Änderung des Kommunalwahlgesetzes

Änderungsantrag

Mehrdad Mostofizadeh
Änderungsantrag zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen zum Gesetzentwurf der Landesregierung zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes und weiterer wahlrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/5666)

Artikel 1 des Gesetzentwurfs in der Fassung der Beschlussempfehlung wird wie folgt geändert:

Artikel 1

Änderung des Kommunalwahlgesetzes
1.           § 2 wird wie folgt geändert:
a.  Absatz 8 wird gestrichen
b.  Absatz 9 wird Absatz 8
2.           § 4 wird wie folgt geändert:
a.  Absatz 2 Satz 4 wird gestrichen
3.           § 46 c wird wie folgt geändert
a.  Absatz 1 wird wie folgt geändert:
aa. In Satz 2 werden die Wörter „von den gültigen Stimmen die höchste Stimmenzahl“ durch die Wörter „mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen“ ersetzt.
bb) Satz 3 wird gestrichen
b.  Folgender Text wird als Absatz 2 neu eingefügt:
„Erhält von mehreren Bewerbern keiner mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen, findet am zweiten Sonntag nach der Wahl eine Stichwahl unter den beiden Bewerbern statt, die bei der ersten Wahl die höchsten Stimmenzahlen erhalten haben. Die Aufsichtsbehörde kann einen anderen Termin der Stichwahl festsetzen, wenn besondere Umstände es erfordern. Es wird auf Grund desselben Wählerverzeichnisses gewählt wie bei der ersten Wahl. Bei Stimmengleichheit entscheidet das vom Wahlleiter zu ziehende Los darüber, wer an der Stichwahl teilnimmt. Bei der Stichwahl ist der Bewerber gewählt, der von den gültigen Stimmen die höchste Stimmenzahl erhält. Bei gleicher Stimmenzahl entscheidet das vom Wahlleiter zu ziehende Los.“
c.  Folgender Text wird als Absatz 3 neu eingefügt:
„Scheidet einer der beiden Bewerber vor der Stichwahl durch Tod oder Verlust der Wählbarkeit aus, ist die Wahl insgesamt zu wiederholen. Die Partei oder Wählergruppe, die den betreffenden Bewerber vorgeschlagen hatte, kann einen neuen Wahlvorschlag einreichen. § 20 Absatz 2 Satz 2 gilt entsprechend. Im Übrigen findet die Wahl auf denselben Grundlagen und nach denselben Vorschriften wie die erste Wahl statt.“
d.  Der bisherige Absatz 2 wird Absatz 4

Begründung:

Zu 1:
Der Gesetzentwurf sieht ein Verhüllungsverbot für die Mitglieder von Wahlorganen vor. Dabei ist in der Praxis kein Fall bekannt, bei dem eine Regelungsnotwendigkeit bestanden hätte. So antwortete der Vertreter des Landkreistages NRW stellvertretend für die kommunalen Spitzenverbände in der Anhörung am 15.02.2019 auf die Frage, wie viele Fälle ihnen bei den letzten Wahlen zugetragen wurden, bei denen die Verhüllung von Wahlhelferinnen und – helfern ein relevantes Problem bei der Ausübung der Wahl gewesen sei: „Uns sind keine Probleme bekannt. Nach unserer Einschätzung sollte der Gesetzgeber die Probleme lösen, die tatsächlich anstehen“. Diesem Wunsch der Kommunen trägt die Streichung dieses Absatzes Rechnung.

Zu 2:

