Dranbleiben und nicht nachlassen: für Akzeptanz, Sichtbarkeit und volle Gleichstel­lung!

Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und GRÜNEN

Portrait Josefine Paul

zum Antrag „Bei uns in Nordrhein-Westfalen: 25 Jahre Engagement für Gleichstel­lung, Sichtbarkeit und Wertschätzung.“ der Fraktionen von CDU und FDP – Drucksache 17/14282

I. Ausgangslage

Das Engagement für Vielfalt, Akzeptanz und Sichtbarkeit der queeren Community hat in Nord­rhein-Westfalen eine lange Tradition. LSBTIQ* in unserem Land können sich dabei auf einen breiten und parteiübergreifenden Rückhalt verlassen. Es ist gut, dass die unterschiedlich zu­sammengesetzten Landesregierungen hier für Verlässlichkeit und Kontinuität gesorgt haben. Kontinuität allein reicht aber nicht. Vielmehr gilt es weiter und konsequent an der vollständigen Akzeptanz und Gleichstellung queerer Menschen zu arbeiten.

Denn trotz vieler Errungenschaften für Menschen in der LSBTIQ*-Community gibt es auch in NRW noch Herausforderungen und Handlungsbedarfe. Besonders junge Menschen haben es oft in oder noch vor der Phase des Coming Out schwer. In einer Befragung des Jugendzent­rums „Anyway“ aus Köln gaben 40% der LSBTIQ*-Jugendlichen an, in der Corona-Krise Sui-zidgedankengehabt zu haben. Diese hohe Zahl muss auf der einen Seite pädagogisch alar­mieren. Auf der anderen Seite zeigt sie aber auch deutlich, dass gesellschaftspolitisch noch lange keine volle Akzeptanz und Solidarität vorhanden ist. Die Jugendlichen haben oftmals Angst vor Ablehnung durch Freunde und Familie. Sie outen sich in kleinen Schritten. Während der Pandemie war ihnen der Kontakt zu Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind oft­mals unmöglich Das DJI scheibt dazu in seiner Studie „Coming out in NRW“: „In der vorlie­genden Studie zur Situation von LSBTIQ*-Jugendlichen in NRW zeigt sich zudem, dass junge Menschen aus ländlichen Regionen, LSBTIQ*-Jugendliche mit niedriger formaler Bildung, bi­sexuelle junge Männer und junge Menschen, die nach Deutschland migriert sind, stärker be­lastet erscheinen.“ (Krell (2020): Coming-out in NRW Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbi­schen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, S.69.)

Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld hat in ihrem Appell zu queerpolitischen Handlungsbedarfen in der Corona-Pandemie zudem darauf hingewiesen, dass während der Pandemiezeit eine Zunahme häuslicher Gewalt in den Familien droht, in denen die Situation angespannt ist, da LSBTIQ*-Personen aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität nicht akzeptiert werden. Auch der Wegfall von freundschaftlichen Kontakten und Beratungsangeboten kann zu psychischen Problemen führen. Viele offene Angebote und Gruppentreffen für LSBTIQ*-Personen sind seit März 2020 ausgefallen. Die face-to-face-Angebote in den Beratungsstellen und Jugendzentren sind in großem Umfang auf digitale Formate wie Online-Beratungen und Webinare, sowie Telefonberatungen für LSBTIQ*-Personen umgestellt worden. Mit großem Engagement konnten Beratungsstellen und Jugendzentren zumindest Kontakt und Beratung, wenn auch in sehr reduzierter Form, ermöglichen und, im Rahmen des technisch möglichen und infektionsschutzrechtlich erlaubten, aufrecht erhalten.

Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, wie verletzlich und gleichzeitig unentbehrlich queere Strukturen sind. Sie sind mehr als nur Treffpunkte für LSBTIQ*-Personen Sie sind gleichzeitig auch wichtige Schutz- und Rückzugsräume. Während der letzten Monate waren sie aber auf Grund der pandemischen Lage nur sehr eingeschränkt zugänglich. Die gesamte queere Infrastruktur ist betroffen: Kneipen und Bars mussten schließen, sowie auch Jugend­treffpunkte, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen. Solche Orte des Empowerments und des persönlichen Kontakts sind jedoch besonders wichtig, auch um toxischen Orten für einen kurzen Moment entkommen zu können. Jahrzehntealte Strukturen und Projekte sind in ihrem Fortbestand gefährdet. Als ein Beispiel sind unter anderem Gay-Saunen zu nennen, die durch das MAGS NRW mit Prostitutionsbetrieben gleichgesetzt wurden. Das ist mehr als nur eine unzulässige Verkürzung und zeigt deutlich, dass der Querschnittansatz der Landesregierung nur bedingt funktioniert. Während die Aktivitäten für LSBTIQ* in den Kabinetten zwischen 2010 und 2017 im Wesentlichen in einem Haus gebündelt waren, sind die Zuständigkeiten in der aktuellen Landesregierung zerfasert. Dabei werden die Themen nicht in jedem Ministerium mit dem gleichen Elan vorangetrieben. So bleibt z.B. das MHKGB NRW nach wie vor das im Ko­alitionsvertrag vereinbarte, umfassende Diversity-Management in der Landesverwaltung schuldig.

