Produktionsschulen nicht im Aktionismus zerschlagen, sondern sorgfältig auswerten und passgenau weiterentwickeln – Berufliche Perspektiven für besonders benachteiligte junge Menschen bis 25 Jahren sicherstellen

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehrdad Mostofizadeh

I. Ausgangslage:

Mit der Initiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ unterstützt das Land Nordrhein-Westfalen Jugendliche beim Übergang von der Schule ins Berufsleben. Eine besondere Zielgruppe sind Jugendliche ohne ausreichende Ausbildungsreife und von Ausgrenzung bedrohte Schülerinnen und Schüler („Schulverweigerer“).
Das Förderangebot der „Produktionsschule.NRW“ wendet sich an Jugendliche, die eine allgemeinbildende Schule ohne ausreichende Betriebs- und Ausbildungsreife verlassen haben und bei denen davon auszugehen ist, dass die Regelangebote der Berufsvorbereitung nicht zum Integrationserfolg führen würden. Bei der Zielgruppe handelt es sich zumeist um Jugendliche mit mehrfachen arbeitsmarktlichen Vermittlungshemmnissen.
Produktionsschulen nehmen diese Jugendlichen auf, bereiten sie auf die Rückkehr in Regelschulen vor und/oder vermitteln ihnen außerhalb des Regelschulangebotes einen staatlichen Schulabschluss. Produktionsschulen bieten auch den nicht mehr schulpflichtigen, noch nicht ausbildungsreifen jungen Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt weder eine Berufsausbildung noch eine Beschäftigung finden oder eine Ausbildung abgebrochen haben, arbeitsmarkt- und -rechtliche Anschlussperspektiven.
Mit Blick auf die bisherigen Lebens- und Lernerfahrungen der jungen Menschen würde eine„Schule in anderem Gewand“ nicht zum Erfolg führen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen benötigen einen neuen Arbeits- und Lernort, der auch Raum für Sinnstiftung durch das Handeln bietet und konsequent auf Empowerment setzt.
Lernprozesse finden über Produktionsprozesse statt. Arbeiten und Lernen sollen als ganzheitliches Prinzip im realen Arbeitsalltag unter Einbeziehung von kognitiven, emotionalen, sozialen und haptischen Lernebenen gefördert werden. Durch berufliche und soziale Integration sollen die jungen Menschen zukunfts- und Lebensperspektive gewinnen und zu eigenverantwortlich handelnden „Persönlichkeiten“ werden. Fachliche, methodische, soziale und personale Kompetenzentwicklung gehen Hand in Hand, um Persönlichkeitsstabilisierung und –entwicklung anzuregen.
Wie zuletzt im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales angekündigt, plant Arbeitsminister Laumann die Abschaffung der Produktionsschulen und die Rückkehr zum Werkstattjahr, das er 2005 bereits eingeführt hatte. Dieses soll einen „betrieblichen Praxisanteil von bis zu sechs Monaten“ (Minister Laumann auf seiner Pressekonferenz am 22.01.2018) enthalten.

Das „Werkstattjahr“

Die von der „Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH“ (G.I.B.) 2011 veröffentlichte Evaluation des Werkstattjahres 2009/2010 zeigte, dass die geringen inhaltlichen und pädagogischen Vorgaben des Programms durch die Träger sehr unterschiedlich ausgefüllt wurden. Es wurde deutlich, dass Jugendliche bei jenen Trägern, die höhere Anteile sozialpädagogischer Angebote boten, seltener das Programm abgebrochen haben. Insgesamt ist das Fazit aber ernüchternd: Über 50 Prozent der teilnehmenden Jugendlichen beendeten das Jahr vorzeitig. Ein Drittel hat aus verhaltens- und motivationsbedingten Motiven das Werkstattjahr abgebrochen. Rund 30 Prozent wechselten in eine Ausbildung, eine berufsvorbereitende Maßnahme, ins Berufsgrundschuljahr oder eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Teil des Werkstattjahres war ein mindestens sechswöchiges Betriebspraktikum. Bei nicht praktikumsreifen Jugendlichen konnte das Praktikum entfallen. Etwa 96 Prozent der Träger gaben an, dass es Probleme mit den Jugendlichen während der Praktika gab. Bei fast der Hälfte dieser Träger betraf dies mehr als 50 Prozent der teilnehmenden Jugendlichen. Die am häufigsten genannten Probleme waren mangelndes Durchhaltevermögen, häufige Unpünktlichkeit und hohe Fehlzeiten.
Es stellt sich die Frage, ob unter diesen Umständen die von Minister Laumann geplante Ausdehnung des betrieblichen Praktikums auf bis zu sechs Monate sinnvoll und tragfähig ist. Nicht zielführend ist zudem die geplante Begrenzung des Zugangsalters auf maximal 18 Jahre und der Ausschluss von SGB-VIII-Mitteln aus dem Ko-Finanzierungsspektrum. Beides wird dazu führen, dass ein großer Teil besonders förderbedürftiger Jugendlicher (ältere SGB-II- Beziehende und speziell geflüchtete Jugendliche) ausgegrenzt werden.

