Maßnahmen zur Erkennung von und zum Umgang mit psychischen Erkrankungen im Justizvollzug

Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN

I. Ausgangslage
Psychische Erkrankungen und Störungen sind in Justizvollzugsanstalten weitaus verbreiteter als in der Allgemeinbevölkerung. Zu diesen Erkrankungen und Störungen gehören unter anderem Suchterkrankungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Psychosen. Genaue Zahlen zu den einzelnen Erkrankungen sind – auch durch Studien – nur schwer zu erzielen, durchgeführte Studien kommen zu Ergebnissen von bis zu 88% psychisch erkrankter Gefangenen. Auch die Zahl der Suizide liegt bei Gefangenen um ein Vielfaches höher als in der Allgemeinbevölkerung. Seit Jahren wird zudem ein Anstieg der psychischen Erkrankungen und Störungen in den Justizvollzugsanstalten beobachtet. Auch die steigenden Zahlen der Gefangenen mit Suchtproblematiken stellt eine Belastung für den Justizvollzug dar. In einigen Anstalten besteht noch immer kein umfassendes Therapieangebot für Suchtkranke.
Aufgrund des tödlich verlaufenden Brandes in der Justizvollzugsanstalt Kleve ist eine Expertenkommission eingesetzt worden, die im Rahmen ihres Abschlussberichts „Bericht der Expertenkommission zu Optimierungsmöglichkeiten im Justizvollzug auf den Gebieten des Brandschutzes, der Kommunikation und der psychischen Erkrankungen“ vom Juli 2019 zu dem Ergebnis kommt, dass die „aktuelle Situation im Umgang mit behandlungsbedürftigen psychisch kranken/gestörten Gefangenen bedrückend ist und dringender Verbesserung bedarf“.
Dem Bericht der Expertenkommission ist zu entnehmen, dass derzeit psychisch kranke und behandlungsbedürftige Gefangene in Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen oft Monate und teilweise über ein Jahr auf einen Platz im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg warten. Die Kommission kommt aufgrund ihrer Besuche, Gespräche und Einblicke zu der Bewertung, dass der Umgang mit akuten und schweren psychiatrischen Krankheitsbildern, die einer unverzüglichen stationären Versorgung bedürfen, strukturell und quantitativ völlig unzureichend ist. Dieser Mangel führe in vielen Einzelfällen zu medizin- und rechtsethisch nicht zu verantwortenden Zuständen, welche als Belastung für die betroffenen kranken Gefangenen, die Bediensteten, die Mitgefangenen und das gesamte Justizvollzugssystem zu werten sind. Auch wirkt sich das fehlende Behandlungsangebot für psychisch Kranke im Justizvollzug überdies sehr negativ auf die Chancen auf eine erfolgreiche Resozialisierung der Gefangenen aus.
Die Expertenkommission hat für die Bereiche der Suizidprävention sowie der ambulanten wie stationären Behandlungsmöglichkeiten Empfehlungen formuliert, wie die Versorgung der Gefangenen verbessert werden kann. Im Zeitraum von November 2019 bis Juni 2020 hat die Koordinierungsrunde, bestehend aus Vertretern aller Fraktionen sowie des Ministeriums der Justiz, getagt und die Empfehlungen der Expertenkommission sowie deren Umsetzung beraten.
Hinsichtlich der fünfzehn Empfehlungen der Expertenkommission auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen hat sich die Koordinierungsrunde auf einen Umsetzungsfahrplan verständigt. Im Bereich der Suizidprävention wird den Suizidpräventionsbeauftragten eine wichtige Rolle zukommen. Die Zahl der Suizide sowie der suizidgefährdeten Menschen liegt in den Justizvollzugsanstalten immer noch deutlich über den Fallzahlen in der Allgemeinbevölkerung. Die Justizvollzugsanstalten müssen daher alle möglichen Maßnahmen ergreifen, um Suizide zu verhindern und Suizidgefährdete bestmöglich zu schützen und zu betreuen. Daher haben seit 2018 bereits 24 Anstalten eigene Suizidbeauftragte ernannt, die unter Beteiligung aller notwendigen Professionen für die Sensibilisierung, regelmäßigen Schulungen der Bediensteten und die Aufarbeitung von stattgehabten Suiziden Verantwortung tragen werden. Denn für die Erkennung einer Suizidgefährdung sowie den Umgang mit suizidgefährdeten Gefangenen braucht es gut ausgebildetes und geschultes Personal, sowohl im Allgemeinen Vollzugsdienst als auch im psychologischen Dienst. Zur Vernetzung der Suizidbeauftragten und zur Arbeit in entsprechenden Arbeitsgruppen auf Bundesebene hat darüber hinaus die Landesarbeitsgruppe Suizidprävention ihre Tätigkeit wieder aufgenommen.