Die von den Regierungsfraktionen geplante kurzfristige Änderung der Einteilungskriterien bei der Einteilung des Wahlgebietes für die Kommunalwahl stößt in der kommunalen Familie überall dort auf Kritik, wo die geplanten Änderungen bereits bekannt sind. Dabei spielt neben der inhaltlichen politischen Bewertung einer solchen Änderung vor allem die Frage des Zeitpunktes der geplanten Änderung eine wesentliche Rolle. So wurde unter anderem in der Anhörung zum Gesetzentwurf von den kommunalen Spitzenverbänden darauf hingewiesen, dass IT.NRW die zukünftig in den Kommunen benötigten Bevölkerungszahlen bislang nicht bereitstellt und die für die Umsetzung einer solchen Regelung benötigte Zeit mit Blick auf den anstehenden Kommunalwahltermin im Herbst 2020 vermutlich nicht mehr ausreicht. Von daher stellt der Verzicht auf ein übereiltes Inkrafttreten einer solchen Neuregelung einen wichtigen Beitrag zur Entlastung der Kommunalverwaltungen von unnötigem bürokratischem Aufwand dar.
Änderungen, die die Einteilung der Wahlkreise betreffen, müssen zeitlich so vorbereitet werden, dass den Kommunen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttreten genug Zeit bleibt, um die Umsetzung mit vertretbarem Aufwand gewährleisten zu können. Da dies bei dem Vorhaben der regierungstragenden Fraktionen erkennbar nicht der Fall ist, wird auf eine Änderung der Einteilungskriterien beim Zuschnitt der Wahlkreise zur Kommunalwahl 2020 verzichtet.
Darüber hinaus sprechen weitere wesentliche Gründe gegen die von der Koalition geplanten Änderungen. Denn diese führen in der Praxis dazu, dass unter Berücksichtigung des Gebots vergleichbar große Wahlbezirke einzurichten, insbesondere diejenigen Wahlbezirke, in denen ein erhöhter Anteil an Nicht-Deutschen und Nicht -EU-Bürgerinnen und -bürgern ihren Wohnsitz hat, unnötig vergrößert werden müssen. Vergrößert werden somit gerade die Wahlbezirke, in denen aufgrund der sozialen Struktur die Bevölkerung ohnehin den Eindruck hat, „abgehängt“ zu sein. Gerade diese Wahlbezirke bedürfen jedoch einer erhöhten Aufmerksamkeit durch die jeweiligen Ratskandidatinnen und -kandidaten. Diesen wird durch die Vergrößerung der Wahlkreise ein deutlich höherer Betreuungsaufwand auferlegt.
Schließlich sind für die konkreten Einteilungskriterien der Wahlbezirke bei den Kommunalwahlen auch nicht die Vorgaben zur Einteilung der Wahlkreise bei der Bundestagswahl maßgeblich, sondern die besonderen kommunalwahlrechtlichen Kriterien. Deshalb besteht auch keine verfassungsrechtliche Vorgabe, die Wahlbezirkseinteilung im Kommunalwahlrecht zu ändern. In fast allen anderen Bundesländern entspricht die Einteilung der kommunalen Wahlbezirke ebenfalls der aktuellen nordrhein-westfälischen Regelung, d.h. es wird auf die gesamte Einwohnerzahl abgestellt und keine Beschränkung auf Einwohnerinnen und Einwohner mit deutscher bzw. EU-Staatsangehörigkeit vorgenommen.

Zu 3:

Die (Ober-) Bürgermeister und Bürgermeisterinnen und Landrätinnen und Landräte in Nordrhein-Westfalen nehmen eine besondere Rolle ein und bilden das Gegengewicht zu den Räten bzw. Kreistagen. Im Zusammenhang mit dieser Position, die sie formal von anderen direkt gewählten politischen Ämtern wie Bundes- oder Landtagsabgeordnete unterscheidet, bedarf es auch einer besonderen Legitimation. Diese ergibt sich einerseits aus der Direktwahl selber, andererseits aber auch aus der Tatsache, dass für ihre Wahl eine absolute Mehrheit der Stimmen erforderlich ist. Daher wird in allen Flächenstaaten in Deutschland ein zweiter Wahlgang in den Fällen durchgeführt, in denen im ersten Wahlgang kein Bewerber oder keine Bewerberin mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen konnte. Die von den Landtagsfraktionen von CDU und FDP geplante Abschaffung der Stichwahl stellt also eine unmittelbare Schwächung der (Ober-) Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie der Landrätinnen und Landräte dar und begründet ein erhebliches Demokratieproblem.(Stellungnahme Prof. Martin Morlok zur Anhörung am 15.02.2019 im Landtag NRW: https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17- 1203.pdf , S. 1.)
Mit der Einführung der Direktwahl der Hauptverwaltungsbeamtinnen und -beamten wurde in Nordrhein-Westfalen auch die Stichwahl eingeführt, die bei den Kommunalwahlen im Jahr 1999 erstmalig zum Einsatz kam. Auch bei der zweiten Direktwahl im Jahr 2004 erfolgte ein entsprechender zweiter Wahlgang zur Bestimmung der oder des Gewählten. In 35 Fällen kam es hierbei in der Stichwahl zu anderen Ergebnissen als beim ersten Wahlgang.

