I. Ausgangslage
Jährlich werden in Deutschland mehr als 140.0001 Delikte häuslicher Gewalt aufgenommen. Im Jahr 2018 wurden davon 37.000 Fälle in NRW statistisch gezählt. Überwiegend sind es Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind und Zuflucht in einem Frauenhaus suchen.
Mit der 2018 erfolgten Ratifikation des Gesetzes zum „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, der sogenannten Istanbul-Konvention, wurde der Schutz von Frauen und Kindern in Deutschland weiter gestärkt. Die Konvention zielt auf die Stärkung der Gleichberechtigung von Mann und Frau und des Rechts von Frauen und Kindern auf ein gewaltfreies Leben.2 Eine zentrale Einrichtung zur Umsetzung dieses Schutzes sind Frauenhäuser. Die Frauenhäuser in Nordrhein-Westfalen bieten nicht nur Schutz für Mütter, sondern auch für Kinder, die mittel-oder unmittelbar von häuslicher Gewalt betroffen sind. Einerseits erleben Kinder die Gewalt gegen ihre Mutter, andererseits werden sie häufig selbst Opfer. Kinder haben durch bewusstes oder unbewusstes eigenes Erleben den gewalttätigen Vater/Partner mitertragen und waren selbst psychischer oder physischer Gewalt oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Sie sind oft in hohem Maße verunsichert und haben erfahren müssen, wie schutz-, hilflos und ohnmächtig sie sein können.
Laut der „20. FHK-Bewohner_innenstatistik 2019“, die im Jahr 2020 veröffentlicht wurde, finden in den Frauenhäusern in Deutschland immer mehr Kinder Schutz und ihre Zahl übersteigt mittlerweile die Anzahl an Zuflucht suchenden Frauen. So haben im Jahr 2019 in den bundesweit 182 Frauenhäusern 7.045 Erwachsene sowie 8.134 Kinder Schutz erhalten.3 Es ist gerade in der aktuellen Pandemiezeit wichtig, dass NRW seiner Pflicht nachkommt und die besondere Situation von Kindern in Frauenhäusern in den Blick nimmt, um ihnen gezielt Schutz und Unterstützung zu bieten.
Das Institut für Menschenrechte hat im Januar 2018 eine Publikation mit dem Titel „Die Istanbul-Konvention: Neue Impulse für die Bekämpfung geschlechterspezifischer Gewalt“4 herausgegeben, in welcher unter anderem auch auf den Schutz und die Beratung von Mädchen und Jungen in Frauenhäusern hingewiesen wird. Artikel 26 der Konvention fordert, dass Kinder einen eigenen Schutz- und Unterstützungsbedarf haben und spezialisierte Angebote vorhanden sein müssen. Das Institut für Menschenrechte empfiehlt Maßnahmen in Bezug auf Kinderschutz zu priorisieren.
Kinder und häusliche Gewalt
Mit der Aufnahme von Kindern sind Frauenhäuser vor die Herausforderung gestellt, nicht nur Müttern, sondern auch Kindern mit Gewalterfahrungen angemessen beizustehen. Diese Kinder, die aufgrund ihres Elternhauses erheblichen Risiken ausgesetzt sind, werden häufig vergessen. Denn aufgrund ihrer biographischen Erfahrung kommt es nicht selten vor, dass ehemals betroffene Kinder in ihrem späteren Leben selber zu Tätern oder Opfern werden und sich somit im Teufelskreis der Gewalt befinden. Kinder als Opfer körperlicher oder emotionaler Misshandlung sind meist starker Angst und emotionaler Überforderung ausgesetzt. Nicht zuletzt lösen die innerfamiliären Gewalterfahrungen innere Konflikte bei Kindern aus, denn die Menschen, die eigentlich das Kind vor Gefahren schützen sollen, werden nun selbst zur Bedrohung oder müssen selbst Schutz vor Gewalt suchen. Aus diesem Grund brauchen auch sie Unterstützung und Beratungsmöglichkeiten in Frauenhäusern, durch welche sie diese traumatischen Erlebnisse bewältigen können.
Im Rahmen der Studie „Kinder im Frauenhaus. Bamberg: Staatsinstitut für Familienforschung, ifb-Forschungsbericht Nr. 3.“ wurde ermittelt, wie Kinder den Aufenthalt im Frauenhaus erleben. Besonderes Augenmerk galt auch kindlichen Bewältigungsstrategien und den von den Kindern als besonders hilfreich erfahrenen bzw. von ihnen vermissten Angeboten der Einrichtungen.5 Der Aufenthalt in den Frauenhäusern wird genutzt, um die unmittelbare Belastung durch die erlebte Gewalt mit ihren Folgen und Auswirkungen wahrzunehmen sowie Gefährdungsaspekte in den Blick zu nehmen. Kinder brauchen dabei spezifische am Kind orientierte Angebote, um Gewalterfahrungen bewältigen zu können und ihre Folgen zu überwinden.
Fortbildungen und Qualifizierungen
Frauenhäuser übernehmen zentrale Unterstützungs- und Koordinierungsaufgaben, auch für Kinder und Jugendliche – und kompensieren dabei bestmöglich bestehende Lücken und Mängel in der Regelversorgung.6 Fortbildungen und weiterführende Qualifizierungen sind zur Unterstützung der Erfüllung dieser wichtigen Aufgaben immens wichtig. Frauenhäuser müssen so ausgestattet sein, dass sie beratende und therapeutische Unterstützung und Versorgung gewährleisten können, damit Frauen und Kinder einen wirklichen Neustart wagen können.
