I. Ausgangslage
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Dieses Zitat von Ludwig Wittgenstein drückt anschaulich aus, welche umfassende Bedeutung Sprache hat. Unsere deutsche Sprache ist Grundlage der Verständigung und sozialer Interaktion mit Menschen. Wir teilen uns darüber mit und treten über Sprache in Beziehung zu anderen. Sprache ist somit wesentlich für gesellschaftliche Teilhabe aber ebenso für den Erwerb von Schreibe- und Lesekompetenzen und somit letztlich grundlegend für den Lernerfolg insgesamt. Deswegen bedeutet der Spracherwerb einen wichtigen Aspekt des Entwicklungs- und Bildungsverlaufs bei Kindern.
Der Spracherwerb von Kindern ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig und sehr komplex. Wir wissen aus verschiedenen Forschungen, dass der Bildungsstand der Eltern, das Haushaltseinkommen und/oder mehrsprachiges Aufwachsen Einflussfaktoren für einen erfolgreichen Spracherwerb von Kindern innerhalb der Familie sind. Insbesondere sind jedoch bildungsförderliche Aktivitäten für die Sprachentwicklung von Kindern ausschlaggebend. So fördern das Vorlesen aus einem Buch oder sprachbezogene Spiele die Entwicklung der Sprachkompetenzen von Kindern.
Wir können zunehmend beobachten, dass Kinder deutliche Unterschiede in ihren Sprachkompetenzen aufweisen. Immer mehr Kinder zeigen Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache bis hin zu einer Sprachentwicklungsstörung auf. Häufig treten diese gepaart mit anderen Entwicklungsstörungen auf, beispielsweise mit Verhaltensauffälligkeiten, was die Chancen auf Lernerfolg zusätzlich minimiert. Zu berücksichtigen gilt es, dass neben erworbenen Sprachentwicklungsstörungen auch medizinisch oder genetisch bedingte Sprachentwicklungsstörungen auftreten können. Die Barmer gab an, dass im Jahr 2022 bei 13,6 Prozent aller Kinder bis 14 Jahren eine Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert worden sei, 2012 waren es noch 10,6 Prozent.
Einrichtungen der frühkindlichen Bildung stellen in diesem Zusammenhang wichtige Bildungsorte dar, um die Sprachkompetenzen der Kinder zu fördern und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungsbiografie und Chancengerechtigkeit zu schaffen. Besonders wichtig ist es, die Sprachentwicklung in der frühkindlichen Bildung aufzugreifen, da die verschiedenen Stufen der Sprachentwicklung in der Regel bis zum fünften Lebensjahr, also vor
dem Eintritt in die Grundschule, abgeschlossen sind. So ist die sprachliche Bildung und deren Förderung ein wesentlicher Teil der frühkindlichen Bildung und stellt einen Aspekt der pädagogischen Konzeption von Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege dar. Dabei wird die sprachliche Bildung alltagsintegriert umgesetzt: beim Vorlesen, Singen, Spielen und beim Unterhalten.
Aufgrund der besonderen Bedeutung von Sprachförderung war es seitens des Bundes nicht hilfreich, die Förderung der vielgelobten Sprach-Kitas aufzugeben. Nordrhein-Westfalen ist für den Bund eingesprungen und stellt im Jahr 38 Millionen für die Fortführung des Programms zur Verfügung. Sprach-Kitas werden zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil von Kindern mit sprachlichem Förderbedarf besucht. Inhaltliche Schwerpunkte sind die alltagsintegrierte sprachliche Bildung, inklusive Pädagogik und die Zusammenarbeit mit den Familien.
In der tagtäglichen Praxis wird die alltagsintegrierte Sprachförderung sowie die Sprachentwicklung der Kinder durch die Beobachtung und Dokumentation der Fachkräfte mittels Beobachtungsbögen flankiert. Dies stellt einen wichtigen Qualitätsaspekt in den Kindertageseinrichtungen dar. Gleichzeitig sind in der aktuellen Situation Ressourcen im System der Kindertagesbetreuung zu bündeln und zielgerichtet einzusetzen.
Das Modell der alltagsintegrierten Sprachbildung in den Kitas zu etablieren, war ein Meilenstein für die Sprachförderung im Kontext der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen. Erklärtes Ziel der Landesregierung ist es, sprachliche Bildung möglichst früh zu beginnen und alle Kinder von Beginn an zu erreichen. Sprachbildung und die Beobachtung und Dokumentation der Sprachentwicklung soll integriert im pädagogischen Alltag stattfinden. Nach § 36 Schulgesetz NRW erfolgt zwei Jahre vor der Einschulung bei Kindern, die keine Kindertageseinrichtung besuchen, eine Sprachstandsfeststellung mit Delfin-4. Dies gilt auch für Kinder in Kindertageseinrichtungen, deren Eltern der Entwicklungs- und Bildungsdokumentation nach § 18 Kinderbildungsgesetz nicht zugestimmt haben.
Die Rückmeldung aus der Praxis zeigt jedoch, dass der allgemeine Dokumentationsaufwand in Kindertageseinrichtungen hoch und insgesamt zeitaufwendig ist, sodass die Zeit für die tatsächliche pädagogische Arbeit begrenzt wird. Um hierfür Abhilfe zu schaffen und Kitas bei der Dokumentation und der Beobachtung zu entlasten, wurde die Fliedner Fachhochschule Düsseldorf unter Leitung von Frau Prof. Dr. Sonja Damen mit dem Forschungsprojekt „BeDo-NRW – Beobachtung und Dokumentation in Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen“ beauftragt, um einen Orientierungsleitfaden für das Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren für die Praxis zu entwickeln. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt gilt es nun umzusetzen und in die Breite zu tragen.