Nach dem Regierungswechsel 2005 wurde dann von der neuen schwarz-gelben Landesregierung die Stichwahl abgeschafft, so dass diejenigen Kandidaten bzw. Kandidatinnen gewählt wurden, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten.
Der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof entschied im Mai 2009 zwar, dass die Abschaffung der Stichwahl mit der Landesverfassung vereinbar ist. Das Gericht hat aber in der damaligen Entscheidung den Gesetzgeber dazu aufgefordert, die aktuellen normativen und tatsächlichen Grundlagen und Zusammenhänge der Abschaffung der Stichwahl genau zu beobachten. So wies es in Leitsatz 4 und in den Gründen des Urteils darauf hin, dass der Gesetzgeber die Wahlverhältnisse daraufhin im Blick behalten muss, ob das bestehende Wahlsystem den erforderlichen Gehalt an demokratischer Legitimation weiter vermitteln kann. Bei einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen oder normativen Grundlagen kann sich nach Auffassung des VGH NRW eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung der Wahl ohne Stichwahl ergeben. Sofern der Gesetzgeber veränderte Umstände vorfindet muss er diesen demnach Rechnung tragen. („Der Gesetzgeber ist gehalten, die Wahlverhältnisse daraufhin im Blick zu behalten, ob das bestehende Wahlsystem den erforderlichen Gehalt an demokratischer Legitimation auch zukünftig zu vermitteln vermag“.  https://www.vgh.nrw.de/rechtsprechung/entscheidungen/2009/090526_2-09.pdf 3 https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-5152.pdf)
Mit dem erneuten Regierungswechsel 2010 wurde dann im Jahr 2011 mit den Stimmen von SPD, Grünen, FDP und Linken die Stichwahl wieder eingeführt. Die Abschaffung durch die vorherige schwarz-gelbe Koalition hatte bei der Kommunalwahl 2009 in einigen Kommunen dazu geführt, dass Kandidatinnen und Kandidaten gewannen, die weniger als ein Drittel aller Stimmen auf sich vereinigen konnten. So wurden beispielsweise in Wülfrath und Monheim die jeweiligen Wahlgewinner mit lediglich rund 27 bzw. 30 Prozent gewählt. 73 bzw. 70 Prozent der Wähler hatten hier eine andere Wahl getroffen. Es war somit klar ersichtlich geworden, dass der Stimmenanteil der Wahlsieger in solchen Fällen zu niedrig ist, um einen ausreichenden Rückhalt bei der Wählerschaft zu gewährleisten. Durch die jetzt beabsichtigte erneute Abschaffung der Stichwahl werden diese Tatsachen von CDU und FDP ignoriert!
Die Antwort des Innenministeriums NRW auf die Kleine Anfrage 1904 der Abgeordneten Becker und Mostofizadeh lässt sich dahingehend verstehen, dass es bis zu der Sachverständigenanhörung am 15.02.2019 Regierungs-intern keinerlei Überlegungen gab, wie man dem Urteil des LVerfG NRW und hier speziell dem Leitsatz 4 gerecht werden könnte:
„Die Fraktionen von CDU und FDP haben hierzu im November 2018 einen Änderungsantrag gestellt, der u.a. vorsieht, künftig auf die Durchführung von Stichwahlen bei den Wahlen von Hauptverwaltungsbeamten zu verzichten (Drs. 17/4305). Zur Begründung werden in diesem Antrag zutreffende und beachtliche Argumente angeführt. Es wird in dem Änderungsantrag insbesondere darauf verwiesen, dass bei den Stichwahlen zu Bürgermeister-, Oberbürgermeister- und Landratswahlen in den zweiten Wahlgängen die Wahlbeteiligung ganz überwiegend unter der des ersten Wahlgangs lag. Außerdem wird in dem Antrag darauf hingewiesen, dass der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen bereits in seiner Entscheidung vom 26. Mai 2009 festgestellt habe, dass die Abschaffung der Stichwahl von kommunalen Hauptverwaltungsbeamten mit der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vereinbar ist.“3