Kinder mit traumatischen Erlebnissen müssen adäquat aufgefangen werden, um psychische Folgen, wie Angstzustände, Schlafstörungen bis hin zu Verhaltensauffälligkeiten und Suizidgedanken bewältigen zu können. Daher sind gezielte Maßnahmen notwendig, die traumasensible Arbeit mit den im Frauenhaus lebenden Mädchen und Jungen fördern und weiterentwickeln zu können. Die Frauenhausmitarbeiterinnen sind auch wichtige Brückenbauerinnen für therapeutische Maßnahmen, häufig jedoch sind die Wartezeiten in diagnostische und therapeutische Einrichtungen zu lang. Aus diesem Grund ist die finanzielle und qualifizierende Förderung der Mitarbeiterinnen in diesem Feld von besonderer Relevanz. Im Zuge des notwendigen Ausbaus der Frauenhausplätze ist es dringend erforderlich, sozialpädagogische Fachkraftstellen (Sozialarbeiterinnen/Pädagoginnen, Diplom, B.A., M.A.) für die Arbeit mit den im Frauenhaus lebenden Kindern in die Landesförderung aufzunehmen. Frauenhäuser, die bereits einen besonderen Fokus auf die Arbeit mit den Kindern legen und traumasensibel arbeiten, sollten in die Erarbeitung einer landesweiten Konzeptionierung einbezogen werden.
II. Feststellungen
- Der Landtag stellt fest:
- Es fehlen fundierte empirische Daten über die psychischen Belastungen von Kindern in Frauenhäusern.
- Menschen, die in ihrer Kindheit Opfer oder Zeugen von Gewalt waren, haben ein doppelt so hohes Risiko ebenfalls gewalttätig oder Opfer zu werden. Langfristige Auswirkungen des Gewalterlebens bei Kindern und Jugendlichen sollten abgemildert und die generationelle Weitergabe von Gewalt auch durch die frühzeitige Hilfe und Arbeit von Frauenhäusern verhindert werden.
- Die Frauenhilfeinfrastruktur ist derzeit nur auf das Wohlbefinden der Frau und weniger auf das Wohlbefinden der Kinder ausgerichtet.
- Es fehlen in den Frauenhäusern die personellen Ressourcen für eine angemessene Betreuung der Kinder. Es stehen oft kaum Mittel für entsprechende Angebote zur Verfügung, welche auch die große Altersspanne der Kinder abdecken.
- Es fehlen Mittel, um spezifische Konzepte und Versorgungsangebote für Kinder in Frauenhäusern, die auf die Erfahrungen von Trauma und Gewalt ausgerichtet sind, weiter zu entwickeln und diese systematisch und dauerhaft in der Praxis vorzuhalten.
III. Beschluss
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- sich auf Bundesebene für einen Rechtsanspruch auf staatlichen Schutz über ein Geldleistungsgesetz für die Frauen und Kinder, die von Gewalt betroffen sind, unabhängig von Aufenthaltstitel, Wohnort und Einkommen, einzusetzen;
- empirische Forschung zur Situation und den Belastungen von Kindern in Frauenhäusern zu fördern bzw. zu beauftragen;
- eine Erweiterung der Primärprävention durch geschlechtersensible Ansätze in der pädagogischen Arbeit in Kitas, Jugendeinrichtungen und Schulen sicherzustellen;
- in einen Dialog mit den Hochschulen einzutreten, mit dem Ziel, dass in mehr Studiengängen der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik das Thema häusliche Gewalt Bestandteil des Curriculums wird; eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Frauenschutzeinrichtungen, Einrichtungen der Gesundheitshilfe und der Jugendhilfe zur Unterstützung der betroffenen Kinder zu entwickeln;
- eigenständige qualifizierte Angebote für Kinder und Jugendliche in Frauenhäusern und den Unterstützungseinrichtungen zu installieren und konzeptionell zu verankern;
- Qualifizierungsmaßnahmen für Mitarbeiter*innen in Jugendämtern zu häuslicher Gewalt in Bezug auf Kinder einzuführen;
- Qualifizierungsmaßnahmen für die traumapädagogische Weiterbildung der Mitarbeiterinnen im Umgang mit traumatisierten Kindern zusammen mit den Frauenhäusern dauerhaft zu installieren und weiterzuentwickeln und dabei Ressourcen für Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich der Supervision fortzusetzen;
- effektive Qualitätsmaßnahmen wie die räumliche, personelle und sachliche Ausstattung in Bezug auf Kinder in Frauenhäusern zu garantieren;
- eine feste Regelung sicherzustellen für qualifizierte Dolmetscherinnen und Dolmetscher, um dem hohen Anteil von Frauen und deren Kinder mit Migrationshintergrund in den Frauenhäusern gerecht zu werden, wie zum Beispiel den Einsatz von Finanzierungsinstrumenten für qualifizierte Dolmetscherinnen;
- ein Konzept für die Einrichtung einer Clearing- und Akutaufnahmestelle für Frauen und Kinder, die Gewalt erlebt haben, zu erarbeiten.
2 https://buendnis-kinderschutz-mv.de/cms/upload/49_Buendnis_aktuell_Istanbul.pdf
menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Analyse_Istanbul_Konvention.pdf