Ds. 16/122 Umsatzsteuerliche Einordnung öffentlicher Leistungen bedroht die interkommunale Zusammenarbeit: Kommunale Gemeinschaftsarbeit sichern!

Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

I. Der Landtag stellt fest:

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat zwei neuere Entscheidungen zu umsatzsteuerlich relevanten Tätigkeiten von juristischen Personen des öffentlichen Rechts getroffen, aus denen sich über die entschiedenen Fallgestaltungen hinausgehende Auswirkungen zur umsatzsteuerlichen Einordnung öffentlicher Leistungen ergeben, die die kommunale Gemeinschaftsarbeit, wie sie in Nordrhein-Westfalen nach dem Gesetz über die kommunale Gemeinschaftsarbeit (GkG NRW) landesseitig wegweisend vorgesehen und – angesichts der finanziellen Notlage insbesondere der nordrhein-westfälischen Kommunen – dringend gewünscht und erforder-lich ist, grundlegend in Frage stellen:
1. BFH-Entscheidungen vom 10.11.2011 und vom 01.12.2011
Mit Urteil vom 10.11.2011 (Az.: V R 41/10) entschied der BFH über einen Sachverhalt, in dem es um den Vorsteuerabzug einer Gemeinde für die Errichtung einer Sport- und Freizeithalle ging. Die Gemeinde nutzte die Halle für den Schulsport, überließ die Halle aber auch gegen Entgelt an private Nutzer sowie an eine Nachbargemeinde für den dortigen Schulunterricht. Der BFH hat im Ergebnis die Umsatzsteuerbarkeit der genannten Tätigkeiten mit Ausnahme der Nutzung für den eigenen Schulsport bejaht. Die Gemeinde sei deshalb prinzipiell zum anteiligen Abzug der Vorsteuer entsprechend der Verwendungsabsicht bei Errichtung der Halle berechtigt. Zur künftigen umsatzsteuerlichen Behandlung sogenannter Beistandsleistungen – also der Amtshilfe – zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts hat der BFH dabei ausgeführt: „[…] Entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung (vgl. z.B. Oberfinanzdirektion Rostock vom 21. November 2002, UR 2003, 303 zu kommunaler Datenverarbeitung für den Hoheitsbereich des Leistungsempfängers) ist es aber mit dem im Streitjahr anzuwendenden § 2 Abs. 3 Satz 1 UStG 1993 i.V.m. § 4 KStG und der insoweit gebotenen Auslegung entsprechend Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG nicht zu vereinbaren, sog. Beistandsleistungen, die zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts erbracht werden, auch dann von der Umsatzbesteuerung auszunehmen, wenn diese zwar auf öffentlich-rechtlicher Grundlage, dabei jedoch im Wettbewerb zu Leistungen Privater erbracht werden. […]"(vgl. BFH-Urteil vom 10.11.2011, Rz. 25). Beistandsleistungen, die zwischen Gemeinden erbracht werden, können damit entgegen bisher verbreiteter Handhabung steuerpflichtig sein: Voraussetzung ist nur noch, dass es sich um Leistungen handelt, die hypothetisch auch von privaten Dritten erbracht werden könnten.
Für die Bestimmung der Wettbewerbsrelevanz greift der BFH nämlich auf die EuGH-Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 16.09.2008, Rs. C-288/07 [Isle of Wight Council]) zurück, wonach
1. es nicht erforderlich ist, dass „erhebliche" oder „außergewöhnliche" Wettbewerbsver-zerrungen vorliegen,
2. für die Beurteilung auch ein potentieller Wettbewerb zu berücksichtigen ist und
3. es regelmäßig nicht auf die Verhältnisse auf dem jeweiligen „lokalen Markt" ankommt.
Mit Urteil vom 01.12.2011 (Az.: V R 1/11) entschied der BFH einen Sachverhalt betreffend die umsatzsteuerliche Einordnung der Überlassung von PKW-Tiefgaragenstellplätzen durch eine Gemeinde. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH (insbesondere die vg. Entscheidung in der Rechtssache „Isle of Wight Council") geht der BFH davon aus, dass Stellplätze in einer Tiefgarage grundsätzlich ebenso durch einen privaten Leistungsanbieter zur Nutzung überlassen werden können und dass daher eine Nichtbesteuerung des auf hoheitlicher Grundlage durchgeführten Betriebs einer gebührenpflichtigen Tiefgarage zu mehr als nur unbedeutenden Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Er propagiert damit unter Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung (Urteil vom 27.02.2003, Az.: V R 78/01, BStBl. 2004 II, S. 431) eine vorgeblich europarechtskonforme Auslegung von § 2 Abs. 3 Satz 1 UStG i.V.m. § 4 KStG. Nach der zuvorigen BFH-Rechtsprechungslinie hatte noch davon ausgegangen werden können, dass für eine nach §§ 45, 13 StVO erfolgende Park-platzüberlassung generell kein wettbewerbsrelevanter Markt bestehe. Zentral ist dabei die Feststellung des BFH, wonach „eine juristische Person des öffentlichen Rechts Unternehmer [ist], wenn sie eine wirtschaftliche und damit eine nachhaltige Tätigkeit zur Erbringung entgeltlicher Leistungen (wirtschaftliche Tätigkeit) ausübt, die sich innerhalb ihrer Gesamtbetäti-gung heraushebt. Handelt sie dabei auf privatrechtlicher Grundlage durch Vertrag, kommt es auf weitere Voraussetzungen nicht an." (BFH-Urteil vom 01.12.2011, Rz. 15).