In der Anhörung des federführenden Ausschusses für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen am 15.02.2019 wurde von Seiten der als Sachverständige geladenen Rechtswissenschaftler ausführlich dargestellt, dass es erhebliche Zweifel an einer verfassungsrechtlichen Belastbarkeit des aktuellen Entwurfs der Landesregierung bzw. des damit in Verbindung stehenden Änderungsantrags von CDU und FDP (Drucksache 17/4305) zur Abschaffung der Stichwahl gibt. So wurden insbesondere die beiden einzigen Argumente, die abstrakt von den Regierungsfraktionen in diesem ersten Änderungsantrag ins Feld geführt werden (geringe Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang und der Vergleich mit direkt gewählten Landtags- und Bundestagsabgeordneten) als unzureichend bzw. nicht vergleichbar zurückgewiesen. Vielmehr sollten anstelle der Wahlbeteiligung die Entwicklung der absoluten Stimmenzahl zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang in den Blick genommen werden: so hätte bei 76 Stichwahlen in den Jahren 2014 und 2015 ein Anstieg der absoluten Stimmenzahl für den siegreichen Kandidaten bzw. die siegreiche Kandidatin beobachtet werden können. Auch in anderen Bundesländern seien entsprechende Auswirkungen zu beobachten: In Niedersachsen erreichten demnach beispielsweise bei den Kommunalwahlen im Jahr 2006 in der Stichwahl lediglich 23 von 82 erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerbern eine geringere Stimmenzahl als im ersten Durchgang. 8Stellungnahme Prof. Bätge zur Anhörung am 15.02.2019 im Landtag NRW: https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST 17-1194.pdf)
Allerdings lässt sich durchaus ein qualitativer Zusammenhang erkennen zwischen der Entwicklung der Wahlbeteiligung im ersten und zweiten Wahlgang und der allgemeinen Einschätzung des in der Stichwahl verbleibenden Wechselpotentials bzw. -risikos. So hängt die Wahlbeteiligung durchaus von der subjektiven Erwartung ab, ob die Bürgerinnen und Bürger einen Wechsel des Ergebnisses des ersten Wahlgangs in der Stichwahl noch für realistisch oder erforderlich halten. Wenn der Unterschied zwischen Erst- und Zweitplatziertem im ersten Wahlgang (subjektiv) als zu groß oder gar uneinholbar angesehen wird (was auch abhängig vom „Verfolgerfeld“ im ersten Wahlgang ist), bleiben die Wählerinnen und Wähler der Stichwahl eher fern als wenn die Ergebnisse relativ gesehen nah beieinander liegen und somit subjektiv noch als beeinflussbar erscheinen. Auch liegen verschiedene Studien vor, die darauf hinweisen, dass Wahlverweigerung nicht immer nur mit politischem Desinteresse erklärt werden kann, da Nichtwählerinnen und -wähler eben keine homogene Gruppe mit gleichgerichteten Interessen darstellen. So legt eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Neu (2012), „Dann bleib ich mal weg“. Der Mythos der „Partei“ der Nichtwähler:
https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=371f92e8-9560-92e6-2837- 4665c5381bb5&groupId=252038) nahe, dass die große Mehrheit zwar eher als dauerhaft „flexible Wähler“ zu betrachten sind, deren Motive für das Nichtwählen mit Aussagen wie „“fehlende Verbundenheit mit Parteien“,
