Kinder und Jugendliche mit Behinderungen beim Kinderschutz stärker mitdenken und besser schützen

Gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDU und Grünen im Landtag

Portrait Norika Creuzmann
Portrait Dennis Sonne

I. Ausgangslage

Manchen fehlen die Worte, um auszudrücken, was ihnen widerfahren ist. Anderen wiederum wird ohnehin nicht geglaubt. Nicht nur Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung sind besonders gefährdet, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen unterliegen einem drei bis vier Mal so großen Risiko von Vernachlässigung und körperlicher sowie sexualisierter Gewalt wie gleichaltrige Kinder und Jugendliche ohne Behinderungen. Die Dunkelziffer der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist hoch. Bei Kin­dern und Jugendlichen mit Behinderungen handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die verschiedenste Behinderungsmerkmale aufweisen. Dazu zählen seelische, körperliche oder kognitive Behinderungen, aber auch (komplexe) Mehrfach­behinderungen.

Die Bedingungen, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Behinderungen befinden, können Risikofaktoren darstellen, die Übergriffe von potenziellen Täterinnen und Täter begünstigen können. Im Alltag müssen Kinder und Jugendliche mit körperlichen und kognitiven Behinde­rungen in der Schule, im Wohnheim, in Jugendhilfeeinrichtungen, beim Arzt bzw. Ärztin, bei der therapeutischen Versorgung oder bei allgemeiner Erfüllung von Bedürfnissen wie der Ein­nahme von Mahlzeiten und Ankleiden, die Nähe von anderen Personen zulassen. Darüber hinaus können mangelndes Selbstbewusstsein, Abhängigkeitsverhältnisse (auch durch Pflege), Mobilitätseinschränkungen, kognitive Störungen oder Kommunikationsbarrieren wei­tere Risikofaktoren darstellen. Durch vermeintlich geringere Glaubwürdigkeit wird die Aufde­ckung der sexualisierten oder körperlicher Gewalt erschwert und das Risiko mehrfach davon betroffen zu sein ist erhöht.

Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist unerlässlich, so wie es auch die UN-Kinderrechtskonvention, UN-Behindertenrechtskonvention und auch das Kinder- und Jugendfördergesetz NRW vorsieht und wie es sich daraus ableiten lässt. Obwohl Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Risikofaktoren konfrontiert sind, sind sie und ihre besonderen Bedarfe im Kinderschutz und bei den Kinderrechten zu wenig berücksichtigt. Gleichzeitig werden Kinder und Jugendliche mit Behinderungen kaum zielgruppenspezifisch bis gar nicht über körperliche, emotionale und sexualisierte Gewalt aufgeklärt.

Kinder und Jugendliche mit Neurodiversität wie Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Dyslexie oder anderen neurologischen Entwicklungsstörungen sind häufig noch wenig sichtbar oder werden noch zu wenig berück­sichtigt. Auch sie sind einem hohen Risiko von verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt, einschließlich physischer, emotionaler und sexualisierter Gewalt. Dies kann auf ihre Kommu­nikationsschwierigkeiten, soziale Isolation oder Abhängigkeit von betreuenden Personen zu­rückzuführen sein. Es ist entscheidend, dass Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie Mitarbei­tende aus Kindertageseinrichtungen für die besonderen Anzeichen von sexualisierter Gewalt bei neurodiversen Kindern sensibilisiert werden, denn gerade sie haben oft Schwierigkeiten, über ihre Erlebnisse zu sprechen und sollten sich über alternative Kommunikationsmethoden ausdrücken können.

Darüber hinaus müssen auch geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erfahrung von se­xualisierter und physischer Gewalt berücksichtigt werden. Die Studie „Lebenssituation und Be­lastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ macht deutlich, dass Mädchen mit Behinderungen besonders stark von psychischer Gewalt und psy­chisch verletzenden Handlungen durch Eltern betroffen sind. 50 bis 60 Prozent der Frauen, die befragt wurden, gaben an, in der Kindheit und Jugend davon betroffen gewesen zu sein. 74 bis 90 Prozent waren von elterlicher körperlicher Gewalt betroffen. 20 bis 34 Prozent der Befragten haben sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt. Hierbei waren 52 Prozent der Mädchen gehörlos, 40 Prozent blind, 36 Prozent psychisch erkrankt, 34 Prozent körperlich-und mehrfachbehindert. 25 Prozent der Befragten mit kognitiver Behinderung gaben an, in Einrichtungen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erfahren zu haben. Auch hier ist das Dunkelfeld sehr groß.

Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sind oft im höchsten Maße gefor­dert und benötigen Unterstützung und Aufklärung. Dies kann durch Schulungen, Beratungs­angebote und Netzwerke zum Austausch von Erfahrungen und Strategien erfolgen. Hinzu kommt, dass die Frage der sexuellen Entwicklung bei jungen Menschen mit Behinderungen häufig vernachlässigt wird. Gleichzeitig wird ihnen in vielen Fällen ihre Sexualität abgespro­chen. Damit sie sich aber besser schützen können, brauchen auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen Angebote der sexuellen Aufklärung, damit sie Grenzüberschreitungen und eigene Grenzen erkennen und eine Sprache zur Benennung von Gewalt verinnerlichen kön­nen.

Inklusiver Kinderschutz ist ein notwendiger Grundpfeiler für eine kind- und behindertenge­rechte Gesellschaft. Es ist gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Verantwortung si­cherzustellen, dass alle Kinder, unabhängig von ihren individuellen Umständen, die notwen­dige Unterstützung und den Schutz erhalten, den sie benötigen.

Inklusiver Kinderschutz bedeutet, dass alle Maßnahmen und Gesetze zur Sicherstellung des Wohlergehens von Kindern auch deren spezifische Lebenslagen und Bedarfe berücksichtigen müssen. Das Fehlen von Informationen und Aufklärung macht es den betroffenen Kindern und Jugendlichen schwer, die Absicht von Täterinnen und Täter zu erkennen, und Hilfsangebote im Falle von sich anbahnenden oder bereits erfolgten Übergriffen zu kennen. Dabei stellen Hilfs-, Präventions- und Unterstützungsangebote wichtige Anlaufstellen auch des inklusiven Kinderschutzes dar. Hierfür müssen die Angebote den Betroffenen und unterstützenden Per­sonen bekannt und der Zugang barrierefrei sein. Barrierefreiheit bedeutet hierbei nicht nur, dass der Zugang in Räumlichkeiten durch bauliche Maßnahmen ermöglicht wird. Mitarbei­tende müssen entsprechend geschult und angemessen vorbereitet sein. Aber auch aufsu­chende Angebote stellen in diesem Zusammenhang einen wichtigen Aspekt dar.

dennBeschlussfassung
Der Landtag stellt fest:

  • Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben auch mit Blick auf den Kinderschutz unterschiedliche Bedarfe.
  • Obwohl Kinder und Jugendliche mit Behinderungen stärker von sexualisierter, emotio­naler und körperlicher Gewalt sowie von Vernachlässigung betroffen sind als Gleichalt­rige ohne Behinderung, finden ihre Bedarfe mit Blick auf den Kinderschutz zu wenig Be­rücksichtigung.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung aus vorhandenen Mitteln,

  • unter Berücksichtigung vorhandener Forschungsergebnisse sowie bestehender Initiati­ven eine wissenschaftliche Untersuchung hinsichtlich Gewalt und Schutz von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen in Auftrag zu geben, die auch eine Datenlage zu Freiheitseinschränkung und Zwang berücksichtigt.
  • darauf hinzuwirken, dass Gewaltschutz für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Schutzkonzepten besondere Berücksichtigung findet.
  • bei zukünftigen Überprüfungen von kinderrechtlichen Strukturen und Aktivitäten in Nord­rhein-Westfalen insbesondere auch den inklusiven Kinderschutz zu berücksichtigen.
  • die Netzwerkarbeit im Bereich sexualisierte Gewalt hinsichtlich Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu stärken.
  • zu prüfen, ob Schulungsprogramme für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Kinder­schutz (z.B. Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter, Lehrerinnen/Lehrer, Polizei) entwickelt und umgesetzt werden können; hierbei soll ein Bewusstsein für die speziellen Bedürf­nisse und Herausforderungen von Kindern mit verschiedenen Behinderungen geschaf­fen werden.
  • auf bestehende Fördermöglichkeiten für die Entwicklung von barrierefreien und aufsu­chenden Hilfe-, Präventions- und Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sowie Informationen in leichter Sprache aufmerksam zu machen.
  • zu prüfen, ob Schulungsprogramme für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren von Ge­bärdensprache entwickelt und umgesetzt werden können; dabei sollen speziell Fach­kräfte des Kinderschutzes in den Blick genommen werden.
  • zu prüfen, welche Bedarfe beim medizinischen Kinderschutz explizit für Kinder und Ju­gendliche mit Behinderungen existieren und wie er gestärkt werden kann.