Lebenswerte Quartiere in Städten und Gemeinden

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Mehrdad Mostofizadeh

I. Quartiere als Lebensraum der Menschen

Für die Menschen ist ihr Quartier der Ausgangspunkt ihres Lebens. Die konkreten Möglichkei­ten, die dieser Sozialraum bietet, sind entscheidend für die Chancen seiner Bewohnerinnen und Bewohner und ist maßgeblich für die Lebensqualität. Ausgehend von der „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ im Jahr 2007 hat Deutschland u. a. im Rahmen der „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ einen eindeutigen Quartiersfokus gesetzt.1

Der demografische, ökologische und soziale Wandel stellt unsere Stadtgesellschaft wie auch unsere ländlichen Regionen vor große Herausforderungen. Eine inklusive, kultursensible und generationen- und geschlechtergerechte Quartiersentwicklung ist für eine nachhaltige und zu­kunftsgerechte Stadt- und Dorfentwicklung notwendig.

Quartierskonzepte stellen die wesentlichen Gestaltungs- und Lebensbereiche, die zur Bewäl­tigung des Alltagslebens wichtig sind, dar und zeigen einen entscheidenden Teil der gemeind­lichen Daseinsvorsorge. Hierzu gehören Wohnen und Wohnumfeld, Pflege und Unterstützung, Gesundheitsversorgung, soziale Infrastruktur, die generationengerechte Gestaltung des Wohnumfeldes sowie die sozialraumbezogene Förderung, Dienstleistungen und Güter des all­täglichen Bedarfs. Insbesondere auch aus ökologischen Gründen ist die Nahversorgung im ländlichen Raum sicherzustellen.

II. Barrierefreiheit

Bereits im Jahr 2006 wurde mit der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen, Menschen mit Behinderungen „die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen“ zu ermöglichen.2 Ein inklusi-ves Quartier für alle Menschen kennzeichnet sich durch eine durchmischte Bevölkerungsstruk­tur, die in ihrem Umfeld Teilhabemöglichkeiten bekommt und Kontakte und Zusammenhänge unabhängig von den individuellen Bedürfnissen realisieren kann. Das macht deutlich, dass neben barrierefreiem Wohnraum auch die Erreichbarkeit der Bildungsstätten, Lebensmittelge­schäfte oder kulturellen sowie sozialen Einrichtungen entscheidend ist.

Doch die aktuelle Lage ist desaströs: Der im Sommer 2020 veröffentlichte erste Teilhabebe-richt NRW hat gravierende Defizite bei der Umsetzung von Barrierefreiheit aufgezeigt.3 Dem­nach leben nur 18 Prozent der Menschen mit Behinderungen in barrierefreien Wohnungen. Auch die aktuelle Wohnungsmarktprognose des Landes NRW weist auf die große Nachfrage nach barrierefreiem Wohnraum hin und sagt einen Bedarf an rund 700.000 neuen altersge­rechten Wohnungen bis 2040 voraus.4 Doch mit der Landesbauordnung NRW verpasst die Landesregierung die Chance dem Bau von barrierefreiem Wohnraum den notwendigen Schub zu verpassen. Neue Wohnungen müssen nur noch „im erforderlichem Umfang“ barrierefrei sein, ohne dass das in der Landesbauordnung näher definiert wird. Quoten für den Bau roll-stuhlgerechter Wohnungen wurden gestrichen, dabei ist gerade dafür ein hoher Bedarf.

Zu dem Bedarf an barrierefreiem Wohnraum kommt der enorme Bedarf an mehr Barrierefrei­heit im gesamten Stadtraum. Nach einer Difu-Erhebung sind kommunale Wohngebäude nur zu 20 Prozent, Straßen und das Wohnumfeld nur zu 50 Prozent und Zugänge zum ÖPNV nur zu 63 Prozent barrierefrei. Für den barrierefreien Ausbau des Wohnumfeldes und der Straßen sind demnach bundesweit Investitionen in Höhe von 13,3 Milliarden Euro notwendig.5 Die Mit­tel der Städtebauförderung reichen merklich nicht aus um den Bedarf zu decken.

III. Konzept für alle statt Lösungen für Einzelne

Das Konzept des Design für Alle zielt von Anfang an auf eine Inklusion aller potenziellen Nut­zerinnen und Nutzer in Bezug auf die Gestaltung unserer Umwelt sowie die Teilnahme an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und Freizeitaktivitäten ab. Design für Alle steht nicht im Widerspruch zur Definition der Barrierefreiheit, sondern berücksichtigt zusätzlich gestalte ri-sche und ästhetische Aspekte. Es ist ein Konzept für die Planung und Gestaltung von Produk­ten (Gegenstände, Gebäude) und Umgebungen (öffentliche Wege, Straßen und Plätze, Anla­gen). Am Beispiel Berlin zeigt sich, dass es dabei um mehr als abgesenkte Bordsteinkanten geht: rollstuhlgerechte Spiellandschaften, Gestaltung von Wegebeziehungen und blindenge-rechte Informationsvermittlung.6

Diesem Gedanken folgend sollen Quartiere als Lebensraum für alle Menschen gestaltet wer­den. Für alle Generationen bedarf es (nicht kommerzieller) Räume der Begegnung und für Aktivitäten. Für Kinder muss ihr Wohnumfeld bespielbar sein und dies nicht nur auf ausgewie­senen Spielplatzflächen. Jugendliche brauchen Frei- und Gestaltungsräume. Bewegungsan­gebote für jedes Alter in jedem Quartier sichern eine gesundheitsförderliche Stadtentwicklung.

