Die Eingliederungshilfe in Nordrhein-Westfalen zukunftsfest aufstellen

Antrag der Fraktionen von CDU und Grünen im Landtag

Portrait Dennis Sonne

I. Ausgangslage

Nordrhein-Westfalen verfügt über eine gut ausgebaute Infrastruktur und zahlreiche qualitativ hochwertige Angebote der Eingliederungshilfe, die Menschen mit Behinderungen bei einem selbstständigen Leben unterstützen. Dies hat nicht zuletzt die umfassende Darstellung der Landesregierung zur Großen Anfrage 26 „Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen“ (Drucksache 18/9135) erneut eindrucksvoll aufgezeigt. Gerade im Be­reich des selbstbestimmten ambulanten Lebens und Wohnens für Menschen mit Behinderun­gen sind seit Anfang der 2000er-Jahre getragen von einem breiten politischen Konsens aller demokratischen Parteien erhebliche Verbesserungen erzielt worden. Auf das gemeinsam er­reichte und abgesicherte Niveau der Unterstützungsstruktur können alle beteiligten Akteure zurecht stolz sein.

Wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe sollten durch das seit 2017 implementierte Bundesteilhabegesetz (BTHG) umgesetzt werden, das eine grundsätzliche Verbesserung im Bereich der Unterstützung für Menschen mit Behinderungen bewirken wollte. Ziel des Gesetzes ist es, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderun­gen zu stärken und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention auf nationaler Ebene vor allem durch eine verbesserte individuelle Unterstützung, die nun stärker auf die persönli­chen Bedürfnisse und Lebenssituationen der Betroffenen zugeschnitten ist, umzusetzen. Das Gesetz hat den Anspruch, den Übergang von einer fürsorgenden hin zu einer teilhabeorientierten Unterstützung zu vollziehen, indem es den Fokus von der pauschalen Versorgung auf individuell zugeschnittene Leistungen legt.

Das BTHG will die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen gerade auch dadurch stärken, indem es die Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Wohnen erweitert hat. Menschen mit Behinderungen sollen nun leichter Unterstützung erhalten, um in den eigenen vier Wänden oder in Wohngemeinschaften zu leben, anstatt in großen Einrichtungen untergebracht zu wer­den. Dies fördert die individuelle Lebensführung und die Inklusion in der Gemeinschaft.

Auch wenn wesentliche formale Umsetzungsschritte des BTHG wie die Trennung von exis­tenzsichernden Leistungen und Fachleistungen bereits erfolgt sind, gestaltet sich die vollstän­dige inhaltliche Umsetzung des BTHG in Nordrhein-Westfalen wie auch bundesweit zunehmend herausfordernd. Den bereits eingeführten Verfahren zur möglichst individuellen Bedarfsermittlung folgen derzeit noch zu selten praktische Verbesserungen, die im Leben der Menschen mit Behinderung konkret spürbar werden. Gerade in der Weiterentwicklung der Landesrahmenverträge besteht aktuell die Sorge, dass bei Beibehaltung des Status quo der derzeitigen Verwaltungsstrukturen nicht alle Ressourcen direkt den Betroffenen zugutekommen können. Durch Effizienzsteigerungen könnte eine stärkere Fokussierung auf die Bedürf­nisse der Leistungsempfänger erreicht werden. An verschiedenen Stellen werden derzeit zu­dem Defizite bei der Bereitstellung angemessener Angebote deutlich (z. B. regional verfügbare besondere Wohnformen, gerade auch für Menschen mit herausforderndem Verhalten), die auch durch Unsicherheiten bei der Umsetzung des BTHG mitverursacht werden.

Jede fachliche Weitereinwicklung der Eingliederungshilfe muss dabei zwingend auch die schon heute bestehenden erheblichen finanziellen Herausforderungen für die Leistungsträger und die gesamte kommunale Familie berücksichtigen. Die finanziellen Spielräume der Kom­munen, die als Grundpfeiler der Demokratie fungieren, werden durch die steigenden Ausga­ben für soziale Leistungen zunehmend eingeschränkt. Dies gefährdet die kommunale Selbst­verwaltung und damit einen Kernbereich unserer demokratischen Gesellschaft. Die mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes erhofften Effizienzgewinne scheinen bisher nicht re­alisiert worden zu sein. Allein in den Jahren 2018 bis 2023 sind die Nettoausgaben der Eingliederungshilfe bundesweit um mehr als 8 Mrd. Euro gestiegen. Die dynamische Zunahme der Ausgaben für die Eingliederungshilfe übersteigt die bisherige finanzielle Unterstützung des Bundes in Höhe von bundesweit 5 Mrd. Euro jährlich deutlich, was eine deutliche Aufstockung und eine Anpassung an die tatsächliche Kostenentwicklung erforderlich macht. Nur so kann eine adäquate Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und eine nachhaltige Entlas­tung der Kommunen sichergestellt werden.

