I. Ausgangslage
Die Anzahl der Personen mit einem rechtsextremen Weltbild ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Die aktuelle Mitte-Studie hat ergeben, dass acht Prozent der Bevölkerung diese Ideologie teilen.1 Zudem hat sich das Personenpotenzial gewaltorientierter Rechtsextremisten laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz um rund 14.000 Personen gegenüber den Vorjahren erhöht.2
Eine gründliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist insbesondere vor diesem Hintergrund von großer Bedeutung, dazu gehört auch die Aufarbeitung der Geschichte der Sondergerichte in der NS-Zeit. Sie wurden gemäß einer Verordnung vom 21. März 1933 in allen Oberlandesgerichtsbezirken des Deutschen Reiches eingerichtet,3 um politische Gegnerinnen und Gegner und Verfolgte zu bestrafen.
Die Gerichte dienten der Gleichschaltung. Die Instrumentalisierung der Justiz für die Ziele des NS-Regimes und die Ausschaltung politischer Gegnerinnen und Gegner erfolgte durch beschleunigte Verfahren ohne gerichtliche Voruntersuchung und unter drastischer Beschränkung der Rechte der bzw. des Angeklagten. Gegen die Urteile waren von Seiten der bzw. des Beklagten keine Rechtsmittel zulässig.4 Unter dem Deckmantel der Justiz wurden auf diese Weise Menschen verfolgt, die sich gegen die totalitäre Ideologie und Unterdrückung des NS-Regimes auflehnten. Viele dieser Menschen wurden vor diesen Sondergerichten verurteilt, viele inhaftiert oder hingerichtet.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat im Jahre 1988 unter dem Dach der eigenen Justizakademie in Recklinghausen die Dokumentations- und Forschungsstelle „Justiz und Nationalsozialismus“ gegründet. Deren Aufgabe besteht darin, die Verantwortung der Justiz im NS-Unrechtsstaat zu erforschen und dieses Wissen durch Fortbildung den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Justiz zu vermitteln. Die dort erstellte Dauer- und Wanderausstellung „Justiz und Nationalsozialismus“ zeigt ein umfassendes Bild der Gräueltaten des Nationalsozialismus unter dem Deckmantel der Justiz. Jedoch: „Eine umfassende Aufarbeitung der Tätigkeiten sämtlicher Sondergerichte durch die Gerichte selbst, die heute an den jeweiligen damaligen Sitzen der Sondergerichte örtlich untergebracht sind, existiert nicht.“5 Diese Lücke in der Erinnerungskultur ist bedenklich, denn das Wissen um historische Verbrechen ist eine wesentliche Grundlage für den Schutz von Demokratie, Menschenrechten und einer unabhängigen Justiz, besonders im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen.
Die Geschichte der Sondergerichte ist eine Mahnung. Sie darf nicht vergessen werden, damit sich durch Gerichte gesprochenes Unrecht nicht wiederholt. Leider gibt es bis heute nicht flächendeckend Gedenkstätten, die sich speziell mit den Sondergerichten befassen.6 Insgesamt gab es in den folgenden Städten (des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen) NS-Sondergerichte (in zeitlicher Reihenfolge)7 : Düsseldorf, Essen, Köln, Dortmund, Bielefeld, Aachen, Duisburg, Wuppertal, Hagen. Die vorhandenen Gedenkstätten sind sehr unterschiedlich in ihrer Ausgestaltung. Sie alle befassen sich mit dem Justizunrecht in der Zeit des Nationalsozialismus in verschiedener Differenziertheit in ihrer Darstellung.
Die Sondergerichtsakten sind nur noch teilweise vorhanden. Sie wurden zum Teil durch Kriegseinwirkung zerstört bzw. durch die Nationalsozialisten vernichtet. Beispielsweise sind die Akten von Dortmund und Hagen fast vollständig zerstört. Die Akten des Sondergerichts Bielefeld über Verfahren, in denen auf Todesstrafe erkannt worden ist, sind kurz vor Kriegsende durch die Justiz vernichtet worden. Die Akten des Sondergerichts Aachen, die belgische Staatsangehörige betrafen, sind nach Ende des Krieges den belgischen Behörden überlassen worden. Die Aufklärung und Aufarbeitung der abgefassten Unrechtsurteile sind daher infolge der vernichteten Akten nicht mehr für alle ehemaligen Standorte der NS-Sondergerichte möglich.