„Wählen hat keinen Sinn, da die da oben eh machen was sie wollen“ und „Die Parteien unterscheiden sich inhaltlich nicht voneinander“ erklärt werden. Gleichwohl ist damit aber keine Unzufriedenheit mit oder Desinteresse an demokratischen Wahlen an sich erklärbar. In diesem Zusammenhang scheint also nicht die Frage der Zufriedenheit (oder eben Unzufriedenheit) mit Wahlen die entscheidende Rolle für Wahlabstinenz zu spielen, sondern die mangelnde Zufriedenheit mit den zu Wählenden bzw. dem fehlenden eigenen Einfluss auf die Politik. Ob der Verzicht auf Wahlen darauf die richtige Antwort darstellt, darf bezweifelt werden.
Und in Bezug auf das Argument, dass Bundestags- und Landtagsabgeordnete ja ebenfalls ohne Stichwahl und somit auch mit Ergebnissen unter 50% gewählt werden, führte insbesondere der geschäftsführende Direktor der Kommunalwissenschaftlichen Instituts der Universität Münster, Prof. Hinnerk Wißmann aus, dass diese beiden Funktionen mitnichten in ihren Rollen und Stellungen vergleichbar seien:
„Die richtige Bezugsgröße für die Frage der demokratischen Legitimation des Hauptverwaltungsbeamten ist nicht der mit relativer Mehrheit gewählte Abgeordnete, sondern vielmehr die Mehrheit in der Vertretungskörperschaft. (…) Weil die Hauptverwaltungsbeamten gestützt auf ihre Wahl auf Dauer eine Gegengröße zur (ggfs. immer wieder neu zu bestimmenden) absoluten Mehrheit in der Kommunalvertretung bilden, ist die bundesweit zur Zeit konsentierte absolute Mehrheit für die Wahl der Hauptverwaltungsbeamten (dazu im Urteil Rn. 75 f.) keine Zufälligkeit, sondern sachstrukturell angemessen.“ (Stellungnahme Prof. Wißmann zur Anhörung am 15.02.2019 im Landtag NRW: https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST 17-1195.pdf, S. 2.)
Zudem äußerten die Rechtsexperten in der Anhörung erhebliche Bedenken, ob die Abschaffung der Stichwahl den demokratischen Grundsätzen entspricht. So sieht Professor Morlok eine „Perversion der Mehrheitsentscheidung“ und ein „erhebliches Demokratieproblem“. (Morlok, S. 2.) Er sieht zudem Anlass für den Verdacht, der Gesetzentwurf „sei motiviert von der Hoffnung, davon parteipolitisch zu profitieren“. (Ebd., S. 7)
Die ins Feld geführten Argumente der Regierungsfraktionen für die von ihnen geplante Abschaffung der Stichwahl sind nicht stichfest und ausreichend belastbar. Viele Fragen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, werden sowohl von den beiden Landtagsfraktionen als auch von der von ihnen getragenen Landesregierung ausgeblendet.
Diese Einschätzung wird auch vom ehemaligen Präsidenten des Landesverfassungsgerichtshofs NRW, Michael Bertrams, geteilt. (Michael Bertrams: Mit dem Kopf durch die Wand, KStA, 21.02.2019.)
Es lassen sich somit insbesondere folgende Argumente für die Beibehaltung der Stichwahlen zusammenfassen (Bätge):
·          Stichwahlen bringen den Wunsch nach einer breiten – also absoluten – Mehrheit für den obsiegenden Kandidaten oder die obsiegende Kandidatin zum Ausdruck. Die zusätzliche Wahlmöglichkeit durch die Stichwahl verbessert die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Prozessen auf kommunaler Ebene und trägt damit der Integrationsfunktion von Wahlen in der repräsentativen Demokratie Rechnung. Stichwahlen dienen somit der Befriedigung und der Integration unterschiedlicher politischer Meinungen.
·          Die Abschaffung der Stichwahl würde hingegen Minderheiten-Bürgermeister/Landräte hervorbringen, die im ersten Wahlgang mit nur relativer Mehrheit weit unterhalb der Schwelle der absoluten Mehrheit gewählt worden sind. Deren demokratische Legitimation ist besonders gefährdet, da die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler sich nicht für sie ausgesprochen hat, sondern andere Kandidatinnen oder Kandidaten gewählt hat.

