Auf welche wissenschaftliche Grundlage stützt sich die Landesregierung beim Kurswechsel bei den Grundschulöffnungen ab dem 15.6.2020?

Kleine Anfrage von Sigrid Beer

So richtig es ist, möglichst vielen Kindern wieder Zugang zum Präsenzunterricht zu ermöglichen, so unverantwortlich ist die pauschale Ankündigung eines „Normalbetriebs“ durch die Schulministerin. Bisherige Versäumnisse, Fehlentscheidungen und Konzeptlosigkeit des Schulministeriums können so nicht geheilt werden.
Für die schrittweise Öffnung der Schulen in NRW haben die Schulen gewissenhaft Konzepte erarbeitet und dann umgesetzt, um Schülerinnen und Schülern so viel Präsenzunterricht zu ermöglichen wie unter Beachtung der Infektionsschutz- und Hygieneregeln sowie unter Beachtung der zur Verfügung stehenden personellen Ressource möglich war. Eine Mischung von Präsenz- und Fernunterricht ist die Regel. Die Schulen haben sich darauf eingestellt, bis zu den Sommerferien so zu verfahren und arbeiten mit Hochdruck an der Vorbereitung des neuen Schuljahrs, für das weiterhin besondere Anstrengungen nötig sein werden. Sie warten bislang vergeblich auf klare Rahmenbedingungen seitens des Schulministeriums. Das haben jüngst die verschiedenen Verbände (Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen, Landesschüler*innenvertretung) einmütig und eindringlich in einer gemeinsamen Resolution eingefordert (Resolution der Landesschüler*innenvertretung NRW, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) NRW, des Verbandes Bildungs und Erziehung (VBE) NRW, des Verbandes Lehrer NRW, des Philologenverbandes NRW, der Westfälisch-Lippischen Direktorenvereinigung, des Grundschulverbandes NRW, der Landeselternkonferenz (LEK) NRW, der Landeselternschaft der Gymnasien NRW, der Landeselternschaft integrierter Schulen (LEiS) NRW https://lsvnrw.de/wp-content/uplo- ads/2020/05/Positionspapier-Fokus-auf-das-kommende-Schuljahr-richten.pdf (abgerufen 10.06.2020)).
Stattdessen überraschte das Ministerium in seiner 23. Schulmail vom 5.6.2020 mit der Ankündigung für die Grundschulen und die Primarstufen der Förderschulen: „Diese Schulen kehren damit grundsätzlich wieder zu einem Regelbetrieb mit Unterricht möglichst gemäß Stundentafel zurück.“ Abstandsregeln und Beschränkungen der Gruppengröße werden aufgehoben.
Diese Entscheidung ist auf erhebliche und sehr breite Kritik gestoßen, weil Schulen ihre Konzepte komplett umwerfen müssen und das für nur zwei Wochen bis zu den Sommerferien, in denen sie sich auch dringend auf das neue Schuljahr vorbereiten müssten.
Es stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage dieser Kurswechsel basiert. In der Schulmail wird Bezug genommen auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ), der Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP) und des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland (bvkj e.V.) vom 19.05.2020. Das Papier bezeichnet sich ausdrücklich als Stellungnahme und nicht als wissenschaftliche Studie.
Allerdings wird in dieser Stellungnahme nicht einfach ein Regelbetrieb gefordert, sondern es wird darauf verwiesen, dass die Öffnung unter Berücksichtigung der regionalen Neuinfektions- rate geschehen soll.
Hierzu gibt es in der Schulmail keine Angaben. Angesichts der Schulschließung in Göttingen nach Auftreten neuer Corona-Fälle und der Diskussion in Israel, die Schulen wieder zu schließen, stellt sich die Frage, wie in solchen Fällen zu verfahren ist. Die Landeselternschaft der Gymnasien forderte in ihrer Pressekonferenz für alle Schulen Szenarien zu entwickeln, wie bei unterschiedlichem Infektionsgeschehen zu reagieren ist.
