Istanbul-Konvention konsequent umsetzen – Mädchen und Frauen vor Gewalt schützen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Josefine Paul

I. Ausgangslage

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein fundamentaler Verstoß gegen die Grund- und Menschenrechte. Doch leider erleben Frauen und Mädchen geschlechtsbezogene Gewalt nach wie vor als ein alltägliches Phänomen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet Gewalt gegen Frauen als eines der größten Gesundheitsrisiken von Frauen weltweit.
Die Europäische Grundrechteagentur (FRA) hat in einer EU-weiten Erhebung 2014 konkrete Zahlen zu den Gewalterfahrungen von Frauen und Mädchen geliefert. Daraus ergibt sich, dass europaweit jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer von physische und/oder sexualisierte Gewalt geworden ist. Besonders häufig wird Gewalt von Männern ausgeübt. Sowohl Täter als auch Täterinnen kommen meist aus dem direkten sozialen Umfeld. Jede fünfte Frau gibt an, Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner oder –partnerinnen erlebt zu haben.
Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2004 kommt für Deutschland gar zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der Frauen in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt werden. 58 Prozent der Befragten gaben an, unterschiedliche Formen sexueller Belästigung erlebt zu haben.
Die offizielle Kriminalstatistik weist hingegen weitaus weniger Fälle aus, auch wenn die Zahl angezeigter Delikte in den letzten Jahren gestiegen ist. Allein im Jahr 2016 sind nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) rund 82.000 Fälle von einfacher und schwerer Körperverletzung zur Anzeige gebracht worden.
Besonders erschreckend sind die Zahlen der Tötungen und Straftaten mit Todesfolge oder versuchten Tötungen durch eine (Ex-)Partnerin oder einen (Ex-)Partner. Im Jahr 2016 wurden 475 Frauen getötet. Davon 165 durch (ehemalige) Beziehungspartnerinnen bzw. -partner. Dazu kommen 208 Fälle von versuchtem Mord oder Totschlag.
Zwar legen die aktuellen Zahlen nahe, dass die Bereitschaft, Hilfe bei der Polizei zu suchen und eine erlittene Gewalttat zur Anzeige zu bringen steigt, trotzdem ist nach wie vor von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Die Dunkelfeldstudie des Landeskriminalamtes (LKA) Niedersachsen für das Jahr 2017 geht von einer Anzeigenquote im Bereich der Sexualdelikte von gerade einmal 6,2 Prozent aus.

