Care-Arbeit in NRW sichtbar machen und besser unterstützen

Antrag der GRÜNEN im Landtag

Portrait Josefine Paul

I.       Ausgangslage
Füreinander zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen sind zentrale Bestandteile unseres Zusammenlebens, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde. Der größte Teil dieser notwendigen Sorgearbeit wird unbezahlt und im familiären Umfeld geleistet. Care-Arbeit umfasst dabei viele Bereiche, wie die Sorge- und Pflegearbeit für Kinder oder zu pflegende Angehörige, Hausarbeit, Ehrenamt, aber auch informelle Hilfen, wie Nachbarschaftshilfen. Diese unbezahlte Care-Arbeit bleibt gesellschaftlich oft unsichtbar und Menschen werden mit ihren individuellen Herausforderungen allzu oft allein gelassen.
Dabei steigen die gesellschaftlichen Anforderungen an die Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Beruf. Der demographische Wandel führt zu einem Anstieg pflegebedürftiger Personen. Nach Zahlen von IT-NRW waren in NRW im Jahr 2017 769.132 Personen pflegebedürftig. Nicht erfasst sind hier die Menschen, die nur gelegentlich Unterstützung im Alltag benötigen und dies meist durch familiäre Hilfe organisieren. Zwei Drittel der pflegebedürftigen Personen werden zu Hause versorgt. Eine besondere Herausforderung stellt die damit verbundene Frage der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für Frauen dar. Mehr als 70 Prozent der Pflegenden sind Frauen. Sie müssen nicht nur Beruf und Pflege, sondern auch Sorgearbeit für Kinder und Pflege Angehöriger, vereinbaren. Männer üben meist erst nach Eintritt ins Rentenalter Pflegetätigkeiten aus.
Die Frage der Verteilung von Care-Arbeit ist ein wichtiger Indikator für die Gleichstellung von Frauen und Männern. Die meiste Sorgearbeit wird von Frauen geleistet. Im Schnitt leisten sie 52,2 Prozent mehr Care-Arbeit pro Tag als Männer. Während Frauen durchschnittlich 4 Stunden und 13 Minuten für Care-Tätigkeiten aufwenden, sind es bei Männern im Durchschnitt 2 Stunden und 45 Minuten. Daraus ergibt sich ein Gender-Care-Gap von 87 Minuten pro Tag.
Der zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung hat daher diese Unterschiede besonders in den Blick genommen. Insbesondere in der sog. „Rush-Hour des Lebens“, also in der Zeit, in der sich zentrale Lebensereignisse und -entscheidungen im Bereich von Familie und Beruf bündeln, sind die Unterschiede besonders groß. Während Väter, unabhängig von der Anzahl ihrer Kinder, fast immer Vollzeit arbeiten, stellt sich die Situation bei Müttern sehr viel differenzierter dar.
Laut Familienbericht NRW liegt die Erwerbsquote von Müttern mit nicht-volljährigen Kindern bei 56,2 Prozent. Erwerbsbeteiligung und Erwerbsumfang unterscheiden sich dabei aber deutlich, je nach Alter der Kinder und familiärer Situation insgesamt. In Vollzeit oder vollzeitnaher Teilzeit, also 32 und mehr Stunden pro Woche, arbeiten 28,6 Prozent der erwerbstätigen Mütter. Zwischen 15 und 32 Stunden arbeiten 49,3 Prozent und weniger als 15 Stunden 22,1 Prozent der Mütter.
Die beschriebene ungleiche Aufteilung von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Sorgearbeit birgt für Frauen in der Lebensverlaufsperspektive erhebliche Risiken. Nicht nur, dass sie in der Zeit der aktiven Erwerbsarbeit weniger verdienen, sie erwerben auch weniger Rentenanwartschaften. Dies bedeutet nicht nur ein Risiko im Falle von Trennung oder Scheidung für diese Frauen, auch im Fall einer Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit des – meist männlichen – Hauptverdieners kann dies zu ökonomischen Schwierigkeiten für die ganze Familie führen.
Dabei wünschen sich die meisten Paare eine Aufteilung, in der beide Partnerinnen und Partner in gleichem Maße erwerbstätig sind und sich um Haushalt und Familie kümmern. In der familiären Realität sieht dies dann allerdings meist anders aus. Unterschiedlichste Gründe führen dazu, dass nach der Geburt eines Kindes häufig eine Retraditionalisierung des Familienlebens eintritt.
Care-Arbeit ist mehr als eine kostenlose Ressource
Care-Arbeit ist gesellschaftlich unverzichtbar und sie ist mehr als eine kostenlose Ressource. Nicht zuletzt ist es die unbezahlte Sorgearbeit, die, als mehr oder weniger sichtbare Kraft, unsere Marktwirtschaft unterstützt. Care-Arbeit ist damit so etwas, wie der weibliche Zwilling der oftmals männlich konnotierten Erwerbsarbeit. Trotzdem ist sie nicht nur weniger sichtbar, sie wird auch wenig wertgeschätzt und zu wenig unterstützt.
Zwar wurden in den vergangenen Jahren einige Maßnahmen ergriffen, um Care-Arbeit zu unterstützen, trotzdem hat dies im Wesentlichen nichts an der geschlechtsspezifischen Verteilung von Sorgearbeit verändert. Die Einführung von Elternzeit und Elterngeld war zwar ein wichtiger Schritt zur Unterstützung von Familien und auch zur Einbindung von Männern in Erziehungsarbeit, trotzdem bleiben Lohnungleichheit und auch die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit weiterhin auf konstant hohem Niveau.
Darüber hinaus gilt es, auch die Pflege von Angehörigen besser zu unterstützen. Bislang fehlt eine Lohnersatzleistung für eine temporäre Erwerbsunterbrechung für die Pflege Angehöriger. Das Pflegegeld ist ein individueller Anspruch pflegebedürftiger Personen, die wiederum dieses Geld als Anerkennung an die pflegende(n) Person(en) weitergeben können. Auch die derzeitige Darlehensregelung im (Familien)Pflegezeitgesetz trägt nicht zu einer wirklichen Entlastung Pflegender und einer Aufteilung von Care-Arbeit bei.
