Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf in NRW weiter ausbauen

Antrag der Frakton von Bündnis 90/DIE GRÜNEN

Mehrdad Mostofizadeh

I.  Ausgangslage:
In Nordrhein-Westfalen sind rund 640.000 Menschen pflegebedürftig. Die Prognose für 2060 geht bei einer herkömmlichen Fortschreibung von 920.500 pflegebedürftigen Personen aus, bei der sogenannten Trendvariante, die auch gesundheitsfördernde Einflüsse in die Berechnung mit einbezieht, von über 763.000 Personen. Darüber hinaus benötigen mehr als 320.000 Personen aufgrund von Demenzerkrankungen Hilfe und alltägliche Begleitung. Prognosen zur Folge wird die Zahl bis zum Jahr 2030 auf 450.000 steigen. Aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung und der demografischen Entwicklung können diese Zahlen noch weiter steigen.
Dies stellt Herausforderungen an den Ausbau unserer Infrastruktur an Pflege, Unterstützung, Versorgung und Teilhabe. Dabei zeigen Umfragen, dass der Großteil der Menschen im Alter und bei Pflege nach Alternativen zu den traditionellen Heimeinrichtungen sucht. In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind bereits eine Reihe von Wohn- und Pflegeformen im ambulanten Bereich entstanden. In vielen Kommunen haben Träger und Investoren beim Ausbau der Pflegeinfrastruktur allerdings weiterhin vorrangig auf traditionelle Großeinrichtungen gesetzt. Deshalb fehlt es insbesondere für Menschen mit einem umfassenden Pflegebedarf vielerorts an Angeboten außerhalb der klassischen stationären Großeinrichtung. Deshalb ist es auch Ziel des Alten- und Pflegegesetzes, diese nicht mehr hinnehmbare Situation zu beseitigen, um den Menschen eine echte Wahlmöglichkeit darüber zu geben, wie sie wohnen, leben und gepflegt werden möchten.

Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen

Das Land hatte mit dem neuen Alten- und Pflegegesetz Nordrhein-Westfalen (APG NRW), das am 16.10.2014 nach einstimmiger Verabschiedung durch den Landtag in Kraft getreten ist, den rechtlichen Rahmen für den notwendigen Wandel bei der Pflegeinfrastruktur gesetzt.
Dabei sollen „Ausgangspunkt für Planungen und die Gestaltung der Angebote die Bedarfe älterer Menschen, pflegebedürftiger Menschen und deren Angehöriger [sein]. Dabei sind die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Männern durchgängig zu berücksichtigen. Die Angebote sollen orts- beziehungsweise stadtteilbezogen vorgehalten und weiterentwickelt werden und den älteren oder pflegebedürftigen Menschen weitestgehend ermöglichen, an dem Ort ihrer Wahl wohnen zu können; die besonderen Bedarfe des ländlichen Raums sind zu berücksichtigen. Dabei sind alle Wohn- und Pflegeangebote vorrangig einzubeziehen, die eine Alternative zu einer vollständigen stationären Versorgung darstellen.“ (APG NRW § 2). Das hierin zum Ausdruck gebrachte Prinzip „ambulant vor stationär“ ist bereits bei der Pflegeversicherung in § 43 Abs. 1 SGB XI gesetzlich normiert. Allerdings fehlte es bislang vielerorts am Auf- bzw. Ausbau der entsprechenden Angebote.
Auch deshalb wurde den Kommunen mit dem neuen APG auch die gesetzliche Möglichkeit eingeräumt, mit einer entsprechenden Pflegebedarfsplanung die Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Pflegeinfrastruktur vor Ort zu steuern und ggf. auch einer Errichtung weiterer Großeinrichtungen entgegenwirken zu können. Mittlerweile haben 18 Kreise und kreisfreie Städte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Gleichzeitig ist mit dem „Landesförderplan Pflege und Alter“ und weiteren Förderprogrammen der Ausbau neuer Wohnformen und Pflegekonzepte vorangebracht worden.