Die Landesregierung hat deshalb bereits im September 2023 in einem in den Bundesrat ein­gebrachten Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, die seit 2018 bereitge­stellte finanzielle Entlastung der Kommunen, die mit dem Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Inklusion beschlossen wurde, von jährlich 5 Milliarden Euro um zusätzliche 5 Milliarden Euro zu erhöhen. Außerdem wurde zur wirksamen Entlastung der Kommunen auch in der Zukunft die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Dynamisie­rung der finanziellen Aufwendungen vorzulegen.

Neben den finanziellen Herausforderungen wird auch für die Eingliederungshilfe der zuneh­mende Arbeits- und Fachkräftemangel immer stärker zum Problem, wenn es um die Schaffung neuer und die Sicherung der Qualität bestehender Angebote geht. Zusammen mit begrenzten finanziellen Spielräumen macht das eine möglichst effiziente Angebotsstruktur für die Zukunft unverzichtbar. Grundvoraussetzung für die Gestaltung einer solchen Struktur ist eine hohe Transparenz über Leistungs-, Kosten- und Organisationsstrukturen. Bei der Schaffung dieser Transparenz – auch gegenüber den zuständigen Gremien des Landtags – und bei der Beglei­tung einer an Qualität, Effizienz und Bürgerfreundlichkeit gleichermaßen orientierten Weiter­entwicklung der Eingliederungshilfe kommt dem MAGS als zuständigem Landesministerium eine zentrale Verantwortung zu.

Trotz der guten Ausgangsbasis und der positiven Ansätze des BTHG sehen wir gerade in dem Spannungsverhältnis zwischen qualitativer Weiterentwicklung und der erforderlichen Begren­zung der kommunalen Kostenbelastung in der praktischen Umsetzung in Nordrhein-Westfalen Verbesserungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Effizienz der Mittelverwendung, die finanzielle Entlastung der Kommunen und die Sicherstellung der Nachhaltigkeit und Innovationskraft der Maßnahmen. Um vor diesem Hintergrund eine Zukunftsvision für die Eingliede­rungshilfe in Nordrhein-Westfalen zu entwickeln, die die erreichte fachliche Qualität für die Zukunft absichert und gleichzeitig der kommunalen Finanzbelastung und dem Fachkräfteman­gel Rechnung trägt, ist ein breiter Dialog mit allen relevanten Akteuren erforderlich.

Gemäß dem inklusionspolitischen Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ sind dabei vor allem die Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertretungen zu beteiligen. Neben den Kommunen spielen zudem vor allem die Wohlfahrtsverbände in der Diskussion um die Wei­terentwicklung der Eingliederungshilfe und die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) eine zentrale Rolle. Sie sind wichtige Akteure im Sozialsystem und arbeiten eng mit kommunalen Trägern, Landschaftsverbänden und anderen sozialen Dienstleistern zusam­men. Ihre Rolle umfasst die Bereitstellung von Beratung, Betreuung, Pflege, Wohnmöglichkei­ten und Inklusion in den Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen. Schon heute arbeiten die genannten Akteure in der gesetzlich vorgesehenen Arbeitsgemeinschaft nach § 94 Absatz 4 SGB IX eng zusammen. Diese Zusammenarbeit sollte angesichts der aktuellen Umsetzungs- und Finanzherausforderungen unter Verantwortung des Ministeriums im Sinne eines „Zukunftsdialogs EGH NRW“ intensiviert werden.

II. Beschlussfassung

Der Landtag beauftragt die Landesregierung:

  1. sich dafür einzusetzen, dass auf Bundesebene die in den Bundesrat eingebrachte Initi­ative zur finanziellen Entlastung der Kommunen bei den Kosten der Eingliederungshilfe umgesetzt und die gestiegenen Ausgaben abgefedert werden.
  2. eine Dynamisierung der erhöhten Bundesentlastungen zu fordern, die an die Entwick­lungen der Ausgaben für Eingliederungshilfe angepasst werden sollen. Dadurch soll ge­währleistet werden, dass Länder und Kommunen bei den dynamischen Kostenentwick­lungen seit Einführung des Bundesteilhabegesetzes und des Angehörigen-Entlastungs­gesetzes nicht allein gelassen werden.
  3. die Transparenz über Leistungs-, Kosten- und Organisationsstrukturen weiter zu verbes­sern, um so die Grundlage für eine gleichermaßen qualitätsorientierte wie effiziente Wei­terentwicklung der Eingliederungshilfe abzusichern
  4. zusammen mit den Kommunen, den Landschaftsverbänden, den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege und anderen Leistungserbringern sowie den Vertretungen der Men­schen mit Behinderungen den Landesrahmenvertrag einschließlich des Verwaltungsauf­wandes zu überprüfen und sicherzustellen, dass ein möglichst großer Anteil der Res­sourcen direkt den Betroffenen zugutekommt.
  5. im Rahmen eines „Zukunftsdialogs EGH NRW“ die Diskussion über die fachliche Wei­terentwicklung der Eingliederungshilfe in unserem Land unter Beteiligung aller relevan­ten Akteure und unter Berücksichtigung der herausfordernden finanziellen und personal­wirtschaftlich Rahmenbedingungen zu intensivieren.