Istanbul-Konvention konsequent umsetzen – Mädchen und Frauen vor Gewalt schützen

Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und GRÜNEN zum Antrag der Fraktionen von CDU und FDP „40 Jahre Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen“

Portrait Josefine Paul

I. Ausgangslage

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein fundamentaler Verstoß gegen die Grund- und Men­schenrechte. Doch leider erleben Frauen und Mädchen geschlechtsbezogene Gewalt nach wie vor als ein alltägliches Phänomen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet Ge­walt gegen Frauen als eines der größten Gesundheitsrisiken von Frauen weltweit.

Der 25. November wird international als Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen began­gen. Die Vereinten Nationen bestimmten diesen Tag 1999 zum „Internationalen Tag zur Be­seitigung von Gewalt gegen Frauen“. Bereits seit 1981 organisieren Frauen- und Menschen­rechtsorganisationen jedes Jahr am 25. November Aktionen, um auf die unterschiedlichen Formen von Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen und für ihre Beseitigung einzutreten. Damit jährt sich dieser Gedenktag in diesem Jahr zum 40. Mal. Die Notwendigkeit eines solchen Gedenktages, aber vor allem einer ganzheitlichen politischen Strategie für Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen, machen Studien und jährliche Kriminalstatistiken deutlich.

Die Europäische Grundrechteagentur (FRA) hat in einer EU-weiten Erhebung 2014 konkrete Zahlen zu den Gewalterfahrungen von Frauen und Mädchen geliefert. Daraus ergibt sich, dass europaweit jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer von physischer und/oder sexuali­sierte Gewalt geworden ist. Besonders häufig wird Gewalt von Männern ausgeübt. Sowohl Täter als auch Täterinnen kommen meist aus dem direkten sozialen Umfeld. Jede fünfte Frau gibt an, Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner oder -partnerinnen erlebt zu haben. Die kriminalistischen Auswertungen zur Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalam­tes zeigen für das Jahr 2019, dass jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen war.

In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2020 insgesamt 29.155 Fälle von Häuslicher Gewalt erfasst. Im Vergleich zum Vorjahr macht dies einen Anstieg von 7,7 Prozent aus. Zu den Deliktbereichen mit steigenden Fallzahlen im Zeitraum 2019 bis 2020 gehören unter anderem Vergewaltigungen (Anstieg um 5,7 Prozent), sexuelle Nötigung (Anstieg um 24,5 Prozent) und Nachstellung/Stalking (Anstieg um 2,4 Prozent).

Besonders erschreckend sind die Zahlen der Tötungen und Straftaten mit Todesfolge oder versuchten Tötungen durch eine (Ex-)Partnerin oder einen (Ex-)Partner. Im Jahr 2019 wurden 799 Frauen getötet. Davon 307 durch (ehemalige) Beziehungspartnerinnen bzw. -partner.

Zwar legen die aktuellen Zahlen nahe, dass die Bereitschaft, Hilfe bei der Polizei zu suchen und eine erlittene Gewalttat zur Anzeige zu bringen, steigt. Trotzdem ist nach wie vor von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Die Dunkelfeldstudie des Landeskriminalamtes (LKA) Niedersachsen für das Jahr 2017 geht von einer Anzeigenquote im Bereich der Sexualdelikte von gerade einmal 6,2 Prozent aus.

Die Dunkelfeldstudie „Sicherheit und Gewalt in Nordrhein-Westfalen“ weist für den Bereich der Partnerschaftsgewalt aus, dass 25,6 Prozent, also jede vierte Person in NRW, im Laufe des Lebens Formen partnerschaftlicher Gewalt erlebt hat. Die Studie macht allerdings keine Aus­sagen zu geschlechtsspezifischer Betroffenheit. Der Alternativbericht des „Bündnis Istanbul-Konvention“ zum Umsetzungsstand der Istanbul-Konvention in Deutschland (https://www.buendnis-istanbul-konvention.de/wp-content/uploads/2021/03/Alternativbericht-BIK-2021.pdf) verweist darauf, dass es eine zunehmende „Entgeschlechtlichung“ von Maßnahmen gegen häusliche Gewalt gibt. Trotz der unbestrittenen Wichtigkeit, Unterstützungsstrukturen bei Gewaltbetroffenheit für alle Geschlechter vorzuhalten, darf dies nicht die besondere Betroffenheit von Frauen und Mädchen bei geschlechtsbezogener Gewalt verschleiern:

„Eine geschlechtliche Machtverhältnisse ignorierende Perspektive auf Gewalt verkennt, dass Gewalt gegen Frauen im Zusammenhang mit Kontrolle von Frauen und einem ungleichen Machtverhältnis der Geschlechter steht, das es ebenso wie die Gewalt zu überwinden gilt.“ ( https://www.buendnis-istanbul-konvention.de/wp-content/uploads/2021/03/Alternativbericht-BIK-2021.pdf, S.15)

Die Dunkelfeldstudie liefert wichtige Erkenntnisse über Gewalterfahrungen, Anzeigeverhalten sowie Sicherheitsempfinden der Menschen in Nordrhein-Westfalen. Mit Blick auf die Auskömmlichkeit und Struktur der Gewaltschutzeinrichtungen in NRW ist die Dunkelfeldstudie al­lerdings nur von bedingter Aussagekraft, weil es sich um eine Befragung der Bürgerinnen und Bürger handelt. Belastbare Aussagen zum Hilfe- und Unterstützungssystem für Frauen und Mädchen sollten über die durch das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleich­stellung (MHKBG) beauftragte Bedarfsanalyse erhoben werden. Die mittlerweile vorliegenden Ergebnisse der Studie müssen endlich durch das MHKBG veröffentlicht werden. Dass dies noch immer nicht geschehen ist, ist nicht zuletzt mit Blick auf eine vertrauensvolle Zusammen­arbeit zwischen Ministerium und der Frauenhilfeinfrastruktur und einer fundierten, dialogischen Weiterentwicklung des Systems, ein schweres Versäumnis.

Anstieg häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie

So angespannt die Lage vor der Corona-Pandemie in vielen Partnerschaften auch war – sie hat sich im Rahmen der Kontaktbeschränkungen während der Lockdown-Phasen eklatant ver­stärkt. Die Technische Universität München stellte in einer der ersten Untersuchungen zu der Frage von häuslicher Gewalt während der Lockdowns heraus, dass rund drei Prozent der Frauen in Deutschland in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zuhause Opfer körperlicher Gewalt wurden. 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. Noch höher liegen die Fallzahlen bei Frauen, die in Quarantäne waren, und bei Familien, die finanzielle Sorgen hatten.

Durch fehlende Kinderbetreuung, beengte Wohnverhältnisse und Zukunftsängste stieg in der Corona-Krise bei vielen Familien auch der Stress-Level, welcher sich nicht selten in zuneh­mender häuslicher Gewalt niederschlug. Gleichzeitig führte die Krisensituation dazu, dass viele Frauen mit ihren Kindern die Schutzeinrichtungen nicht aufsuchten. Zum einen, weil sie die Gesamtsituation für die Familie nicht verschärfen wollten oder keine ausreichende Pri­vatsphäre hatten um Hilfestrukturen sicher zu kontaktieren und zum anderen, weil sie sich und ihren Kindern keiner weiteren Ungewissheit aussetzen wollten. Gleichzeitig erzeugte die stän­dige Nähe zum Täter eine enorme Drohkulisse, die sich wiederrum im Ausspielen von Macht­verhältnissen in der Beziehung manifestiert.

Prävention und Schutz stärken

Der Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt und die Prävention geschlechtsbezogener Gewalt aufgrund von geschlechtlicher und/oder sexueller Identität ist eine gesamtgesellschaft­liche Aufgabe und Verantwortung. Der Europarat verabschiedete daher im Mai 2011 das „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – aufgrund seines Verabschiedungsortes kurz „Istanbul-Konvention“ genannt. Dieses Abkommen wurde vom Deutschen Bundestag am 1. Juni 2017 ratifiziert.

Am 01. Februar 2018 trat die sog. Istanbul-Konvention damit auch in Deutschland in Kraft. Deutschland verpflichtet sich dadurch, Schutz- und Hilfedienste für gewaltbetroffene Frauen bereitzustellen. Neben der Frauenhilfeinfrastruktur zählen dazu auch Hilfe und Unterstützung in Bezug auf juristische Mittel sowie die Sensibilisierung von Polizei und Justiz. Die Istanbul-Konvention fordert von den Unterzeichnerstaaten ganzheitliche Konzepte zur nachhaltigen Bekämpfung von geschlechtsbezogener Gewalt und die Überwachung der Umsetzung ein.