Verlässliche und menschenwürdige Pflege im selbstgewählten Wohnumfeld sichern

Mit dem „Masterplan altengerechte Quartiere“ wurde ein Handlungsplan aufgelegt, in dem die bereits gemachten Erfahrungen gebündelt, Wissenstransfer unterstützt, Beratung und Hilfen angeboten oder vermittelt werden. Damit konnten wichtige Impulse gesetzt werden für die partizipative Entwicklung altengerechter Quartiere – sowohl in urbanen städtischen wie auch in ländlichen Gebieten.
Mit Unterstützung des Landes ist in NRW in den vergangenen Jahren ein breites Beratungsangebot entstanden, das bundesweit einzigartig ist. So unterstützen mittlerweile dreizehn Demenz-Servicezentren den Aufbau wohnortnaher Netzwerke zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Demenz und ihrer Familien. Eines der Servicezentren richtet sich insbesondere an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.
Mit dem Landesbüro für altengerechte Quartiere und den beiden Landesbüros für innovative Wohnformen besteht in NRW eine wichtige Beratungs- und Entwicklungsinfrastruktur zur Schaffung von altengerechten Quartieren wie auch innovativen Wohn- und Pflegeformen vor Ort. Schließlich ist in den letzten beiden Jahrzehnten mit einer Vielzahl an unabhängig beratenden Wohn- und Pflegeberatungsstellen eine bundesweit einzigartige Infrastruktur an Wohnberatungsstellen für ältere Menschen, Pflegebedürftige und deren Angehörige entstanden.
Hierauf gilt es aufzubauen und dafür Sorge zu tragen, dass auch die geburtenstarken Jahrgänge, die in naher Zukunft pflegebedürftig werden, die passenden Rahmenbedingungen für eine quartiersnahe, selbstbestimmte und qualitativ möglichst hochwertige Pflege vorfinden.
Die Vielzahl an unterschiedlichen Lebens- und Bedarfssituationen erfordert mehr denn je neue, auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtete Wohn- und Pflegeangebote. Deshalb gilt es den beschrittenen Weg des Landes weiterzugehen und die Pflegelandschaft mit den dazu gehörigen kommunalen Strukturen so zu gestalten, dass sie den Anforderungen des demografischen Wandels gerecht werden.

Ausbau einer wohnortnahen Wohn- und Pflegeinfrastruktur ist notwendig

Jeder Mensch, der einen entsprechenden Bedarf hat, muss die umfassende Pflege und Unterstützung erhalten, die es ihm erlauben, möglichst selbstständig und selbstbestimmt zu leben, ganz egal ob er in seiner gewohnten Wohnung, dem Betreuten Wohnen, einer PflegeWohngemeinschaft oder einer stationären Pflegeeinrichtung leben will.
Wohnungen und das Wohnumfeld sollten so gestaltet sein, dass Menschen unabhängig von ihrem Alter oder ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit möglichst selbstständig und unabhängig in ihrer gewohnten oder gewünschten Umgebung leben können. Dabei sollten die unterschiedlichen kulturellen, religiösen, sexuellen oder geschlechtsspezifischen Identitäten der Menschen Berücksichtigung in die Gestaltung der sozialen Infrastruktur und Pflegekonzepte vor Ort finden. Wichtig sind ein Pflege- und Hilfemix aus professioneller Pflege und Unterstützung, sozialen Netzwerken und Nachbarschaften im Quartier.
Um diese Standards zu ermöglichen, sind u.a. Treffpunkte wie Quartierstützpunkte oder Nachbarschaftszentren zu schaffen, die auch „rund-um-die-Uhr“ eine Pflege und Unterstützung bieten. Auch die teilstationären Angebote der Tages- und Nachtpflege werden – nicht zuletzt aufgrund der deutlich verbesserten Förderung im SGB XI-Bereich – zunehmend ein Teil einer Alternative zur vollstationären Versorgung sein.
Notwendig ist der weitere Ausbau überschaubarer Wohn- und Pflegeformen im Quartier, in denen Pflege und Betreuung auch unabhängig vom Einsatz Angehöriger in einer häuslichen Wohnumgebung stattfinden kann. Um das zu erreichen, gilt es weiterhin Angebote für ein selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit umfassendem Pflege- und Unterstützungsbedarf zu fördern. Dazu gehören Hausgemeinschaften, Pflegewohngruppen und Wohngemeinschaften genauso wie Mehrgenerationenwohnen oder „Wohnen mit Versorgungssicherheit“ in der eigenen Wohnung.

Bestehende Einrichtungen gemeinsam zeitgemäß weiterentwickeln

Auch wenn in Zukunft ambulante Wohn- und Pflegeformen eine immer größere Rolle spielen, insbesondere weil sie von den Menschen zunehmend eingefordert werden, stellen derzeit nach wie vor auch viele stationäre Einrichtungen ein noch unverzichtbares Angebot für die Sicherung einer umfassenden Pflege vor Ort dar. Diese Einrichtungen gilt es dabei weiter zu unterstützen, sich zu modernisieren und ein selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen und dies mit einer umfassenden Pflege zu verbinden. Hierzu gehört auch sich als Einrichtung und Haus zum Quartier hin zu öffnen und zu vernetzen, sei es als Begegnungszentrum für die Bewohner*innen und Initiativen im Stadtteil oder als sozialer Dienstleister gemeinsam mit an- deren Trägern und Vereinen im Quartier.
Die rot-grüne Vorgängerregierung hatte mit einer deutlichen Verbesserung bei Refinanzierung der Modernisierungskosten und auch mit der Förderung einer zeitgemäßen Umgestaltung der Einrichtungen bereits einen wichtigen Beitrag geleistet, um den Modernisierungsstau aufzulösen und Heime auch zu Orten des Wohnens im Quartier weiterzuentwickeln.