Neben der Arbeit im Rahmen der Suizidprävention sind die Justizvollzugsanstalten auch damit konfrontiert, psychische Erkrankungen oder Störungen zu behandeln. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, denn derzeit befinden sich zu viele psychisch kranke oder gestörte Gefangene in den Anstalten, die nicht oder nicht ausreichend behandelt werden können. Die oft auch im alltäglichen Umgang problematischen psychisch kranken Gefangenen verursachen in vielen Fällen einen erheblichen Mehraufwand und eine zusätzliche Belastung und teilweise Gefährdung für die Bediensteten. Die Unterbringung psychisch kranker Gefangener in Justizvollzugsanstalten ohne ausreichende Behandlungsmöglichkeiten kann überdies eine Gefährdung der kranken Gefangenen selbst und der Mitgefangenen bedeuten.
Um dieser problematischen Gemengelage der ambulanten Versorgung entgegen zu wirken, ist bereits das Pilotprojekt zur Telemedizin im Justizvollzug angelaufen. In sieben Anstalten, die alle Vollzugsformen abdecken, ist das Pilotprojekt aufgrund der Empfehlung der Expertenkommission neben der allgemeinmedizinischen Betreuung um die psychiatrische Betreuung der Gefangenen erweitert worden. Sofern das Pilotprojekt erfolgreich verläuft, ist beabsichtigt, bereits im Jahr 2021 den flächendeckenden Roll-out gesondert auszuschreiben. Darüber hinaus ist durch geeignete Maßnahmen der Mangel an Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen in den Justizvollzugsanstalten in den Blick zu nehmen. Neben der Gewinnung weiterer Anstaltsärztinnen und -ärzte und Anstaltspsychologinnen und -psychologen ist ambulante fachärztlich-konsiliarische Angebot weiter fokussiert in den Blick zu nehmen.
Auch bei den stationären Behandlungsmöglichkeiten besteht Nachbesserungsbedarf für den Justizvollzug in Nordrhein-Westfalen. Die beiden psychiatrischen Abteilungen im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg verfügen insgesamt über 60 Betten, von denen aufgrund der Einzelbelegung in der Regel aber nur 30 tatsächlich zur Verfügung stehen. Bisher gibt es keinerlei Behandlungsmöglichkeiten für psychisch kranke Frauen in Fröndenberg, nach dem anstehenden Umbau sollen es zwölf Betten sein. Aber auch der anstehende Umbau sowie die unbesetzten Stellen für Ärztinnen und Ärzte tragen dazu bei, dass es lange Wartelisten für einen Platz in Fröndenberg gibt. So warten Gefangene mit schweren schizophrenen Psychosen zum Teil über ein Jahr auf einen Behandlungsplatz, andere werden vor einer notwendigen Behandlung bereits entlassen. Nach Ansicht der Expertenkommission, welche die Koordinierungsrunde teilt, ist diese Situation in vielen Fällen medizin- und rechtethisch nicht zu verantworten.
Daher haben sich das Ministerium der Justiz und Vertreter der Fraktionen in der darauf verständigt, dass in einem ersten Schritt die nach dem anstehenden Umbau zur Verfügung stehenden 23 (Akut-)Behandlungsplätze für männliche Gefangene durch einen weiteren Umbau im Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg um 20 weitere (Akut-)Behandlungsplätze aufgestockt werden sollen und hierzu Haushaltsmittel für Planung schon im Haushalt 2020 kassenwirksam werden können.
Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen zur Umsetzung des „Konzepts für die psychiatrisch intensivierte Behandlung in den Justizvollzugsanstalten NRW“ vollzogen worden. Insbesondere wurde eine ambulante psychiatrische Sprechstunde im JVK Fröndenberg eingerichtet.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
1.      Die aktuelle Situation im Umgang mit behandlungsbedürftigen psychisch kranken und gestörten Gefangenen ist bedrückend und muss dringend verbessert werden.
2.      Die Konzepte, Angebote und Möglichkeiten zur Behandlung psychisch kranker und gestörter Gefangenen in den Justizvollzugsanstalten sind unzureichend und genügen nicht der staatlichen Fürsorgepflicht für Gefangene.
3.      Diese Situation stellt eine hohe Belastung für die Gefangenen und die Bediensteten dar. Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
1.      aus bereiten Mitteln die Zusammenarbeit mit Honorarärztinnen und Honorarärzten in den Justizvollzugsanstalten auszubauen sowie für eine Verbesserung der ambulanten konsiliar-psychiatrischen Versorgung Sorge zu tragen,
2.      bis Ende des Jahres 2021 ein Konzept vorzulegen, wie die Anzahl der Belegbetten in einer psychiatrischen Abteilung für den Justizvollzug bedarfsgerecht ausgebaut werden kann, um der Empfehlung der Expertenkommission Rechnung zu tragen,
3. sofern das Pilotprojekt der Telemedizin erfolgversprechend verläuft, die Ausschreibung für einen landesweiten Roll-out vorzunehmen.