Der Alternativbericht des „Bündnis Istanbul-Konvention“ zeigt mit Blick auf den Umsetzungs­stand der Istanbul-Konvention Nachholbedarfe auf. So wird beispielsweise für die Erhebungs­phase der Bedarfsanalyse des MHKBG darauf hingewiesen, dass hier Gewaltschutzeinrich-tungen für Mädchen nicht einbezogen wurden, obwohl sich die Istanbul-Konvention auch auf den Schutz von Mädchen bezieht. Auch mit Blick auf Frauen mit Behinderung werden Schutz­lücken identifiziert. Frauen mit Behinderung erfahren durchschnittlich doppelt so häufig Gewalt wie Frauen ohne Beeinträchtigung. Eine durchgängige Berücksichtigung bei den Maßnahmen des Gewaltschutzes erfahren sie hingegen nicht. Gleiches gilt für weitere vulnerable Gruppen, wie geflüchtete Frauen, LBTI*-Personen sowie wohnungslose und Drogen konsumierende Frauen. Zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und umfassendem Schutz und Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen fordert das Bündnis u.a. eine ressortübergreifende Gesamtstrategie. Dabei stehen die Länder in einer besonderen Verantwortung, denn in unse­rem föderalen System sind sie in erster Linie für die Umsetzung des Gewaltschutzes verant­wortlich.

Zur Umsetzung einer Gesamtstrategie hat die frühere rot-grüne Landesregierung in einem partizipativen Prozess, unter Federführung des Emanzipationsministeriums, einen Landesak-tionsplan „NRW schützt Frauen und Mädchen vor Gewalt“ erarbeitet und 2016 dem Landtag vorgelegt. Neben der Frauenhilfeinfrastruktur waren auch die kommunalen Spitzenverbände sowie unterschiedliche Ressorts der damaligen Landesregierung und die jeweils im Landtag vertretenen Fraktionen Teil der Steuerungsgruppe zur Erarbeitung des Landesaktionsplans. Der Landesaktionsplan bündelt die Maßnahmen aus dem Bereich der Prävention von Gewalt, des Hilfesystems zum Schutz vor und Hilfe bei Gewalt und der Sensibilisierung von Fachkräf­ten und Öffentlichkeit für das Thema geschlechtsspezifische Gewalt. Dabei gibt der Landes-aktionsplan einen Überblick über die bestehenden Maßnahmen und Aktivitäten, Weiterent­wicklungen und stellt Handlungserfordernisse heraus. Der Landesaktionsplan bildet damit eine Grundlage zur fortwährenden Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur und des gesamt­gesellschaftlichen Umgangs mit geschlechtsspezifischer Gewalt und ihren Folgen. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte angekündigt, die Umsetzung des Landesaktionsplans weiter fortzusetzen. Die nun vom MHKBG angekündigte Initiative für einen „Nordrhein-West­falen Pakt gegen Gewalt“ wird diesem Anspruch allerdings nicht gerecht. Statt eines partizipa-tiven Prozesses zur Absicherung und Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur, sorgen die Ankündigungen von Frau Ministerin Scharrenbach für erhebliche Irritationen und Verunsi­cherungen bei Einrichtungen, Trägern und Kommunen. Statt nun beispielsweise das umstrit­tene Konzept sog. „Powerhäuser“ schlicht von oben durchzusetzen, sollte die strukturelle Wei­terentwicklung in einem gemeinsamen Prozess mit allen Beteiligten vorangetrieben werden.

Bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Maßnahmen im Sinne der Istanbul-Konvention kann NRW bereits auf ein seit Jahrzehnten gewachsenes und hochdifferenziertes Schutz- und Hilfesystem für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder zurückgreifen. Die Expertise und Erfahrungen der vielen engagierten Akteurinnen und Akteure in diesem Bereich müssen in die Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur einfließen. Durch die Istanbul-Konvention wird die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung effektiver und nachhaltiger Maßnahmen zu Gewaltschutz und Prävention noch einmal gestärkt. So ist die Beteiligung nicht-staatlicher Organisationen bei der Erarbeitung umfassender Strategien gegen geschlechtsspezifische Gewalt normiert worden.

