NRW weisen eine hohe Akzeptanz und eine hohe Fachlichkeit auf. Mit Blick auf den Inklusionsprozess und die regionale Verteilung  ist sicherzustellen, dass eine berufliche Ausbildung dieser jungen Menschen in zunehmendem Maße auch in (einigen) allgemeinen Berufskollegs erfolgen kann.

III. Der Landtag fordert  die Landesregierung auf

vor dem Inkrafttreten der Ansprüche aus dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz für den berufsbildenden Bereich –auf Grundlage der vorliegenden Gutachten ein Konzept vorzulegen, wie die Unterstützungsbedarfe in den Berufskollegs sichergestellt werden können, die Schülerinnen und Schüler schon jetzt in ihrer Heterogenität abbilden.