Rechte der Studierenden schützen und Rechtssicherheit wahren: Keine Ausweitung der Anwesenheitspflicht an Hochschulen

Antrag der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN

I.  Ausgangslage:

Mit Urteil vom 21. November hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eine Regelung zur Anwesenheitspflicht an der Universität Mannheim für unwirksam erklärt (Aktenzeichen: 9 S 1145/16). Im beklagten Fall handelt es sich um eine Regelung in einer Prüfungsordnung zur vollständigen Anwesenheit als Studienleistung in einem Studiengang. Die Entscheidung des Gerichts ist dennoch anwendbar auf die Debatte um Anwesenheitspflichten in Nordrhein-Westfalen. Die Landesregierung beabsichtigt, den Hochschulen die Möglichkeit einzuräumen, die Anwesenheit der Studierenden in Seminaren zur Bedingung für den erfolgreichen Abschluss einer Lehrveranstaltung zu machen. Ebendies ist derzeit in Baden-Württemberg der Fall.
In der aktuellen Debatte in Nordrhein-Westfalen hatten Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsfraktionen und der Landesregierung wiederholt bezweifelt, dass Anwesenheitspflichten in die Berufsfreiheit der Studierenden eingreifen. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sieht in der Festlegung von Anwesenheitspflichten aber durchaus einen Eingriff in die Berufsfreiheit der Studierenden.
Das Gericht bemängelte des Weiteren, dass die Erfüllung der Präsenzpflicht und der hinreichenden Teilnahme an Lehrveranstaltungen als Studienleistung in das Ermessen der Lehrenden gestellt werde. Hieran wird die Forderung des Gerichts nach einer klaren und gerichtlich nachvollziehbaren Regelung deutlich. Daran wird auch deutlich, dass es einer übergeordneten Regulierung bedarf, um Studierenden und Lehrenden Rechtssicherheit zu bieten und eine einheitliche Rechtsanwendung zu garantieren. Eine entsprechend präzisiere Regelung zur Anwesenheitspflicht in der Prüfungsordnung führt zu mehr Bürokratie. Ein Vertreter der Universität Mannheim wies angesichts des Urteils auf diese Tatsache hin.
Das Gericht bedeutete auch, dass es ein Fehler sei, dass im vorliegenden Fall keine Beschränkung der Anwesenheitspflicht bestehe und nennt hier insbesondere Vorlesungen und weitere Lehrveranstaltungen, in denen es im Wesentlichen um die Vermittlung von Wissen gehe.
Studierende haben das Recht, Lehrveranstaltungen wie Seminare und Vorlesungen nicht regelmäßig besuchen zu müssen und trotzdem die Prüfung am Ende ablegen zu können. Ein Rechtsgutachten der Universität Duisburg-Essen von 2009 hatte klargemacht, dass Anwesenheitspflichten ein Eingriff in die Studierfreiheit sind und ihnen daher ein enger Rahmen gesetzt ist. Ein Erlass des damaligen Wissenschaftsministers Pinkwart von 2010 bestätigte, dass Anwesenheitspflichten in das grundgesetzlich geschützte Recht der freien Berufsausübung eingreifen, und informierte alle Hochschulen entsprechend über die Rechtslage. Es wurde jedoch anhaltende Kritik geäußert, dass Hochschulen in Nordrhein- Westfalen dies ignorierten und trotzdem die Anwesenheit der Studierenden in allen Lehrveranstaltungen kontrollierten. Bereits nach wenigen Fehlstunden würden die Studierenden mit dem Ausschluss von der Prüfung sanktioniert.
Daraufhin wurde mit Art. 1 § 64 Abs. 2a im Hochschulzukunftsgesetz von 2014 rechtlich begründet klar geregelt, in welchem Umfang und in welchen Veranstaltungen eine Anwesenheitspflicht verlangt werden kann, etwa bei Praktika oder Laborübungen, und in welchen nicht: in Seminaren und Vorlesungen. Die Regelung hatte nicht etwa die Absicht, den Hochschulen vorzuschreiben, sie dürften die Anwesenheit nicht mehr kontrollieren. Es ging darum, den Studierenden zu ihrem Recht zu verhelfen.
Wenn die aktuelle Landesregierung es den Hochschulen überlassen will, ob sie eine Anwesenheitspflicht in Seminaren einführen wollen, dann muss ihr gleichzeitig klar sein: mit der Professorenmehrheit in den entscheidenden Gremien werden bald wieder an allen Hochschulen umfassende Anwesenheitspflichten eingeführt – egal, was die Studierenden dazu sagen. Wenn das Gutachten einer Universität, der Erlass eines FDP- Wissenschaftsministers und das durch den Landtag beschlossene Gesetz einer rot-grünen Regierung mehrfach auf die rechtliche Situation hingewiesen haben, dann besteht die erhebliche Gefahr eines Rechtsbruchs, wenn die derzeitige Landesregierung den Hochschulen die Kontrolle der Anwesenheitspflicht in originären Seminaren erlauben will. Die Rechtssicherheit für Studierende und Lehrende sowie eine einheitliche Anwendung geltenden Rechts an allen Hochschulen kann nur sichergestellt werden, wenn darauf verzichtet wird, hier Änderungen am Hochschulgesetz vorzunehmen.
Aber auch das geltende Recht hat mit dem Problem zu kämpfen, dass an einigen Hochschulen noch immer Lehrende die Anwesenheit der Studierenden kontrollieren und sie – in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig – ab einer gewissen Anzahl an Fehlstunden von der Prüfung ausschließen. Daher ist es notwendig, dass die Landesregierung auf die Hochschulen zugeht und mit ihnen Maßnahmen vereinbart, und dem geltenden Recht flächendeckend Geltung verschafft wird.

II.  Der Landtag beschließt:

  1. Der Landtag fordert die Landesregierung vor diesem Hintergrund auf, davon abzusehen, das Verbot der Anwesenheitspflicht in bestimmten Lehrveranstaltungen nach § 64 Abs. 2a Hochschulgesetz abzuschaffen. Auch ist im Sinne der Rechtssicherheit und der Sicherung der landesweit einheitlichen Rechtsanwendung davon abzusehen, die Entscheidungshoheit über Anwesenheit oder Abwesenheit in Lehrveranstaltungen auf die Hochschulen zu übertragen.
  2. Der Landtag fordert die Landesregierung auf, mit den Hochschulen in einen Dialog zu treten und mit ihnen Maßnahmen zu vereinbaren, um die flächendeckende Anwendung geltenden Rechts nach § 64 Abs. 2a Hochschulgesetz sicherzustellen.