Prävention vor Repression

Entschließungsantrag der GRÜNEN im Landtag zum Antrag „Jugendkriminalität weiter effektiv bekämpfen“ der Fraktionen von CDU und FDP

Portrait Josefine Paul

I.       Ausgangslage
Die Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen geht erfreulicherweise seit vielen Jahren zurück. Junge Menschen begehen zwar nach wie vor überproportional häufig Straftaten, diese Phase endet in den meisten Fällen aber auch ohne Sanktionen nach einem gewissen Zeitraum. Darüber hinaus fallen die meisten dieser Delikte in den Bereich der Bagatellkriminalität, wie z.B. Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Auch wenn die kriminalitätspolitische Debatte oft von spektakulären Einzelfällen dominiert wird, sind schwere Straftaten ausgesprochen selten, der Fokus sollte daher unbedingt auf der Prävention und Bekämpfung der gewöhnlichen leichten bis mittelschweren Jugendkriminalität liegen.
Die Gründe für das Sinken der Jugendkriminalität sind so vielfältig wie ihre Ursachen. Einen entscheidenden Beitrag haben aber neue Konzepte der Prävention und der Vernetzung geleistet: so kann in den Häusern des Jugendrechts eine bessere und schnellere Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure gewährleistet werden, die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte vor Ort sind näher an den jungen Menschen und ihrem Umfeld und auch der Ausbau individuell ausgewählter pädagogischer und psychologischer Maßnahmen zeigt Erfolge.
Erfolge werden bei der Bekämpfung von Jugendkriminalität insbesondere durch die große Bandbreite an Maßnahmen erzielt: von Prävention über Hilfen, bis Sanktionen und gut ausgebildete Menschen an den verschiedenen Stellen, die gemeinsam die richtigen Maßnahmen auswählen.
Eine große Herausforderung beim Thema Jugendkriminalität liegt darin, dass man keine pauschalen Antworten geben kann. Sowohl die Delikte als auch die dahinterstehenden Ursachen oder das soziale und familiäre Umfeld sind von Fall zu Fall sehr unterschiedlich und erfordern ganz unterschiedliche Konzepte und Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung von Kriminalität.
Jugendtypische Verfehlungen und Grenzüberschreitungen im Bereich der leichten Kriminalität, wie zum Beispiel Ladendiebstahl oder illegale Downloads, sind sehr verbreitet und verschwinden meist von allein. In diesem Bereich der leichten Kriminalität sollte keinesfalls mit Härte reagiert werden. Im Gegenteil können hier harte Strafen sogar negative Auswirkungen haben.
Dagegen erfordern Gewaltdelikte möglichst frühzeitige und umfangreiche Maßnahmen. Dafür ist eine gute Vernetzung zwischen Schulen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Polizei und Justiz unverzichtbar. Im Bereich der Gewaltkriminalität ist insbesondere die pädagogische und psychologische Unterstützung und Begleitung der Jugendlichen ein wichtiger Bestandteil.
Jugendliche Mehrfachtäterinnen und Mehrfachtäter bzw. Intensivtäterinnen und Intensivtäter brauchen eine koordinierte und vernetzte Begleitung durch Pädagoginnen und Pädagogen, Polizei und Justiz und Jugendhilfe.
Worin sich fast alle Expertinnen und Experten einig sind: Härte und „Null-Toleranz“ führen fast nie zum Erfolg. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass härtere Strafen der Abschreckung dienen oder die Rückfallwahrscheinlichkeit senken.
Nach sämtlichen empirischen Erkenntnissen der Kriminologie ist von Sanktionsverschärfungen weder unter spezial- noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten eine Reduzierung von Jugendkriminalität zu erwarten. Es gibt auch keinen empirischen Befund, der die Annahme stützen würde, durch härtere Sanktionen oder längere Strafen messbar die Rückfallwahrscheinlichkeit reduzieren zu können. Wenn doch Unterschiede festzustellen sind, sind vielmehr die Rückfallraten nach Diversion niedriger.
Gerade im Bereich der leichten und mittelschweren Kriminalität sind die Sanktionen weitest- gehend ohne messbare Konsequenzen auf die Rückfallraten austauschbar. Diese Ergebnisse sind folgenreich. Denn im Jugendstrafrecht muss die Wahl der Sanktion stets dadurch gerechtfertigt werden, dass ein solcher Eingriff notwendig und verhältnismäßig ist. Eine eingriffsintensivere Maßnahme darf nur gewählt werden, wenn eine weniger eingriffsintensive Maßnahme nicht ähnliche Erfolge erzielen kann.
II.      Auf Prävention, Hilfe und angemessene Sanktion kommt es an!
Aus Sicht der Expertinnen und Experten kann Jugendkriminalität bestmöglich durch einen Dreiklang aus Prävention, Hilfe und Sanktion verhindert werden.