Umfassende Koordinierung und Monitoring aufbauen

Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu umfassenden Koordinierungs- und Monitoringprozessen. Dazu gehört neben der Forschung und Erhebung von Daten auch die Evaluation von Maßnahmen. Durch den Monitoringprozess soll beobachtet werden, wie und mit welcher Wirksamkeit die Maßnahmen auf den unterschiedlichen Ebenen umge­setzt werden. Dazu sollen Koordinierungs- und Monitoringstellen aufgebaut werden. In unse­rem föderalen System mit seinen gemeinsamen Zuständigkeiten für den Gewaltschutz und die Gewaltprävention ist es sinnvoll, auch in den Bundesländern solche Stellen aufzubauen.

Die Istanbul-Konvention steht in einer engen Wechselbeziehung zu anderen Menschen­rechtskonventionen, zu deren Umsetzung Deutschland sich verpflichtet hat. So ist es insbe­sondere Aufgabe einer Koordinierungs- und Monitoringstelle, die Zielsetzungen der unter­schiedlichen Konventionen, wie der UN-Kinderrechtskonvention und der UN-Behinderten-rechtskonvention, in Bezug auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Einklang zu bringen.

  1. Der Landtag stellt fest:

–        Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eine Menschenrechtsverletzung. Mit dem Inkraft­treten der Istanbul-Konvention am 01.02.18 ist auch Nordrhein-Westfalen verpflichtet, umfassende Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt zu ergreifen und eine bedarfsgerechte Frauenhilfeinfrastruktur zu gewährleisten.

–        Mit dem Landesaktionsplan „NRW schützt Frauen und Mädchen vor Gewalt“ verfügt Nordrhein-Westfalen über eine umfassende Aufstellung bereits bestehender Maßnah­men. Dieser sollte die Grundlage für die fortwährende Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur, insbesondere im Hinblick auf bestehende Versorgungsprobleme bilden.

–          Die Corona-Pandemie hat die Situation von häuslicher Gewalt in vielen Familien und Partnerschaften noch weiter verschärft.

–          Dass der „Nordrhein-Westfalen Pakt gegen Gewalt“ die obigen Zielsetzungen weder er­füllt noch weiterentwickelt und zudem durch mangelnde Transparenz die Frauenhilfeinfrastrukturen gegeneinander ausspielt.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. Den Landesaktionsplan „NRW schützt Frauen und Mädchen vor Gewalt“ im Sinne einer ganzheitlichen und ressortübergreifenden Gesamtstrategie, die allen Frauen und Mäd­chen Schutz und Unterstützung bei Gewalt leistet, weiterzuentwickeln und Schutzlücken zu schließen.
  2. Eine Koordinierungs- und Monitoringstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in NRW einzurichten.
  3. Maßnahmen zu ergreifen, die insbesondere die barrierefreie Zugänglichkeit der Frauen-hilfeinfrastruktur und Informationen zu Gewaltschutz und Gewaltprävention sowie den Gewaltschutz in Einrichtungen der Behindertenhilfe stärken und damit eine bessere Verzahnung der Behindertenhilfe mit der Frauenhilfe ausbauen.
  4. Die Bevölkerung stärker über die bestehenden Hilfsmöglichkeiten der Frauenhilfe-infra-struktur zu informieren, damit die Bekanntheit von Hilfeangeboten für Gewaltbetroffene flächendeckend gegeben ist.
  5. Dem Landtag regelmäßig über den Stand der Umsetzung der Istanbul-Konvention in Nordrhein-Westfalen zu berichten.
  6. Bei den Maßnahmen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention die speziellen Bedürfnisse von gewaltbetroffen Mädchen zu berücksichtigen und u.a. das bestehende Hilfesystem zu sichern und entsprechend der Bedarfe auszubauen.
  7. Die gravierenden Auswirkungen von sexualisierter Gewalt im Netz auf Mädchen und junge Frauen mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen aufzugreifen und den Schutz vor digitaler Gewalt stärker in die Erarbeitung von Schutzkonzepten zu integrieren.