Die eingesetzten Beobachtungsverfahren sind grundsätzlich auf ihre Effizienz hin zu überprüfen. Im Sinne einer guten Vergleichbarkeit sollte eine Vereinheitlichung anvisiert werden. Diese würde in vielen Fällen pädagogischen Fachkräften den Wechsel in eine andere Einrichtung vereinfachen. Dabei sollte nicht allein die Bildungs- und Entwicklungsdokumentation in den Blick genommen werden, sondern auch beispielsweise die Anfertigung von Wickelprotokollen. Der Dokumentationsaufwand hat inzwischen einen Umfang erreicht, dass die Landesjugendämter eine Arbeitshilfe über 40 Seiten veröffentlicht haben. Um pädagogische Fachkräfte nicht unnötig in Dokumentationen zu binden, ist eine Entlastung zu prüfen. Insbesondere sollten Berichtspflichten für Kinder ohne besonderen Förderbedarf reduziert werden.
Zusätzlich braucht es Netzwerke, die gerade Familien, deren Familiensprache nicht Deutsch ist, beim Erwerb der deutschen Sprache für sich und ihre Kinder unterstützen und begleiten. Dabei sind die Kommunalen Integrationszentren bereits seit 2012 wichtige Anlaufstellen, um flächendeckend zielgruppenspezifische Angebote vor Ort zu schaffen. Mit den Programmen griffbereitMINI, Griffbereit und Rucksack KiTa fördert das Land die Sprachbildung unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr. Eine Zielsetzung muss der Abbau struktureller Benachteiligungen und größtmögliche Bildungspartizipation sein.
Eine zielgerichtete Förderung der deutschen Sprache ist der Schlüssel für Teilhabe und Voraussetzung für eine gelungene Bildungsbiografie. Die Zukunftskoalition von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN legt in finanziell schwierigen Zeiten einen Schwerpunkt auf Kinder und Bildung und setzt sich dafür ein, dass Kindertageseinrichtungen Orte der frühkindlichen Bildung sind, wo die Grundlagen der Chancengerechtigkeit gelegt werden.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest,
- der Erwerb der deutschen Sprache ist einer der zentralsten Schlüssel für Teilhabe von Kindern in unserer Gesellschaft.
- Kinder zeigen deutliche Unterschiede in ihrem Spracherwerb und ihren Sprachkompetenzen auf, die sich auf die weitere Bildungsbiografie und somit die Chancengerechtigkeit auswirken.
- dass die sprachliche Bildung in den Einrichtungen der frühkindlichen Bildung Kinder in ihren Sprachkompetenzen fördert und eine wesentliche Unterstützungsstruktur für Kinder mit Schwierigkeiten im Spracherwerb ist.
- dass Mehrsprachigkeit eine wertvolle Ressource für Kinder darstellt und in Nordrhein-Westfalen Anerkennung findet.
- dass die Bildungs- und Dokumentationsarbeit der Fachkräfte in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen ein herauszuhebendes Qualitätsmerkmal darstellt und eine wichtige Ressource für den Übergang von der Kindertagesbetreuung in die Grundschule ist.
- Sprach-Kitas sind ein Beitrag zur frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen, von dem vor allem Kinder profitieren, deren Eltern selbst keine oder eingeschränkte Deutschkenntnisse haben.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung aus vorhandenen Mitteln,
- die Dokumentation und Beobachtung in den Kindertageseinrichtungen anhand der Erkenntnisse des Forschungsprojekts „BeDo-NRW – Beobachtung und Dokumentation in Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen“ zu professionalisieren und zu verschlanken.
- zu prüfen, welche Beobachtungsverfahren zukünftig im System der Kindertagesbetreuung Anwendung finden sollen. Im Sinne der Vergleichbarkeit ist eine Vereinheitlichung anzustreben.
- zu prüfen, wie Dokumentationspflichten reduziert werden und bei Kindern ohne besonderen Förderbedarf entfallen können.
- das Thema alltagsintegrierte Sprachbildung in den Fokus zu nehmen und einen Expertenaustausch zu ermöglichen.
- eine Entlastung der pädagogischen Fachkräfte weiter zu forcieren, indem Dokumentationspflichten insgesamt reduziert und möglichst standardisiert werden.
- die Schnittstelle zwischen Kindertagesbetreuung und Grundschule zu optimieren und dafür in einem ersten Handlungsschritt für eine Verwendung der Bildungsdokumentationen im System Schule zu werben.
- kommunale Sprachbildungsnetzwerke aufzubauen und dafür eine Angebots-, Bedarfs-und Zielgruppenanalyse durchzuführen. Die Kommunalen Integrationszentren sind hier eine wichtige erste Anlaufstelle.
- Die Nutzung von praxisorientierten Fortbildungen zu den Themen durchgängige Sprachbildung und Mehrsprachigkeit vor Ort bedarfsgerecht zu heben.
- bestehende Sprachförderprogramme auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.
- diese Evaluationsergebnisse zu nutzen, um Kinder deren Muttersprache nicht Deutsch ist niedrigschwellig in der deutschen Sprache zu fördern, indem bereits bestehende Sprachförderprogramme wie griffbereitMINI, Griffbereit, Rucksack KiTa, die bestehende Delfin 4 Förderung und weitere Angebote ausgebaut und weiterentwickelt werden.