Prävention und Schutz stärken

Der Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt und die Prävention geschlechtsbezogener Gewalt aufgrund von geschlechtlicher und/oder sexueller Identität ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung. Der Europarat verabschiedete daher im Mai 2011 das „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – aufgrund seines Verabschiedungsortes kurz „Istanbul-Konvention“ genannt. Dieses Abkommen wurde vom Deutschen Bundestag am 1. Juni 2017 ratifizierte.
Am 1. Februar 2018 trat die sog. Istanbul-Konvention damit auch in Deutschland in Kraft. Deutschland verpflichtet sich dadurch, Schutz- und Hilfedienste für gewaltbetroffene Frauen bereitzustellen. Neben der Frauenhilfeinfrastruktur zählen dazu auch Hilfe und Unterstützung in Bezug auf juristische Mittel sowie die Sensibilisierung von Polizei und Justiz. Die Istanbul- Konvention fordert von den Unterzeichnerstaaten ganzheitliche Konzepte zur nachhaltigen Bekämpfung von geschlechtsbezogener Gewalt und die Überwachung der Umsetzung ein.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte attestiert Deutschland eine gute Grundlage, um die Anforderungen der Istanbul-Konvention umzusetzen. Es sieht vor allem die Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 2017, die Einführung psychosozialer Prozessbegleitung, Regelungen zur Gleichstellung und Gleichbehandlung sowie das Gewaltschutzgesetz und seine Umsetzung in den jeweiligen Polizeigesetzen als wichtige Schritte an. Dennoch ist das Ziel, Frauen und Mädchen vollumfänglich vor Gewalt zu schützen, noch immer nicht erreicht. Gerade aus diesem Grund ist es auch nicht nachvollziehbar, dass die Bundesregierung bei der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention einen Vorbehalt gegen Artikel 59 Absatz 2 und 3 eingelegt hat. Mit diesem Vorbehalt wird die besonders schutzbedürftige Gruppe der geflüchteten und migrierten Frauen faktisch in ihrem Recht auf ein gewaltfreies Leben beschnitten. Denn vor der Beendigung der sogenannten „Ehebestandszeit“ erhalten Frauen die Gewalt in ihrer Ehe erfahren keinen unabhängigen Aufenthaltstitel. Frauen aus Drittstaaten müssen also bis zu drei Jahre in ihren gewalttätigen Partnerschaften verharren, sofern sie in Deutschland bleiben wollen. Entgegen der Istanbul-Konvention verweigert sich die Bundesregierung Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausweisungsverfahren von Frauen die Opfer von Gewalt sind auszusetzen bzw. ihnen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel zu verleihen. Eine Rücknahme dieses Vorbehalts wäre dringend geboten.
Aber nicht nur die Bundesebene ist bei der stetigen Verbesserung des Schutzes von Frauen und Mädchen gefordert. Auch die Länder sind verpflichtet, zur Umsetzung der Istanbul- Konvention beizutragen. In einem partizipativen Prozess hat deshalb die frühere rot-grüne Landesregierung, unter Federführung des Emanzipationsministeriums, einen Landesaktionsplan „NRW schützt Frauen und Mädchen vor Gewalt“ erarbeitet und 2016 dem Landtag vorgelegt. Neben der Fraueninfrastruktur, waren auch die kommunalen Spitzenverbände sowie unterschiedliche Ressorts der damaligen Landesregierung und die jeweils im Landtag vertretenen Fraktionen Teil der Steuerungsgruppe zur Erarbeitung des Landesaktionsplans. Der Landesaktionsplan bündelt die Maßnahmen aus dem Bereich der Prävention von Gewalt, des Hilfesystems zum Schutz vor und Hilfe bei Gewalt und der Sensibilisierung von Fachkräften und Öffentlichkeit für das Thema geschlechtsspezifische Gewalt. Dabei gibt der Landesaktionsplan einen Überblick über die bestehenden Maßnahmen und Aktivitäten, Weiterentwicklungen und stellt Handlungserfordernisse heraus. Der Landesaktionsplan bildet damit eine Grundlage zur fortwährenden Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur und des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit geschlechtsspezifischer Gewalt und ihren Folgen. Die schwarz-gelbe Landesregierung hat angekündigt, die Umsetzung des Landesaktionsplans weiter fortzusetzen. Dies wird ausdrücklich begrüßt.
Bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Maßnahmen im Sinne der Istanbul-Konvention kann NRW auf ein seit Jahrzehnten gewachsenes und hochdifferenziertes Schutz- und Hilfesystem für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder zurückgreifen. Die Expertise und Erfahrungen der vielen engagierten Akteurinnen und Akteure in diesem Bereich müssen auch zukünftig in die Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur einfließen. Durch die Istanbul- Konvention wird die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung effektiver und nachhaltiger Maßnahmen zu Gewaltschutz und Prävention noch einmal gestärkt. So ist die Beteiligung nicht-staatlicher Organisationen bei der Erarbeitung umfassender Strategien gegen geschlechtsspezifische Gewalt normiert worden.
Vor allem der Ausbau des Hilfesystems zu einer umfassenden, barrierefreien/barrierearmen und nachhaltig finanzierten Hilfeinfrastruktur liegt in der Mitverantwortung der Länder. Bislang zeigen sich Lücken im Hilfesystem, wie aus der bundesweiten Bestandsaufnahme des damaligen Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2013 hervorgeht. Insbesondere Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen oder suchtkranke Frauen haben häufig kaum Zugang zu den Angeboten der Frauenhilfeinfrastruktur. Darüber hinaus haben Frauen mit Behinderung nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Frauenhäusern oder Frauenberatungsstellen, weil vor allem Frauenhäuser oftmals nicht barrierefrei sind. Dabei zeigte die Studie des Bundesfamilienministerium „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland“ schon 2013, dass die Gruppe der Frauen mit Behinderungen noch einmal im besonderen Maße von Gewalt betroffen ist. Deshalb braucht es ausreichend niedrigschwellige und barrierefreie Schutz- und Unterstützungsangebote.
Auch die eigenständige Unterstützung von Kindern in Frauenhäusern muss weiter ausgebaut werden. Die von der Landesregierung angestrebte Bestandsaufnahme zur Frauenhilfeinfrastruktur muss neben diesen zentralen Fragen auch die unterschiedliche Versorgungssituation und den regional unterschiedlichen Zugang zu Angeboten der Frauenhilfeinfrastruktur in den Blick nehmen. So zeigt die bundesweite Bestandsaufnahme auch, dass es in einzelnen Ballungszentren und im ländlichen Raum nach wie vor Versorgungsprobleme gibt.