Die Unterstützung der vorhandenen Infrastruktur ist besonders wichtig, denn sie bietet queeren Menschen Raum zur freien Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und hat auch eine wich­tige Funktion in Bezug auf Gemeinschaftsbildung und den Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen. Auch Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe bestätigt die aktuelle Gefahr und die Bedeutung dieser „safe spaces“: „Wir laufen jetzt Gefahr, dass große Teile der queeren Kultur ausgelöscht werden. Diese Community ist über Jahrzehnte aufgebaut worden und sichert uns das Leben, das wir führen wollen. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie ver-schwände.“ ( https://taz.de/Corona-Queere-Community-verunsichert/!5678347/ (zuletzt abgerufen am 28.6.2021))

Das Fehlen der Angebote und Infrastrukturen im ländlichen Raum ist nicht nur ein Problem, welches junge Menschen betrifft, sondern ein generelles. Treffpunkte und Möglichkeiten zur Beratung sind besonders im ländlichen Raum Mangelware und schwer zu erreichen. Aus die­sen Gründen fühlen sich besonders queere Menschen, die in ländlichen Gegenden leben, oftmals alleingelassen und unverstanden. Sie haben somit wenig Möglichkeiten, sich mit an­deren Menschen in der gleichen Situation auszutauschen und Verständnis für ihre Situation zu finden.

Im Dezember 2020 war der Fortbestand der Fachberatung für gleichgeschlechtliche Lebens­weisen in der offenen Senioren/-innenarbeit gefährdet. Seit 2011 arbeitet dieses landesweite Projekt und unterstützt die diversitätsbezogene Senioren/-innenarbeit. Die Probleme in der Weiterführung im vergangenen Jahr haben deutlich gemacht, dass neben den Jugendlichen auch die älteren LSBTIQ*-Menschen eine besondere Unterstützung und Beratung benötigen. Eine Verstetigung der Arbeit über den Projektcharakter ist unumgänglich.

Ohnehin ist es noch nicht gelungen gute Ansätze und Projekte flächendeckend umzusetzen und in verlässliche Regelfinanzierungen zu überführen. Hierfür bedarf es einer höheren Ver­bindlichkeit sowie einer klaren Erwartungsformulierung an die Kommunen verbunden mit stär­kerer finanzieller Unterstützung. Die Arbeit für LSBTIQ* darf nicht dem Zufall überlassen wer­den.

Eine demokratische Gesellschaft, die für Freiheit, Gleichberechtigung und Vielfalt steht, muss für alle Personen das Recht durchsetzen, an jedem Ort ohne Angst leben zu können. Immer noch erfahren LSBTIQ*-Personen in der Europäischen Union Ausgrenzung und Diskriminie­rung auf Grund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. In einigen Ländern wird LSBTIQ* als Ideologie bezeichnet und nicht als Realität akzeptiert. Noch schlimmer – die Has­sattacken auf LSBTIQ*-Personen nehmen zu. Das zeigt, dass gleiche Rechte in der globalen LSBTIQ*-Community bei weitem nicht selbstverständlich sind. Die zunehmende Sichtbarkeit von LSBTIQ*-Personen und ihre Forderung, akzeptiert zu werden, werden als Angriff auf das konservative Familienbild und die nationale Identität dämonisiert. Die Zusammenarbeit mit Ini­tiativen und Vereinen, Partnerregionen und Partnerstädten, die sich für Demokratie und den Schutz der Menschenrechte in Ländern einsetzen, in denen LSBTIQ*-Personen von Men­schenrechtsverletzungen betroffen sind, sollte besonders jetzt unterstützt werden.

Solidarität mit LSBTIQ*-Personen zu zeigen ist ein Einsatz für die Menschenrechte und für die Opfer, die von systematische Einschränkung von Rechtstaatlichkeit und ihren Grundfreiheiten betroffen sind. Seit März 2019 deklarieren viele polnische Gemeinden, Landkreise oder Pro­vinzen ihr Gebiet als „LGBTIQ-ideologiefreie Zone“ (LGBTIQ ist die aus dem englischen Sprachraum übernommene Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender.). Im März erklärten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Brüssel die EU zum „Freiheitsraum für LGBTIQ-Personen“. Diese Entscheidung kann sich auch Nordrhein-Westfalen zum Vorbild nehmen und ein klares Zei­chen setzen, um Solidarität zu zeigen. Vielfalt ist ein identitätsstiftendes Merkmal unseres Lan­des. NRW steht für eine offene Gesellschaft. Der Landtag sollte daher dem Beispiel des Eu­ropäischen Parlaments folgen und Nordrhein-Westfalen zu einem „Freiheitsraum für LSB-TIQ*-Personen“ erklären. Dies wäre insbesondere zum Abschluss des Pride Month, der welt­weit im Juni begangen wird, ein Zeichen für Akzeptanz.

II. Beschlussfassung

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Einrichtungen und Angebote der LSB-TIQ*-Infrastruktur zu erheben und zusätzliche finanzielle Ressourcen für den Ausgleich Corona-bedingter Schäden zur Verfügung zu stellen.
  • Angebote der LSBTIQ*-Infrastruktur sowie Schutz- und soziale Räume in ihrer Vielfältig­keit als besonders erhaltenswürdig zu betrachten und langfristig sicherzustellen.
  • insbesondere im ländlichen Raum Beratungsangebote und Treffpunkte zu stärken.
  • die Angebote der Senioren/-innen-Arbeit zu verstetigen und langfristig sicherzustellen.
  • die Präventionsarbeit in Bildungseinrichtungen zu stärken und auch die Elternarbeit zu intensivieren.
  • zeitnah ein umfassendes Diversity-Management für die Landesverwaltung zu entwickeln und noch in dieser Legislaturperiode zu starten.
  • Internationale Solidarität mit Betroffenen von Gewalt und staatlicher Repression in an­deren Ländern zu zeigen.
  • die Zuständigkeit für LSBTIQ*-Themen in all ihren Facetten weitestgehend zu bündeln.
  • Modellprojekte in die Regelfinanzierung zu überführend und in der Fläche auszurollen.
  • die Anti-Gewalt-Arbeit für LSBTIQ* in NRW zu stärken.