Klar ist, Prävention kommt vor Repression und eine nachhaltige und integrative Jugendpolitik ist die vernünftigste Form von Prävention.
Insbesondere Straftaten mit Gewaltanwendung werden erlernt. Gewaltprävention muss daher so früh wie möglich ansetzen. Deshalb müssen Präventionsprogramme ausgeweitet werden. Dabei muss eine intensive Kooperation zwischen Schule, Polizei, Justiz und Jugendhilfe gelingen. Qualitätsstandards von Freien Trägern der Wohlfahrtspflege müssen einbezogen werden.
In der Fachdebatte wird der Fokus auf die Stärkung von Kompetenzen und Ressourcen der Jugendlichen gelegt sowie auf die Ausbildung von Schutzfaktoren. Ziel ist es, Jugendlichen Lernchancen und Alternativen zu Gewalt anzubieten. Auf der individuellen Ebene werden viele verschiedene Möglichkeiten gesehen: von Anti-Aggressivitäts-Trainings über soziale Integration, Stabilisierung des Alltags, der Erarbeitung von Zukunftsperspektiven bis zur Arbeit mit Familie und Umfeld.
Für Jugendliche ist es wichtig, in einem geschützten Umfeld Erfahrungen des Selbstausdrucks, der Akzeptanz und der Selbstwirksamkeit zu machen. Letztlich müssen alle Jugendlichen lernen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und am gesamtgesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein besonders wichtiges und erfolgsversprechendes Element ist die Stärkung der Erziehungskompetenz der Erziehungsberechtigten. Hier müssen entsprechende Hilfsangebote (niedrigschwellig) im sozialen Umfeld bereitgestellt werden.
Strukturelle Vernetzung der Hilfesysteme ermöglicht eine Zusammenarbeit von entscheidenden Akteuren wie Schule, Jugendhilfe, Justiz sowie der Polizei, um mehrfachauffällige Jugendliche die bestmögliche Entwicklung zu ermöglichen. Dabei müssen das Wohl und die gute Entwicklung der Kinder und Jugendlichen absolut im Vordergrund stehen. Eine Stigmatisierung muss vermieden und ein sensibler Umgang mit den Daten der Jugendlichen gewährleistet werden. Die Verantwortung für die Koordination übernimmt das Jugendamt.
Jugendgewalt betrifft Jungen und Mädchen auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Intensität. Deshalb ist es sinnvoll, geschlechterspezifische Angebote zu entwickeln und anzubieten. Auch wenn deutlich weniger Mädchen straffällig werden, müssen für sie spezifische Programme entwickelt werden. Allein aufgrund ihrer geringeren Zahl dürfen sie nicht vergessen werden.
Hilfe muss schnell und individuell auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen bezogen zur Verfügung gestellt werden. Hier gibt es bereits gute Angebote und Programme; der Allgemeine Soziale Dienst leistet wichtige und professionelle Arbeit, ebenso die Freien Träger und Vereine. Um ihre Aufgaben aber bestmöglich und effektiv erfüllen zu können, benötigen sie mehr Personal und Mittel. Hier muss bedarfsorientiert nachgesteuert werden.
Zudem gibt es neben der gerichtlich angeordneten gemeinnützigen Arbeit mittlerweile eine Vielzahl verschiedener Projekte und Programme, die Jugendlichen helfen, nicht (mehr) straffällig zu werden. Besonders hervorzuheben sind Projekte wie „Schwitzen statt Sitzen“, Sucht- und Schuldenberatungsstellen, Täter-Opfer-Ausgleich und andere Restorative-Justice-Maßnahmen, Aussteigerprogramme, Programme zur Vermeidung von Untersuchungshaft oder das Projekt „Kurve kriegen“. Diese Programme befähigen die Jugendlichen, über ihr Handeln nachzudenken, Empathie mit den Opfern ihrer Taten zu empfinden und Handlungsalternativen zu entwickeln, um ein straffreies Leben zu führen.
Gerade im Jugendstrafrecht darf Strafe und insbesondere eine Freiheitsstrafe immer nur Ultima ratio sein. Jugendstrafvollzug muss in jedem Fall das Ziel verfolgen, die Jugendlichen und Heranwachsenden zu erziehen und zu fördern. Dafür muss neben schulischer oder beruflicher Ausbildung eine umfassende pädagogische, psychologische und medizinische Betreuung gewährleistet sein: dafür braucht es aber mehr Personal. Ohne ausreichend pädagogisches Personal besteht gerade im Jugendstrafvollzug die Gefahr der Bildung von Subkulturen, die kontraproduktiv und gefährlich sind.
Insgesamt zu hinterfragen ist der Warnschussarrest. Dieser hat wissenschaftlich keinen erwiesenen Nutzen. So hat unter anderem eine Studie, die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben wurde, klar gezeigt, dass der Warnschussarrest keinerlei positive Auswirkungen auf die Rückfallwahrscheinlichkeit hat.