Umfassende Koordinierung und Monitoring aufbauen

Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu umfassenden Koordinierungs- und Monitoringprozessen. Dazu gehört neben der Forschung und Erhebung von Daten auch die Evaluation von Maßnahmen. Durch den Monitoringprozess soll beobachtet werden, wie und mit welcher Wirksamkeit die Maßnahmen auf den unterschiedlichen Ebenen umgesetzt werden. Dazu sollen Koordinierungs- und Monitoringstellen aufgebaut werden. In unserem föderalen System mit seinen gemeinsamen Zuständigkeiten für den Gewaltschutz und die Gewaltprävention ist es sinnvoll, auch in den Bundesländern solche Stellen aufzubauen.
Die Istanbul-Konvention steht in einer engen Wechselbeziehung zu anderen Menschenrechtskonventionen, zu deren Umsetzung Deutschland sich verpflichtet hat. So ist es insbesondere Aufgabe einer Koordinierungs- und Monitoringstelle, die Zielsetzungen der unterschiedlichen Konventionen, wie der UN-Kinderrechtskonvention und der UN- Behindertenrechtskonvention, in Bezug auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Einklang zu bringen.

II. Der Landtag stellt fest:

  • Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eine Menschenrechtsverletzung. Mit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention am 1.2.2018 ist auch Nordrhein-Westfalen verpflichtet, umfassende Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt zu ergreifen und eine bedarfsgerechte Frauenhilfeinfrastruktur zu gewährleisten.
  • Mit dem Landesaktionsplan „NRW schützt Frauen und Mädchen vor Gewalt“ verfügt Nordrhein-Westfalen über eine umfassende Aufstellung bereits bestehender Maßnahmen. Dies bildet die Grundlage für die fortwährende Weiterentwicklung der Frauenhilfeinfrastruktur, insbesondere im Hinblick auf bestehende Versorgungsprobleme.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. Den Landesaktionsplan „NRW schützt Frauen und Mädchen vor Gewalt“ im Sinne einer konsequenten Umsetzung der Istanbul-Konvention umzusetzen und weiterzuentwickeln.
  2. Eine Koordinierungs- und Monitoringstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in NRW einzurichten.
  3. Maßnahmen zu ergreifen, die insbesondere die barrierefreie Zugänglichkeit der Frauenhilfeinfrastruktur und Informationen zu Gewaltschutz und Gewaltprävention sowie den Gewaltschutz in Einrichtungen der Behindertenhilfe gewährleisten.
  4. Eine Dunkelfeldstudie zu geschlechtsspezifischer Gewalt in Auftrag zu geben.
  5. Dem Landtag regelmäßig über den Stand der Umsetzung der Istanbul-Konvention in Nordrhein-Westfalen zu berichten.
  6. Sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass der Vorbehalt gegen Artikel 59 zurück genommen wird.