II.  Der Landtag stellt fest:

  • In der vergangenen Wahlperiode ist von der Vorgängerregierung mit dem GEPA NRW, dem Masterplan altersgerechte Quartiere sowie einer umfassenden Infrastruktur an Beratungsleistungen eine weitreichenden Unterstützung vor Ort aufgebaut worden, mit der ein Lebensumfeld entstehen kann, in dem die Bewohner*innen eine passgenaue Versorgungssicherheit erfahren und selbstbestimmt leben können.
  • Mit dem gesetzlichen Rahmen des GEPA NRW wird ein Paradigmenwechsel gefördert weg von traditionellen Großeinrichtungen im alten Stil hin zu ambulanten Wohn- und Versorgungsarrangements in den Wohnquartieren, die auch eine umfassende Pflege bieten. Der Blick richtet sich damit auf eine umfassende Versorgungssicherheit im gewohnten Umfeld bzw. an dem Ort, wo die Menschen leben und wohnen wollen. Das Gesetz bietet dabei auch eine Grundlage zur Stärkung der Selbstbestimmung und Teilhabe der Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf sowie deren Angehörigen. Die auch in diesem Rahmen aufgegriffenen klaren Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention hinsichtlich des Anspruchs auf Selbstbestimmung gilt es bei der Pflegebedarfsplanung besonders zu berücksichtigen.
  • Mit dem Landesförderplan Alter und Pflege NRW ist zudem eine verlässliche und transparente Fördergrundlage für die einzelnen Projekte hierzu entstanden. Mit dem Förderplan wurden bislang jährlich etwa 16 Mio. Euro für die Weiterentwicklung der alten- und pflegegerechten Infrastruktur vor Ort insbesondere in den Quartieren bereitgestellt. Hierzu gehört auch die Förderung von Quartiersentwickler*innen in den Kommunen und Kreisen.
  • Das Landesbüro altengerechte Quartiere.NRW berät und vernetzt Initiativen, Kommunen, Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen bei der Entwicklung von alternativen Konzepten, innovativen Projekten und nachhaltig demografiefesten Strukturen für altengerechte Quartiere in ganz NRW.
  • Zudem hat das Landesbüro innovative Wohnformen.NRW maßgeblich dazu beigetragen, Modelle des nachbarschaftlichen und gemeinschaftlichen Wohnens sowie die Möglichkeiten selbstbestimmter Wohn-Pflege-Gemeinschaften bekannter zu machen und Impulse für die Planung, Umsetzung und Weiterentwicklung solcher innovativer Wohnformen zu setzen.
  • Darüber hinaus ist seit vielen Jahren in Nordrhein-Westfalen eine bundesweit einzigartige Infrastruktur an Wohnberatungsstellen für ältere Menschen, Pflegebedürftige und deren Angehörige entstanden. Deren Arbeit fachlich zu begleiten und zu unterstützen ist für eine qualitative Weiterentwicklung unerlässlich. Die LAG Wohnberatung hat mit der Koordination Wohnberatung NRW hier eine wichtig Arbeit geleistet.

III.  Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. weiterhin einen umfassenden Ausbau von Alternativen für ein selbstbestimmtes Wohnen mit intensiver Pflege und Unterstützung zu befördern.
  2. den bereits im SGB XI normierten Vorrang ambulant vor stationär bei der Zielsetzung des APG NRW nicht anzutasten und durch einen Ausbau von umfassenden Versorgungsangeboten im ambulanten Setting den Menschen eine Wahlmöglichkeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen zu geben.
  3. das bestehende Beratungsangebot weiterhin zu sichern und auszubauen. Daher sind u.a. das Landesbüro altengerechte Quartiere.NRW, die Landesbüros für innovative Wohnformen sowie die Koordinierungsstelle zur Wohnberatung weiterhin zu fördern. 
  4. die Förderung von individuellen Wohn- und Pflegeformen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf im ambulanten Setting weiter auszubauen.
  5. den Ausbau von barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungen weiter voranzutreiben und die gesetzlichen Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen bzw. zu sichern.