·          In keinem Bundesland der Bundesrepublik Deutschland wird die Wahl eines kommunalen Hauptverwaltungsbeamten bzw. -beamtin in einem Wahlgang mit nur relativer Mehrheit für die demokratische Legitimation des oder der Gewählten als ausreichend angesehen.
·          Die Stichwahl ermöglicht die Berücksichtigung einer Zweitpräferenz des Wählers bzw. der Wählerin. Ihre Abschaffung führt zu einer Beschränkung ihrer Partizipationsmöglichkeiten. Bei einer Abschaffung der Stichwahl werden zudem kleinere Parteien und Wählergruppen und ihre Kandidaten bzw. Kandidatinnen sowie unabhängige Kandidatinnen oder Kandidaten benachteiligt.
·          Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 26. Mai 2009 dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht auferlegt, ob die demokratische Legitimation für das Amt eines kommunalen Hauptverwaltungsbeamten oder einer kommunalen Hauptverwaltungsbeamtin auf der Basis eines einzigen Wahlgangs mit relativer Mehrheit bei veränderten rechtlichen und faktischen Umständen vermittelt werden kann. Hieraus wird deutlich, dass das Gericht die demokratische Legitimation der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie der Landrätinnen und Landräte als gefährdet bzw. verletzt ansieht, wenn Kandidatinnen und Kandidaten mit geringen relativen Mehrheiten in ihr Amt gewählt werden. Der vom Verfassungsgerichtshof NRW für eine Änderung des Wahlrechts ausdrücklich geforderte sachliche Grund muss deshalb im Falle der Abschaffung der Stichwahl ein solches Gewicht haben, dass er diese sachlich rechtfertigen kann.
Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen und normativen Verhältnisse, die die Abschaffung der Stichwahl sachlich rechtfertigen könnte, ist hingegen nach wie vor nicht erkennbar. Auch die nunmehr vorliegende ausführlichere Begründung für die Abschaffung der Stichwahl im dritten Änderungsantrag von CDU und FDP (Drucksache 17/5639) vermag diese Einschätzung nicht zu entkräften, zumal zahlreiche Aspekte, die vor einer Abschaffung hätten geprüft werden müssen, offenkundig unberücksichtigt geblieben sind. Professor Wißmann hat in seiner Stellungnahme zur Anhörung der Gesetzesinitiative diese Aspekte als „Kontrollfragen“ formuliert und aufgezählt. (Wißmann, S. 3f.) Unbeantwortet bleiben nach wie vor folgende Fragen:
–      Werden Stichwahlen in Bezirken mit eher hoher oder eher niedriger Wahlbeteiligung notwendig?
–      Welchen Einfluss hat die Frage, ob die Wahl des Hauptverwaltungsbeamten gemeinsam oder getrennt mit der des Rates stattfindet?
–      Wie oft wurden durch Wahlempfehlungen ausgeschiedener Bewerbungen oder Bewerber neue, erfolgreiche Bündnisse geschaffen?
–      Wird die demokratische Legitimation des Hauptverwaltungsbeamten im Verhältnis zur Ratsmehrheit auch dann noch für ausreichend gehalten, wenn bei stark diversifiziertem Wahlverhalten (nach derzeitigem Trend) ein Bewerber oder eine Bewerberin eventuell mit ca. einem Viertel der abgegebenen Stimmen zum Hauptverwaltungsbeamten gewählt wird und dabei Zufallsergebnisse aus dem gesamten politischen Spektrum auch in NRW möglich erscheinen?