Weiter wird in der Stellungnahme darauf verwiesen, dass „der Schutz des Lehr-, Erziehungsund Betreuungspersonals ganz entscheidend“ ist. Es werden für sie auch Pooltestungen empfohlen. Und schließlich wird eine wissenschaftliche Begleitung gefordert: „Die Öffnung der Schulen und Kindereinrichtungen sollte durch strukturierte wissenschaftlichen Surveillance Untersuchungen exemplarisch begleitet werden, die die noch offenen Fragen zum infektiologischen Geschehen und Hygienemanagement weitergehend abklären. Diese prospektiven und begleitenden Untersuchungen sind essentiell, um die Wirksamkeit der bereits jetzt geforderten Hygienemaßnahmen zu evaluieren und zu verifizieren.“ (https://dgpi.de/stellungnahme-schulen-und-kitas-sollen-wieder-geoeffnet-werden/ (abgerufen 10.6.2020))
Hierfür werden systematische und großzügig durchgeführte Testungen empfohlen.
Der stellvertretende Ministerpräsident Joachim Stamp antwortete anstelle der Ministerin am Tag, an dem die Schulmail erschien, auf die Fragen im Heute Journal. Angesprochen darauf, dass in Grundschulen die Abstandsregeln fallen sollen, antwortete er mit Verweis auf Dänemark und Norwegen. Richtig ist aber, dass in den Schulen in Dänemark Abstandsregeln von 2 Metern gelten und viel im Freien unterrichtet wird. Im weiteren Verlauf des Gesprächs verwies Minister Stamp auf Studien aus Baden-Württemberg und Österreich. Bei der Studie in Baden-Württemberg liegen bislang nur vage Vorergebnisse vor. Der Südwestrundfunk veröffentliche am 10.6.2020 die folgende Nachricht: „Zu einer landesweiten Kinder- und Corona-Studie gibt es nach wie vor keine endgültigen Ergebnisse. Das teilte ein Sprecher des Wissenschafts-Ministeriums auf Anfrage des SWR mit.“ (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/mannheim/kinder-corona-studie-heidelberg-100.html (abgerufen 10.6.2020))
Die großangelegte Studie aus Österreich startete erst am 18. Mai. Mit Ergebnissen wird im Spätsommer gerechnet.
In einer aktuellen niederländischen Studie wurden die Daten erhoben, als die meisten Schulen dort schon geschlossen waren. Nach der jüngsten Ansteckungswelle in Israels Schulen stellen sich hier auch für die Wissenschaft neue Fragen: Dort infizierten sich einen Monat nach der Wiedereröffnung der Schulen 347 Kinder und Lehrer.
Es erschließt sich also nicht, auf welcher gesicherten wissenschaftlichen Grundlage die Anordnung der kompletten Grundschulöffnung der Ministerin beruht.
Eltern, Schulleitungen und Lehrkräfte sprechen von einem Feldversuch. Dabei müssen die Schulen mit einer deutlich reduzierten Zahl von Lehrkräften im Präsenzunterricht zusätzlich zum bestehenden Lehrermangel zurechtkommen.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
1.         Auf welche gesicherte epidemiologische Grundlage stützt sich die Entscheidung der Landesregierung, für die Grundschulen Regelbetrieb ab dem 15. Juni ohne Anwendung von Abstandsregeln anzuordnen?
2.         Auf welche angeschlossenen empirischen Studien und Ergebnisse bezieht sich die Landesregierung, die ihre Haltung stützen?
3.         Welche konkreten Unterschiede liegen zwischen dem dänischen Konzept der Grundschulöffnungen z. B. in Bezug auf Abstandsregelungen und Unterrichtsorte zum Konzept des Schulministeriums in NRW vor?
4.         Warum wird bei der Öffnung der Schulen entgegen der Empfehlung der fünf Verbände in ihrer Stellungnahme vom 19.5. auf eine begleitende Surveillance Untersuchung verzichtet?
5.         Warum sorgt die Landesregierung nicht für mehr Räume (z. B. in Vereinshäusern, Kirchengemeinden) und für mehr Personal (z.B. durch Lehramtsstudierende zur Lernunterstützung), um den Schulbesuch für alle Kinder unter Beachtung von Gesundheitsschutz sowie intensiverer individueller Förderung sicherzustellen?