Um auf die Wichtigkeit von Care-Arbeit hinzuweisen und die Unsichtbarkeit und Ungleichverteilung ins Bewusstsein zu rücken, wurde der 29. Februar zum Equal-Care-Day ausgerufen. Die Initiatorinnen und Initiatoren wollen mit der Festlegung auf einen Schalttag, der nur alle vier Jahre stattfindet, symbolisch darauf hinweisen, dass Care-Arbeit in ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung oftmals übergangen wird. Darüber hinaus soll der Tag das Verhältnis von 4:1 bei der Verteilung von Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern widerspiegeln. Rechnet man private, berufliche und ehrenamtliche Sorgearbeit zusammen, so bräuchten Männer etwa vier Jahre, um die gleichen Fürsorgeleistungen zu erbringen wie Frauen in einem Jahr.
Care-Arbeit besser unterstützen, individuellen Überforderungen entgegenwirken
Unbezahlte Care-Arbeit kann zu individueller Überforderung führen. Daher brauchen Menschen, die Sorgearbeit unentgeltlich verrichten, bessere Unterstützungssysteme.
Eine besonders belastete Gruppe stellen die Alleinerziehenden dar. Sie sind fast ausschließlich allein für die Care-Arbeit verantwortlich. Zwar können viele Alleinerziehende auf ergänzende informelle Netzwerke aus Familie und Freunden zurückgreifen, dennoch haben sie die größten Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Erwerbsarbeit zu bewältigen. Eine Konsequenz dieser belastenden Situation ist die überdurchschnittliche Armutsquote. Die Gruppe der Alleinerziehenden-Familien hat das höchste Armutsrisiko in unserer Gesellschaft. Alleinerziehendenarmut ist dabei fast immer Frauenarmut. Die wirksame Bekämpfung von Kinder-, Frauen- und Familienarmut muss daher besonders Alleinerziehende und ihre Kinder in den Blick nehmen. Die Unterstützung und Entlastung bei der Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Beruf ist dabei eine zentrale Aufgabe.
Aus der Familienberichterstattung ist bekannt, dass die Bedarfe von Familien sich entlang der Trias von Geld-Zeit-Infrastruktur orientieren. Familien brauchen eine verlässliche ökonomische Absicherung, sie brauchen aber auch eine verlässliche (soziale) Infrastruktur sowie Zeitbudgets für Familienzeit und Care-Arbeit.
Neben einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur für Kinder im Vorschulalter, aber auch darüber hinaus, können haushaltsnahe Dienstleistungen Familien bei der Bewältigung ihres Alltags entlasten. Allerdings nehmen laut Familienbericht NRW nur 6 Prozent der Familien solche Dienstleistungen in Anspruch. Es sind insbesondere ökonomisch bessergestellte Familien, die auf die Unterstützung durch haushaltsnahe Dienstleistungen zurückgreifen (können). Doch würden weit mehr Familien sich eine derartige Unterstützung wünschen. Auch hier sind es die Alleinerziehenden, die durch eine derartige Unterstützung in besonderem Maße entlastet werden könnten und sich dies auch wünschen würden.
Neben des Zugangs zu haushaltsnahen Dienstleistungen ist auch deren arbeits- und steuerrechtliche Ausgestaltung ein wichtiger Aspekt. Ein Großteil der bezahlten Haushaltshilfe wird bislang an der Steuer vorbei geleistet. Der Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Familienpolitik in Nordrhein-Westfalen“ verweist darauf, dass die für Reinigungskräfte zuständige Gewerkschaft IG Bau annimmt, dass etwa 90 Prozent der Haushaltshilfen nicht angemeldet geleistet werden. Auch diese höchst prekären Beschäftigungsverhältnisse gehen zumeist zu Lasten von Frauen. Zwar ist es mittlerweile möglich, über die Anmeldung eines 450-Euro-Jobs eine Unfallsversicherung und minimale Rentenansprüche zu erwerben, doch wird dies nicht in großem Umfang genutzt.
Um auch im Bereich der professionellen Care-Arbeit für faire Arbeitsbedingungen zu sorgen, müssen diese Arbeitsverhältnisse sozialversicherungspflichtig sein. Erste Modelle zur Unterstützung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden beispielsweise über ein Gutscheinmodell in Baden- Württemberg erprobt.
Neben der Unterstützung von Familien im Haushalt, brauchen Familien aber auch zeitliche Strukturen, die ein gelingendes Familienleben unterstützen. Unterschiedliche Zeitstrukturen von Arbeitszeit, Schulzeit, Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten sowie anderen alltäglichen Erfordernissen gilt es besser miteinander in Einklang zu bringen. Die Enquete-Kommission
„Zukunft der Familienpolitik in Nordrhein-Westfalen“ empfahl daher seinerzeit, die Kommunen bei der Etablierung einer kommunalen Zeitpolitik zu unterstützen. Konkret schlug sie vor ein zeitpolitische Aktionsprogramm für NRW aufzulegen.
Bei der zeitlichen Entlastung von Familien ist aber insbesondere der Bund gefordert. Um die vielen unterschiedlichen Aspekte des Lebens gut unter einen Hut bringen zu können, brauchen Menschen mehr zeitliche Flexibilität, die sich an ihren individuellen Lebenslagen orientiert. Eltern- und Pflegezeiten müssen noch flexibler gestaltbar sein, so dass es Eltern beispielsweise möglich ist, auch noch zusätzliche Elternzeitmonate für ältere Kinder (bis zum 14 Lebensjahr) zu nehmen, wenn diese besondere Unterstützung beim Lebensphasenübergang brauchen. Jeder Elternteil soll acht Monate Elternzeit in Anspruch nehmen können, weitere acht stehen ihnen gemeinsam zur Verfügung. Alleinerziehende können selbstverständlich auch 24 Monate Elternzeit nehmen. Aber auch pflegende Angehörige brauchen mehr zeitliche Unterstützung. Kurzfristige Freistellungsregelungen, die mit einer Lohnersatzleistung kombiniert werden, können Pflegende bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf entlasten und gleichzeitig dazu beitragen, Erwerbsunterbrechungen auch finanziell abzusichern.
Darüber hinaus wünschen sich Familien bessere Unterstützungs- und Beratungsangebote. Vielfach ist es für Familien schwierig den Dschungel familienbezogener Leistungen und Unterstützungsmöglichkeiten zu durchdringen. Dies gilt gleichermaßen für den Bereich der Pflege, in dem ein flächendeckendes ambulantes Unterstützungs-, Entlastungs- und Beratungssystem sorgende Menschen konkret entlasten kann.