Vom Werkstattjahr zur Produktionsschule

Aus den Ergebnissen der Evaluation des Werkstattjahres zog die rot-grüne Landesregierung Konsequenzen. In einem ersten Schritt wurde der sozialpädagogische Schlüssel von einer Fachkraft für 30 Jugendliche auf 1:15 geändert und die Träger wurden verpflichtet, zu Beginn des jeweiligen Jahres Komptenzchecks mit den Jugendlichen durchzuführen, um sie entsprechend individuell fördern zu können. Träger mit unterdurchschnittlichen Ergebnissen wurden ausgeschlossen.
In einem zweiten Schritt setzte sich die Landesregierung intensiv mit dem Konzept der Produktionsschulen auseinander. Hierbei wurden insbesondere die Erfahrungen anderer Bundesländer (Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Niedersachsen) ausgewertet. Auf dieser auch wissenschaftlich abgesicherten Grundlage erschien der Ansatz der Produktionsschulen, mit den Jugendlichen echte Aufträge durch echte Kunden auf dem ersten Markt zu erarbeiten, für die Zielgruppe attraktiver und auch wirksamer als das Werkstattjahr, so dass die damalige Landesregierung beschloss, 2014 das Programm
„Produktionsschule.NRW“ einzuführen und gleichzeitig die Plätze im Werkstattjahr zu reduzieren und ab 2015/16 gänzlich zu ersetzen.
„Produktionsschule.NRW“
Seit Beginn der 90er Jahre wurden deutschlandweit Produktionsschulen eingerichtet. Als Rahmen für Pädagogik, Struktur und Finanzierung hat der Bundesverband Produktionsschulen e.V. unter wissenschaftlicher Begleitung der Universität Hannover (Professor Bojanowski) Qualitätsstandards entwickelt. Die sechs Qualitätsdimensionen, die als Grundlage des Konzeptes dienen, werden in der Publikation des Verbandes „Wo Produktionsschule drauf steht, soll auch Produktionsschule drin sein“ (2015) wie folgt erläutert:

  1. „Lern- und Arbeitsort bilden in Produktionsschulen eine Einheit. Sie sind betrieblich strukturiert und entlohnen ihre jungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Produktionsschulen stellen in ihren Werkstätten marktfähige Produkte her oder bieten mit ihren Arbeitsbereichen Dienstleistungen für reale Kunden an (Kundenaufträge).
  2. Im Mittelpunkt stehen jungen Menschen (von 14 bis 27 Jahren), die auf freiwilliger Basis und mit flexiblen Ein- bzw. Ausstiegen individuell gestaltete (Aus-) Bildungs- und Qualifizierungsangebote nutzen – mit dem Ziel der Integration in Ausbildung und Beschäftigung.
  3. Die Produktionsschule ist eine pädagogisch und sozial gestaltete Gemeinschaft junger Menschen in einer förderlichen und anregenden Lern- und Arbeitsatmosphäre.
  4. Produktionsschulen sind auf Dauer angelegt und werden durch systematische Netzwerkarbeit und Kooperationen zu einem festen Bestandteil des regionalen Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialraums.
  5. An Produktionsschulen arbeitet ein multiprofessionelles Team mit Herz, welches über berufsfachliche, betriebswirtschaftliche und pädagogische Kompetenzen verfügt und in der Lage ist, den Besonderheiten des Bildungs- und Erziehungsanspruchs des Produktionsschulansatzes gerecht zu werden.
  6. Jede Produktionsschule pflegt ein Qualitätsmanagement oder Selbstevaluationssystem.“