Es ist unsere demokratische Pflicht, den Opfern dieser Unrechts-Gerichte angemessen zu gedenken. Dort wo es historische Aufarbeitungen gibt, zeugen diese von den Gräueltaten der damaligen Justiz. Dieses schreckliche Kapitel deutscher Justiz darf nicht in Vergessenheit geraten. Es muss uns und auch den zukünftigen Generationen im Gedächtnis bleiben, dass es Richterinnen und Richter waren, die diese Unrechtsurteile gesprochen haben.8 Durch diese Aufarbeitung muss deutlich werden, dass die Justiz aus dieser Vergangenheit gelernt hat und sich solche Unrechtsurteile nicht wiederholen dürfen. Dafür müssen wir uns mit der Thematik öffentlich auseinandersetzen und auch öffentlich darauf hinweisen. Gerade die Errichtung von Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen NS-Sondergerichte hält die Erinnerung wach, gedenkt der Opfer und fördert zugleich die Aufklärung über die Verbrechen der NS-Zeit. Es liegt in unser aller Verantwortung, dass die Geschichte der politischen Verfolgung und des Missbrauchs der Justiz während der NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerät.
Für die Ausbildung der Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare sind bereits erste Schritte in die Wege geleitet worden. Derzeit wird Unterrichtsmaterial zu den Unrechtsprozessen der NS-Zeit erarbeitet, das künftig fester Bestandteil der Referendarinnen und Rechtsreferendarausbildung werden soll.
Weil jedoch immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten können, sind gerade Ansätze erforderlich, die den Wissenstransfer zu künftigen Generationen gewährleisten. Mit dem vorliegenden Antrag soll ein öffentliches Gedenken an die Opfer der NS-Sondergerichte und deren Unrechtsurteile geschaffen werden. Das gilt besonders für die Opfer, deren Strafverfahren nicht mehr aufgearbeitet werden können, weil die Nationalsozialisten die Akten vernichtet haben oder weil die Akten im Krieg vernichtet wurden. Sie haben besonders einen Anspruch darauf, dass wir ihrer gedenken und speziell auf das Unrecht dieser Sondergerichte aufmerksam machen.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest,
- dass die Sondergerichte der NS-Zeit Instrumente politischer Verfolgung und Unterdrückung waren.
- dass für den Schutz von Demokratie, Menschenrechten und fairer Gerichtsverfahren die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Sondergerichte und deren Unrechtsurteile von großer Bedeutung ist.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Justiz und Nationalsozialismus sowie interessierten Juristinnen und Juristen und den betroffenen Gerichten, angemessene Formen des Gedenkens an die Opfer an den Orten der ehemaligen NS-Sondergerichte in Nordrhein-Westfalen zu entwickeln und eine angemessene öffentliche Darstellung aus vorhandenen Haushaltsmitteln zu prüfen.
- in Zusammenarbeit mit den beteiligten Akteurinnen und Akteuren, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Bürgerinnen und Bürger sowie geeignete Projekte in die Aufarbeitung und die Entwicklung von Gedenkmöglichkeiten einzubeziehen. Dabei soll insbesondere den unbekannten Opfern ein Andenken gegeben werden.
1 https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/rechtsextremismus-studie-100.html
2 https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/rechtsextremismus/zahlen-und-fakten/zahlen-und-fakten_node.html
3 vgl. Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten, RGBl. 1933 I, 136.
4 vgl. Simon Dörrenbächer: NS-Strafjustiz an der Saar, Berlin 2023, S. 114-123.
5 Öffentlicher Bericht der Landesregierung NRW zur 20. Sitzung des Rechtsausschusses des Landtags NRW am 16. August 2023 zum TOP: “NS-Sondergerichte und ihre Unrechtsurteile. – Wie gehen wir damit um und welches Unterrichtsmaterial steht für Lehrende bzgl. des nationalsozialistischen Unrechts und Unrecht der SED-Diktatur zur Verfügung?” — Frage 4, a
6 vgl. Öffentlicher Bericht der Landesregierung NRW zur 20. Sitzung des Rechtsausschusses des Landtags NRW am 16. Au-gust 2023 zum TOP: “NS-Sondergerichte und ihre Unrechtsurteile. – Wie gehen wir damit um und welches Unterrichtsmaterial steht für Lehrende bzgl. des nationalsozialistischen Unrechts und Unrecht der SED-Diktatur zur Verfügung?” — Frage 4, e)
7 In der 11. Wahlperiode waren die NS-Sondergerichte bereits Thema einer Kleinen Anfrage (11/1264) vom 27.2.1991, dort die Antwort zur Frage 2.
8 Es ist belegt, dass mindestens eine Richterin an einem der beteiligten Gerichte tätig war. Allerdings kann nunmehr weder mit Sicherheit festgestellt noch ausgeschlossen werden, ob sie selbst auch an der Verabschiedung von Unrechtsurteilen beteiligt war.