Der entsprechende Änderungsantrag (Drucksache 17/5639) weist darüber hinaus noch weitere Mängel und Fehleinschätzungen auf:
Die Kernaussage aus der Begründung ist in der Zusammenfassung auf Seite 11 zu sehen. Dort heißt es:
„Zwar konnte in 70 von 98 Stichwahlen ein Stimmenzuwachs bei den in der Stichwahl erfolgreichen Kandidatinnen und Kandidaten festgestellt werden, der allerdings in mehr als der Hälfte der Fälle dem Sieger des ersten Wahlgangs auch in der Stichwahl zum Sieg verhalf. Insgesamt gaben die Wählerinnen und Wähler den 198 Kandidatinnen und Kandidaten im ersten Wahlgang 3.253.557 Stimmen. In der Stichwahl erhielten Sie dagegen nur noch 2.816.843 Stimmen. Damit ist ein Rückgang der Stimmenzahl für die Kandidatinnen und Kandidaten von 436.644 Stimmen oder 13,42% in der Stichwahl zu verzeichnen.“
Es wurde somit eine Betrachtung aller Wählerstimmen über alle Wahlen auf die beiden im ersten Wahlgang obsiegenden Bewerberinnen bzw. Bewerber vorgenommen. Allerdings wird in der vorangegangenen Argumentation in der Drucksache 17/5639 immer zwischen Landratswahlen und (Ober-) Bürgermeisterwahlen unterschieden.
Nimmt man diese Differenzierung hier ebenfalls vor, so ergibt sich folgendes Bild:
Bei den neun betrachteten Landratswahlen von 2013 bis 2015 in den Kreisen Rhein-Erft-Kreis, Märkischer Kreis, Kreis Minden-Lübbecke, Kreis Recklinghausen, Rhein-Sieg-Kreis, Kreis Siegen-Wittgenstein, Kreis Wesel, Kreis Euskirchen, Kreis Lippe und der Wahl in der Städteregion Aachen sind im ersten Wahlgang 1.425.556 und in der Stichwahl 899.888 Stimmen auf die zwei in die Stichwahl gehenden Kandidatinnen oder Kandidaten entfallen. Somit wurden rund 37% weniger Stimmen in der Stichwahl abgegeben.
In den betrachteten 88 (Ober-) Bürgermeisterwahlen hingegen wurden in der Stichwahl in absoluten Zahlen sogar mehr Stimmen auf die beiden im ersten Wahlgang obsiegenden Bewerberinnen bzw. Bewerber abgegeben als im ersten Wahlgang. Im ersten Wahlgang wurden nämlich auf die beiden besten Bewerberinnen oder Bewerber 1.828.001 Stimmen abgegeben, im zweiten Wahlgang sogar 1.916.665 Stimmen, mithin fünf Prozent mehr!
Auch in der Begründung des Änderungsantrages von CDU und FDP (Drs. 17/5639) wird zutreffend darauf hingewiesen, dass bei den nicht verbundenen Wahlen in kreisangehörigen Städten und Gemeinden im Jahr 2015 in 43 Fällen eine Stichwahl durchgeführt wurde und in allen 43 Fällen die siegreichen Bewerberinnen und Bewerber ihren Stimmanteil erhöhen konnte. In fast einem Drittel führte dieser Zuwachs dazu, dass der im ersten Wahlgang unterlegene Kandidat bzw. die unterlegene Kandidatin im zweiten Wahlgang siegte.
Dies zeigt deutlich, dass das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Wahl der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister auch in der Stichwahl sehr hoch ist! Die Begründung bzw. die Zusammenfassung dieser Werte im Änderungsantrag unterschlägt diese Tatsache!
Auf Seite 9 des Änderungsantrags heißt es zudem: „In den 41 weiteren Stichwahlen war ein Rückgang der Wahlbeteiligung zwischen 9 und 1 Prozentpunkten zu verzeichnen.“ Dies ist ebenfalls dem Grunde nach richtig, aber nicht ehrlich. Der weitaus überwiegende Teil der Rückgänge bei der Wahlbeteiligung liegt im Bereich von ein bis zwei Prozent und nicht wie angedeutet im Bereich von neun Prozent und dürfte damit im Bereich der statistisch nicht relevanten Schwankungen liegen.
Völlig unberücksichtigt ließen CDU und FDP zudem, dass die Bürgermeister- und Landratswahlen im Jahr 2015 nicht gemeinsam mit der Wahl der kommunalen Vertretungen, sondern als Einzelwahlen erfolgt sind.
Es kann somit nicht die Rede davon sein, dass der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Beobachtungs- und Rechtfertigungspflicht für den Nachweis eines sachlichen Grundes für die Abschaffung der Stichwahl im erforderlichen Umfang nachgekommen ist. Vielmehr sprechen die Auswertungen der amtlichen Wahlergebnisse dafür, dass es für die Abschaffung der Stichwahl keinen rechtfertigenden sachlichen Grund gibt.