Der schleichende Abschied aus dem Auftrag, ein inklusives Schulsystem aufzubauen

Kleine Anfrage von Sigrid Beer

Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen hat Deutschland auch die Verpflichtung übernommen, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen (Art.24). Kinder und Jugendliche haben das Recht auf den Besuch einer allgemeinen Schule, unabhängig von möglichen Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Inklusion ist eine Generationenaufgabe, sie richtet sich an alle Ebenen und alle Schulformen. Mit der 2018 vorgelegten „Neuausrichtung“ der Inklusion an weiterführenden Schulen hat die Landesregierung nach eigenen Angaben das Ziel verfolgt, „die Qualität des Gemeinsamen Lernens zu verbessern“. Schulen sollten ausdrücklich zu Orten des Gemeinsamen Lernens durch die jeweilige Bezirksregierung benannt werden, sofern die räumlichen und personellen Ressourcen vorliegen, die Schule ein Inklusionskonzept erarbeitet oder schon erarbeitet hat. Im Gegenzug sicherte die Landesregierung zu, dass eine Klasse mit 25 Schülerinnen und Schülern, davon maximal 3 mit sonderpädagogischem Förderbedarf, anderthalb Lehrerstellen erhält. Die Enttäuschung ist groß, dass die Landesregierung weder auf die Einhaltung der Voraussetzungen (Vorliegen eines schuleigenen Konzepts) achtet, noch die versprochene Klassengröße, noch die versprochene personelle Ausstattung einhält.
Das Schulministerium hat dem Landtag nun einen Bericht „Erneute Abfrage nach Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung zum Schuljahr 2019/2020 an den weiterführenden Schulen“ vorgelegt (Vorlage 17/2817). Darin wird ausgeführt, dass sich im ersten Schritt gezeigt habe, dass das Ziel, die Qualität an den Schulen zielgenau verbessern zu können, erreicht werden kann. Das ist irritierend, zumal der Bericht im weiteren keinerlei Aussagen zur Qualität enthält. Wohl aber Informationen, an welchen Schulformen Gemeinsames Lernen stattfindet. Dabei fällt ein deutliches Ungleichgewicht auf. Während 85% der Gesamt- und fast alle Sekundar- und Gemeinschaftsschulen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgenommen haben, sind es gerade einmal 5,5% der Gymnasien. An 49 Gymnasien, die als Ort des Gemeinsamen Lernens festgestellt sind, werden keine Kinder aufgenommen, weil es ja „ausreichendes Platzangebot an anderen Schulen“ gebe. Hintergrund ist eine verschärfte Situation an den Gesamtschulen: Um mehr Kinder mit sonderpädagogischer Unterstützung aufnehmen zu können, drängt die Schulaufsicht die Gesamtschulen, die Klassen deutlich größer als 25 Schülerinnen und Schüler zu machen. Dafür gibt es immer mehr Gymnasien, die keine Kinder aufnehmen.
Mit der Neuausrichtung kam schon das ausdrückliche Aus für zieldifferente Inklusion an Gymnasien. Nun wird deutlich, dass die Gymnasien insgesamt aus dem Inklusionsprozess ausscheiden. Das wird im kommenden Jahr noch deutlicher werden. Denn Schulen die zwei Jahre hintereinander die Mindestschülerzahl nicht erreichen, verlieren automatisch den Status als Ort des Gemeinsamen Lernens.
Doch die Landesregierung verschleiert. In der Auflistung wieviel Schüler mit Förderbedarf an den verschiedenen Schulformen sind, gibt die Tabelle im Bericht den Wert 3,0 für Hauptschulen und 2,5 für Gesamtschulen an. Bei den Gymnasien verblüfft dann der Wert von 3,2. Die Lösung ist einfach: Bei den Haupt- und Gesamtschulen werden sie je Klasse berechnet, bei Gymnasien je Schule. Und dabei sind sowieso nur 35 Gymnasien berücksichtigt worden. Auf die 625 Gymnasien entfallen in der Jahrgangsstufe 5 nicht einmal 0,2 Schüler*innen mit Förderbedarf.
Selbst bei der Einzelintegration fällt auf, dass von 49 Schulen, die als Ort für Einzelintegration benannt sind, und doch keine Kinder aufnehmen, 41 Gymnasien sind.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
1.         An welchen Schulen wurde die Einzelintegration aus welchem Grund abgelehnt (bitte aufschlüsseln nach zielgleich und zieldifferent, sonderpädagogische Förderbedarfe)?
2.         An welchen Schulen sind die Kinder, deren Einzelintegration abgelehnt wurde, schließlich aufgenommen worden?
3.         Wie viele Schulen sind auslaufend als Ort des Gemeinsamen Lernens bzw. als Ort der Einzelintegration benannt (bitte aufschlüsseln nach GL/Einzelintegration und nach Schulformen)?
4.         Wer hat die Schulen schulaufsichtlich bei der Aufnahme bzw. Ablehnung beraten?
5.         Wie sind die Schulträger jeweils beteiligt worden?