II.      Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

1.      Einen landesweiten Care-Bericht zu Entwicklung und Handlungsbedarfen im Bereich sowohl unbezahlter, wie auch bezahlter, Care-Arbeit vorzulegen.
2.      Die Unterstützung haushaltsnahe Dienstleistungen für einen breiteren Kreis von Familien, insbesondere Alleinerziehende, sowie die Absicherung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in diesem Bereich voranzutreiben.
3.      Kommunen bei der Erarbeitung zeitpolitischer Gesamtstrategien zu unterstützen und ein zeitpolitisches Aktionsprogramm für NRW zu erarbeiten.
4.      Das soziale Quartiersmanagement in den Kommunen weiter zu unterstützen und auszubauen, um die Bedarfe ambulanter und teilstationären Angebote in Wohnortnähe für pflegebedürftige Personen und ihre Angehörigen sicherzustellen.
5.      Beratungs- und Unterstützungsangebote für Familien und Pflegende im Sinne von
„Hilfen aus einer Hand“ stärker zu bündeln und landesweit über Online-Plattformen und Apps zugänglich zu machen.
6.      Auf Bundesebene auf eine bessere Unterstützung pflegender Angehöriger durch verbesserte Pflegezeitregelungen sowie Einführung einer Lohnersatzleistung für Pflegende hinzuwirken.
7.      Auf Bundesebene die Einführung eines KinderZeit Plus Modells einzufordern. Es ermöglicht den Eltern über die ersten 12 Monate hinaus (bezahlte) Elternzeit zu nehmen.
8.      Zu prüfen, wie gemeinsam mit Akteurinnen und Akteuren aus der Wirtschaft, Kammern, Fachverbänden und den Kompetenzzentren die Möglichkeit flexibler Arbeitszeitmodelle durch Arbeitszeitkonten, Homeoffice-Regelungen oder Teilzeitausbildungsmöglichkeiten, etc. ausgebaut werden können.