Vor allem der erste Punkt macht deutlich, dass Jugendliche in den Produktionsschulen ausdrücklich nicht zur Schule gehen. Die Arbeitsprozesse werden betriebsmäßig organisiert und so gestaltet, dass reale Kundenaufträge vielfältige Lernanlässe schaffen, und hierdurch Praxis und Theorie direkt miteinander verbunden werden. Die Bearbeitung der Aufträge verschafft den Jugendlichen Erfolgserlebnisse und führt gleichsam „nebenbei“ wieder an Lernprozesse heran. Da Produktionsschulen nicht an Schuljahre gebunden sind und der Ein- und Ausstieg jederzeit möglich ist, werden relativ schnelle und individuelle Übergänge möglich.
In Nordrhein-Westfalen orientiert sich das Programm „Produktionsschule.NRW“ an den Qualitätsstandards des Bundesverbandes Produktionsschulen. Gefördert werden Träger, die insbesondere das Lernen in betriebsähnlichen Strukturen gewährleisten können. Zielgruppe sind Jugendliche mit „mehrfachen arbeitsmarktlichen Vermittlungshemmnissen“, von denen angenommen wird, dass sie nicht innerhalb eines Jahres eine Ausbildungsreife erlangen können und bei denen ein schulisches Berufsorientierungsjahr oder andere berufsvorbereitende Maßnahmen zum Beispiel wegen ausgeprägter Schulmüdigkeit nicht in Frage kommen, die aber Interesse an berufspraktischen Kursen erkennen lassen.
Das Programm wird vom Land durch ESF-Mittel und durch die Sozialleistungsträger im SGB II, III und VIII kofinanziert. Daraus ergibt sich, dass das Programm sich an Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahren richtet und die Freiwilligkeit der Teilnahme stärker eingeschränkt ist, als es das Konzept des Bundesverbandes vorsieht. Träger sind Bildungsträger mit Erfahrungen in der Umsetzung niedrigschwelliger Angebote der Berufsvorbereitung. Die Träger müssen einen Personalschlüssel von mindestens einer Fachkraft für 6 Jugendliche erfüllen.
In den Programmjahren 2015/16 und 2016/17 standen 2.862 beziehungsweise 2.830 Plätze zur Verfügung. 60 Prozent der Jugendlichen befanden sich im Leistungsbezug SGB II. Eine ausführliche Evaluation des Produktionsschulprogramms liegt nicht vor. Einem Ministeriumsbericht (Bericht an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Vorlage 16/4706 vom 1. Februar 2017) kann entnommen werden, dass rund 46 Prozent der Teilnehmenden des Programmjahres 2015/16 aus der Produktionsschule heraus den Übergang in die Erwerbstätigkeit, eine Ausbildung, auf eine allgemeinbildende Schule oder in eine Weiterbildung, zum Teil noch während des Programmjahres, zum Teil nach Beendigung eines Jahres in der Produktionsschule, schafften. Damit ist die Rate der positiven Abschlüsse höher als beim Werkstattjahr 2009/2010 mit knapp 30 Prozent. Ähnlich wie beim Werkstattjahr sind bei der Produktionsschule längere Fehlzeiten, Krankheit, mangelhafte Leistungen oder Überforderung Gründe für einen vorzeitigen Austritt ohne Anschlussperspektive.

II.       Der Landtag stellt fest:

Ziel der Initiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ ist es, allen Jugendlichen in Nordrhein- Westfalen eine berufliche Perspektive zu bieten. Gerade besonders benachteiligte Jugendliche brauchen hierbei intensive Unterstützung, auch über das 18. Lebensjahr hinaus. Deshalb wurde das für diese Zielgruppe gedachte Programm „Werkstattjahr“ zunächst verbessert und schließlich durch das Programm „Produktionsschule.NRW“ ersetzt. Eine Evaluation des Produktionsschul-Programms steht noch aus. Vor der überstürzten Rückkehr zu einem nur mittelmäßig erfolgreichen Programm „Werkstattjahr“, das sich zudem nur an Minderjährige richtet, sollten vorhandene Programme wie die Produktionsschule ausführlich evaluiert und entsprechend weiterentwickelt werden.

III.     Der Landtag beschließt:

Die Landesregierung wird aufgefordert,

  1. die Abwicklung des Programmes „Produktionsschule.NRW“ zurückzunehmen und eine ausführliche Evaluation des Programmes vorzulegen; die bisherigen jährlichen Haushaltsmittel sind weiterhin bereitzustellen;
  2. auf Basis der vorzulegenden Evaluation gemeinsam mit den Trägern der Produktionsschule diese weiterzuentwickeln oder ein vergleichbares Konzept produktionsorientierter Maßnahmen für besonders benachteiligte Menschen unter 25 Jahren zu erarbeiten, das nicht hinter die Qualitätsstandards der Produktionsschule zurückfällt.