Wenn damit bei einem Tätigwerden in privatrechtlichen Formen für die Umsatzsteuerbarkeit kommunalen Handelns keine weitere Voraussetzungen mehr zu prüfen sein sollten, stehen alle bislang als umsatzsteuerlich nicht relevant angesehenen Betätigungen (so etwa die Ver-einnahmung von Konzessionsabgaben durch Gemeinden, Standardkonstellationen bei der Abwasserentsorgung, Leistungen zwischen Gemeinden oder Gemeinde und einer AöR bzw. einem Zweckverband) auf dem Prüfstand.
2. Mögliche Folgen
Die beschriebene Rechtsprechungslinie des BFH stellt die Durchführung öffentlicher Aufga-ben in Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen mit und untereinander grundle-gend in Frage:
Zwischen Bund und Ländern, Ländern und Kommunen und Kommunen untereinander werden vielfach sogenannte Beistandsleistungen erbracht. Hierbei wird etwa Personal der einen Gebietskörperschaft einer anderen zur Verfügung gestellt, die damit u. a. auch für die das Personal stellende Gebietskörperschaft eine öffentliche Leistung erbringt. Auch werden Sach- oder Finanzmittel von einer Gebietskörperschaft einer anderen überlassen, damit diese damit einen bestimmten öffentlichen Zweck erfüllt. Ein Beispiel hierfür ist die Personalgestellung im Rahmen der hoheitlichen Beistandsleistungen von SGB II-Optionskommunen für eine nach dem ausdrücklichen Willen des nordrhein-westfälischen Landtags im Dezember 2010 zur Aufgabendurchführung nach dem AG-SGB II NRW zugelassene Anstalt öffentlichen Rechts (AöR). Andere Beispiele betreffen die Beihilfebearbeitung, die in vielen Fällen durch die beiden kommunalen Versorgungskassen oder auch durch eine Kommune für andere Kommunen durchgeführt wird. Gleiches gilt auch für die Straßenunterhaltung, die Kommunen vielfach an den Landesbetrieb Straßenbau NRW übertragen haben. Letzteres Beispiel zeigt auch die Betroffenheit des Bundes, denn auch er hat – im Fall von Bundesstraßen und Bundesautobahnen die Straßenunterhaltung an die Länder delegiert, die diese in seinem Auftrag durchführen: Auch diese würde nunmehr umsatzsteuerpflichtig. Gleiches gilt für die Personalgestellung des Bundes – über die Bundesagentur für Arbeit – in den Gemeinsamen Einrichtungen nach dem SGB II.
Die Folgen dieser Entwicklungen lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass die im Interesse einer flexiblen, bürgerorientierten und kosteneffizienten Erbringung öffentlicher Leistungen gebotene Zusammenarbeit verschiedener Akteure der öffentlichen Hand über den Umweg des Umsatzsteuerrechts faktisch unterbinden wird: Denn es wird schwer sein, im Einzelfall Synergieeffekte von mindestens 19 Prozent – also alleine den Steuermehraufwand – zu erwirtschaften.
3. Auswirkungen
Die zunehmende Annahme der Umsatzsteuerbarkeit von Leistungen der öffentlichen Hand führt in Nordrhein-Westfalen zu absurden Wirkungen:
Das mit einer Vielzahl finanzieller Schwierigkeiten kämpfende Land und seine auch im bun-desweiten Vergleich hochverschuldeten Kommunen müssen sich am Kapitalmarkt mit Fi-nanzmitteln versorgen, um öffentliche Aufgaben auf den verschiedenen Feldern durchführen zu können. Dabei steht das Land vor der Herausforderung, zum 01.01.2020 die sog. Schul-denbremse einhalten zu müssen.
Gleichzeitig werden diese Leistungen durch landeseigene Finanzbehörden mit dem Effekt der Umsatzsteuerbarkeit unterworfen, dass derzeit 19 Prozent der zur Durchführung der öffentlichen Aufgabe benötigten Mittel an den Fiskus abgeführt werden müssen. Davon wiederum erhält – über die Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen – der Bund 47,5 Prozent.
Letztlich werden damit von den für die entsprechenden öffentlichen Leistungen benötigten Mitteln – auch von den über Kredite finanzierten – etwa 9 Prozent an den Bund abgeführt, der wiederum das Land an den Pranger stellt, weil es auf seinem Konsolidierungspfad zur Einhaltung der sog. Schuldenbremse noch vor erheblichen Herausforderungen steht.
Dies ist nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes nicht mehr erklärbar: Es entspricht auch nicht dem Willen des Landesgesetzgebers und ist mit den Interessen des Gemeinwohls nicht vereinbar.

II. Der Landtag beschließt:

1. Die Landesregierung wird gebeten, die Wirkungen der umsatzsteuerlichen Einordnung öffentlicher Leistungen des Landes wie der Kommunen und ihrer Einrichtungen auf die Haushalte von Land und Kommunen zu analysieren und Lösungswege dazu aufzuzeigen, wie im Interesse des Gemeinwohls eine Umsatzsteuerbarkeit öffentlicher Leistungen ver-mieden werden kann.
2. Die Landesregierung wird aufgefordert,
a) sich im Interesse des Gemeinwohls gegenüber Bundestag und Bundesregierung im Bundesrat nachdrücklich für eine sofortige Priorisierung der Eröffnung rechtssicherer und die Umsatzsteuerbarkeit öffentlicher Leistungen vermeidender Lösungswege ein-zusetzen.
b) sicherzustellen, dass die ihr unterstehenden Finanzbehörden das geltende Umsatz-steuerrecht im Interesse des Gemeinwohls – wo immer rechtlich zulässig – so ausle-gen, dass eine Umsatzsteuerbarkeit öffentlicher Leistungen vermieden wird.