Besonders Menschen mit Pflege und Unterstützungsbedarf sind auf eine gut zugängliche und abgestimmte gesundheitliche Versorgung vor Ort angewiesen. Wir brauchen regional organi­sierte Versorgungsverbünde, die sich am Quartier orientieren. Es bedarf flexibler dezentraler Strukturen, die je nach örtlicher Situation die Zusammenarbeit in Primärversorgungspraxen, Krankenhäusern im Stadtteil, Pflegediensten und -einrichtungen, Angeboten zur Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie Palliativ- und Hospiznetzwerken gewährleisten. Für den Be­reich der Pflege beispielsweise bedeutet dies weg von Großeinrichtungen hin zu Wohn- und Pflegeformen im Lebensumfeld der Menschen. Statt an Renditen interessierte Investorinnen und Investoren sollen freigemeinnützige und kommunale Träger der Alten- und Pflegearbeit

stärker berücksichtigt werden. Hierzu ist es auch notwendig, dass die Kommunen und Kreise eine verbindliche Pflegebedarfsplanung aufstellen, so wie es in NRW möglich ist, um die Ent­wicklung der (Pflege)Infrastruktur nicht dem freien Markt alleine zu überlassen. Doch die Kom­munen benötigen hier mehr Unterstützung. Allerdings ist der finanzielle Rahmen für den Lan-desförderplan Alter und Pflege von der CDU/FDP-Landesregierung in den letzten Jahren er­heblich gekürzt worden. Förderprojekte, die die ehrenamtliche wie auch professionelle Quartiersarbeit unterstützen, und die Landesförderung der ZWAR-Stellen zur Unterstützung von Netzwerkarbeit wurden sukzessive gestrichen.

Inklusion umfasst mehr als den Abbau baulicher und räumlicher Barrieren. Mentale und soziale Barrierefreiheit zeigt sich etwa darin, wie die Nutzung öffentlicher Räume und das Gefühl von Sicherheit berücksichtigt wird. Es geht hierbei darum, wie gut Informationen zugänglich und Kommunikation möglich ist, wie sehr etwa der Faktor Zeit (bei Öffnungszeiten zum Bei­spiel) eine Barriere darstellt. Quartiere benötigen geeignete Orte der Kommunikation, wie z.B. Stadtteilzentren, Quartiersstützpunkte, Nachbarschaftstreffs. Diese und die gelungene Gestal­tung des öffentlichen Raums ermöglichen Kontakt und Kommunikation, lassen die Gemein­schaft positiv erleben und stärken die Identifikation mit dem Quartier.

IV. Nachhaltigkeit und Gesundheit

Die Stadt- und Quartiersentwicklung muss sich, wie zuletzt die Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 allen vor Augen geführt hat, insbesondere auch den Anforderungen des Klimaschutzes und der Klimafolgenanpassung stellen. Nur in nachhaltig gestalteten Quartieren ist eine dau­erhaft lebenswerte Nachbarschaft realisierbar. Das Klimaabkommen von Paris und der 1,5-Grad-Pfad setzen die Leitplanken für die Gestaltung unserer Städte und Quartiere in Nord­rhein-Westfalen. Die Grüne Fraktion hat mit einem Gutachten die Grundlagen bereitgestellt.7

Die Auswirkungen des Klimawandels sind stärker zu berücksichtigen, weil Hitzestress eine gesundheitliche Herausforderung ist. In einer grünen Stadt ist ein gesundes Leben besser möglich. Mit einer wachsenden Stadt muss eine gute Ausstattung mit Naherholungsflächen einhergehen. Durch innovative Verkehrspolitik kann Luftreinhaltung und Lärmminderung um­gesetzt werden, dies dient dem Herz-Kreislauf-System und steigert zugleich die Aufenthalts­qualität der Städte und Gemeinden.

Eine gesundheitsförderliche Gestaltung von Städten hat neben dem Fokus auf Begegnungs-und Aktivitätsräumen auch den Anspruch, die Selbstorganisation der Stadtbevölkerung zu stärken. Die urbane Gesundheitsförderung umfasst auch kleinräumige, gesundheitsfördernde Maßnahmen im Quartier, wie die gesundheitsförderliche Gestaltung von Schulhöfen. Deutlich wird an diesem Punkt, dass Städte sektorenübergreifend geplant werden müssen.8 Die Daten und Erkenntnisse des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) können dazu genutzt werden, um gezielt die Viertel und Quartiere umzugestalten und zu fördern, in denen soziale Benach­teiligung mit gesundheitlichen Risiken einhergehen.