Auch die Verhängung von Jugendarrest ohne Gewährleistung ausreichender erzieherischer Maßnahmen und Betreuung entspricht nicht dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts, gerade beim Kurz- und Freizeitarrest ist das aber häufig die Realität. Entsprechend braucht es ausreichend und gut ausgebildetes Personal, um den Jugendlichen das notwendige pädagogische Angebot bereitstellen zu können.
Zur Bekämpfung der Jugendkriminalität wird seit langer Zeit auf die Vorteile der „Häuser des Jugendrechts“ gesetzt. In enger Zusammenarbeit von Polizei, Jugendamt und Staatsanwaltschaft unter einem Dach kann wirksam erzieherisch auf straffällige Jugendliche eingewirkt werden. „Häuser des Jugendrechts“ gibt es in NRW bereits in Köln, Paderborn und in Dortmund. Dieses Konzept sollte landesweit ausgeweitet werden. Bei den Kommunen soll verstärkt für die Bereitschaft zur notwendigen kommunalen Mitwirkung geworben werden.
Auch das Konzept der Staatsanwaltschaft vor Ort hat sich bewährt und sollte beibehalten und ausgebaut werden.
Die Richterinnen und Richter leisten einen entscheidenden Beitrag zur weiteren Entwicklung der Jugendlichen. Dabei bietet das JGG den Gerichten einen breiten Katalog möglicher Reaktionen auf eine Straftat. Durch Aus- und Fortbildungen sollten die zuständigen Richterinnen und Richter befähigt werden, die bestmöglichen Maßnahmen in jedem Einzelfall auszuwählen.
Wichtig ist auch, dass die Gerichtsverfahren zügig vorangetrieben und abgeschlossen werden. Bei Jugendlichen darf nicht zu viel Zeit zwischen Tat und (Rechts-)Folge liegen, da sie sich mehr als Erwachsene an den kurzfristigen Folgen ihres Handelns orientieren. Die Jugendlichen müssen die verhängte Strafe mit ihrer Tat in Verbindung bringen können, ansonsten minimiert sich der Lerneffekt. Entsprechend müssen Jugendliche befähigt werden, dem gerichtlichen Verfahren zu folgen. Hierfür muss die Justiz auch für Jugendliche zugänglich und verständlich sein. Dazu gehört, dass sie in verständlicher Weise über ihre Verfahrensrechte und Verfahrensabläufe aufgeklärt werden, einen Rechtsbeistand erhalten und so ihre Mitwirkungskompetenz im Verfahren gestärkt wird.
Mit einem gut vernetzten und koordinierten Dreiklang aus Prävention, Hilfe und Sanktion und individuell angepassten Maßnahmen kann Jugendkriminalität bekämpft und teilweise verhindert werden. Dadurch wird Nordrhein-Westfalen auf Dauer noch sicherer und wird dem übergeordneten Ziel des Jugendstrafrechts, der Erziehung und Förderung junger Menschen gerecht.
III.      Der Landtag beschließt:
1.      Die Förderung der Zusammenarbeit und Vernetzung aller relevanten Akteure sicherzustellen. Dafür koordinierte Präventionsarbeit sozialraumorientiert auszubauen und somit Sorge zu tragen, dass entscheidende Akteure wie Polizei, Justiz, Jugendhilfe, Bildungsinstitutionen, Psychologinnen und Psychologen und Familie an einem Runden Tisch die bestmögliche Hilfeplanung für Kinder und Jugendliche beraten.
2.      Ausreichend Angebote für Erziehungsberechtigte bereitzustellen, um ihre Erziehungskompetenz zu stärken.
3.      Die Präventionsangebote der Jugendhilfe gemeinsam mit den Trägern zu evaluieren, um weitere Bedarfe identifizieren und entsprechend das Angebot zu erweitern.
4.      Ausreichend Hilfsangebote durch das Fördern von wirksamen Projekten bereitzustellen. Projekte und Konzepte wie Täter-Opfer-Ausgleich, gemeinnützige Arbeit, „Schwitzen statt Sitzen“, Untersuchungshaft-Vermeidung und Restorative-Justice-Maßnahmen auszubauen.
5.      Jugendarrest und Jugendvollzug dürfen immer nur Ultima ratio sein und sind personell besser auszustatten.
6.      Den Warnschussarrest aufgrund seiner Unwirksamkeit abzuschaffen.
7.      Mehr Aus- und Fortbildungsangebote für die Richterinnen und Richter bereitzustellen.
8.      Die Häuser des Jugendrechts landesweit bedarfsorientiert auszubauen.
9.      Jugendliche zu befähigen, die Rechtslage und Verfahrensabläufe zu verstehen, damit sie aktiv an ihren gerichtlichen Verfahren mitwirken können.
10.   Die Zeitspanne zwischen Tat und Rechtsfolge so gering wie möglich zu halten, damit die betroffenen Jugendlichen die Konsequenzen ihres Handels nachvollziehen können.