Beispielhaft für nachhaltige und zugleich soziale Quartiersentwicklung steht das Modell der 15-Minuten-Stadt. Durch die Verzahnung von Verkehrs- und Stadtentwicklung wird es ermög­licht, alle Dinge des täglichen Bedarfs innerhalb einer Viertelstunde vom Wohnort aus zu er­reichen. Und das – wie es Paris vormacht mit nachhaltigen Verkehrsmitteln – zu Fuß, per Rad oder mit dem ÖPNV. Möglich wird dies unter anderen, in dem das Potenzial, das zurzeit für Parkraum verbraucht wird, dafür genutzt wird die Stadt lebenswerter und klimafreundlicher zu gestalten.9

V. Der Landtag stellt fest:

  • Quartiere sind Lebensraum für alle Menschen. Die inklusive Gestaltung dient nicht nur den weniger mobilen, Alten und Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern ist ein Mehr­wert für Alle.
  • Den Menschen soll ein selbstbestimmtes Leben in den heimischen vier Wänden oder im vertrauten Quartier ermöglicht werden, auch wenn sie Hilfe brauchen.
  • Inklusion muss personell gut aufgestellt sein. Nur Kommunen, die ausreichend personelle Kapazitäten zur Verfügung haben können diese interdisziplinäre Aufgabe im Austausch mit der Zivilgesellschaft vorantreiben.
  • Lebenswerte Quartiere messen sich auch an bezahlbarem Wohnraum und Gewerbeflä­chen. Denn nur wenn die Menschen in ihren Quartieren dauerhaft bleiben können, wird Einsamkeit verhindert.
  • Quartiersentwicklung hat einen ganzheitlichen Ansatz und sollte daher ressortübergrei­fend angegangen werden.
  • Die klimagerechte Transformation der Städte bietet den Menschen auch einen prakti­schen Mehrwert, weil sie das Umfeld gesünder und lebenswerter gestaltet.

VI. Der Landtag beschließt:

Die Landesregierung wird aufgefordert,

  1. Die Entwicklung von Beteiligungsstrategien auf Quartiersebene in den Kommunen zu för­dern. Soziale Netzwerke und Nachbarschaften sollen gestärkt werden, indem die Heimat-Schecks weiterentwickelt werden hin zu einem Unterstützungsprogramm für Quartierspro-jekte auch in urbanen Gebieten.
  2. Die Kommunen bei der Umsetzung der verbindlichen Pflegebedarfsplanung zu unterstüt­zen, Angebote der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege auszubauen sowie Quartiersarbeit in den Kommunen zu fördern.
  3. Das Landeszentrum für Gesundheit so auszubauen, dass es die Kommunen noch besser zum Beispiel zur Nutzung der Daten aus der Gesundheitsberichterstattung beraten kann, um gesundheitliche Risiken in benachteiligten Quartieren zu reduzieren.
  4. Die Landesbauordnung anzupassen, sodass alle Wohnungen im Neubau barrierefrei ge­baut werden und genügend rollstuhlgerechter Wohnraum geschaffen wird, damit eine Mi­schung von Wohnraumangeboten für alle Nutzergruppen erreicht wird. Schrittweise soll auch mehr barrierefreier Wohnraum im Bestand realisiert werden. Wichtig ist auch, tech­nische Standards für öffentliche Plätze, Wege etc. im Sinne einer barrierefreien Stadt­struktur verbindlich festzulegen.
  5. Ergänzend zu den Mitteln der Städtebauförderung ausreichend Fördermittel für den barrierefreien Stadtumbau, inkl. gesundheitsförderlicher Gestaltung zur Verfügung zu stellen. Hierzu sollen von Landesseite ergänzende Mittel in Höhe von 50 Mio. Euro pro Jahr in den Haushaltsplänen 2022 bis 2032 eingesetzt werden.
  6. Die Initiierung und Förderung von drei Modellprojekten „15 Minuten-Stadt“ in Zusammen­arbeit von VM, MHKBG und MAGS.

 

1 https://shop.arl-net.de/media/direct/pdf/HWB%202018/Quartier%20Quartiersentwicklung.pdf

2 https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl208s1419.pdf# bgbl %2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl208s1419.pdf %27%5D 1637751177640

3 https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/teilhabebericht_2020_nrw_barrierfrei.pdf

4 https://www.m hkbg.nrw/themen/bau/wohnen/daten-und-fakten#:~:text=Wohnungsmarktprog-nose%20f%C3%BCr%20Nordrhein%2DWestfalen&text=In%20den%20Jahren%202018%20bis,Wohneinheiten%20in%20unserem %20Bundesland%20ben%C3%B6tigt.

5 https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Studien-und-Materialien/Altengerechter-Um bau-der-Infrastruktur_Januar-2013.pdf

6 https://www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/barrierefreies_bauen/download/designforall/Berlin-De-sign-for-all-Projektbeispiele.pdf

7 https://gruene-fraktion-nrw.de/wp-content/uploads/2021/06/Handbuch-Klimaschutz-NRW-Final.pdf

8 https://issuu.com/wbgu/docs/wbgu_hg2016-hoch?e=37591641/68732842

9 https://www.goethe.de/ins/fr/de/kul/dos/nhk/22079262.html