30 Jahre Deutsche Einheit

Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN

Portrait Josefine Paul

I. Ausgangslage
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes formulierten 1949 am Schluss der Präambel des Grundgesetzes ganz bewusst einen unmissverständlichen Auftrag: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Dieser Auftrag wurde in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 erfüllt.
Durch die Friedliche Revolution in der damaligen DDR ist das Tor zur deutschen Einheit auf­gestoßen worden. Mutig und selbstbewusst haben die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutsch­lands den Prozess zur Einheit vorangetrieben.
Seit genau 30 Jahren sind wir wieder „Deutschland, einig Vaterland“. Dies beschreibt bis heute den politischen Auftrag und die fortdauernden Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung. Mit Freude, Stolz und Dankbarkeit blicken wir auf den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung und das seitdem Erreichte zurück. Es wurde viel erreicht, dennoch liegt noch Einiges vor uns. Im Rückblick wird sichtbar, welche Kraftanstrengungen die Bürgerinnen und Bürger des vereinten Deutschlands und ihre Institutionen vollbracht haben. Der Mut von damals muss auch heute Vorbild und Ansporn sein, den gemeinsamen Weg konsequent weiter zu gehen.
Der Prozess der Wiedervereinigung von zwei Ländern – getrennt durch eine Mauer, durch Stacheldraht und einen Todesstreifen, genau wie durch zwei unterschiedliche politische Systeme und der Zugehörigkeit zu zwei sich feindlich gegenüberstehenden Machtblöcken – war nicht für alle einfach. Lebenspläne wurden durchkreuzt, Biographien gebrochen, Sicherheiten wurden zu Ungewissheiten. Die Einheit in Frieden, erkämpft durch mutige Frauen und Männer in Ostdeutschland, und getragen vom Wunsch nach Freiheit und Demokratie, ist nicht nur ein weltweit singuläres historisches Ereignis, es ist ein Gewinn für Europa und für jeden von uns.
Viel zu oft nehmen wir diese historische Leistung als gegeben hin. 30 Jahre nach der Deutschen Einheit sollten wir innehalten und gerade den Menschen mit DDR-Biografie Danke sagen – für ihren Mut zur Freiheit, für das Rückgrat, für ihre Entschlossenheit und Standhaftigkeit.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
1.    Die Deutsche Einheit ist ein Geschenk, über das wir uns jeden Tag freuen dürfen. Sie hat unzählige Mütter und Väter. Jede und jeder davon verdient unseren Dank.
2.    Glasnost und Perestroika haben den Regierungen in Osteuropa neue Freiheiten gegeben und so die Öffnung des Eisernen Vorhangs ermöglicht. Ebenso gilt unser Dank unseren Freunden in Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn. Stellvertretend für viele Bürgerrechtsbewegungen erinnern wir an den außerordentlichen Kampf der pol­nischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Ihr großer Verdienst trug zur deut­schen Wiedervereinigung und dem europäischen Einigungsprozess maßgeblich bei.
3.    Unsere Freunde und Verbündeten im Westen gaben im Wissen um die gefestigte westdeutsche Demokratie einem vereinigten Deutschland einen Vertrauensvorschuss.
4.    Ohne den Mut und den Einsatz der vielen Frauen und Männern in den neuen Bundesländern, stellvertretend sind die Montagsdemonstrationen in Dresden und Leipzig genannt, die genauso friedlich wie unerschrocken und hartnäckig gegen die Unter­drückung des Regimes und für die Freiheit auf die Straße gingen, wäre die Einheit nicht möglich gewesen. Ihrem Einsatz ist das Zerbrechen dieses Regimes sowie die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit zu verdanken.
5.    Wir wollen zugleich an die Brutalität und die verzweifelten Versuche des StasiRegimes erinnern, diesen Mut niederzuknüppeln. Und wir gedenken am 30. Jahrestag der Wiedervereinigung der vielen Menschen und ihren Angehörigen, die bei dem Versuch, über die innerdeutsche Grenze zu fliehen, getötet oder aufgegriffen und anschließend inhaftiert wurden.
6.    Die verantwortlichen Politiker in West wie Ost, im In- und im Ausland, sahen und ergriffen vor mehr als 30 Jahren die einmalige historische Chance für ein vereinigtes Deutschland. Sie waren bereit, für eine bessere Zukunft gemeinsam zu arbeiten. Stellvertretend für diese seien Michael Gorbatschow, George Bush sen., Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt und Lothar de Maizière genannt. Ohne sie, ohne ihr Geschick und ihr Vertrauen in die anderen, wäre die Einheit nicht möglich gewesen.
7.    Für uns ist die Deutsche Einheit eine gemeinsame Aufbauleistung. Es waren vor al­lem die Menschen in den neuen Bundesländern, die den größten Teil des Umbruchs schultern mussten. Diese kollektive Leistung verdient Respekt. Aber auch die Menschen im Westen haben mit gewaltigen Transferleistungen dafür gesorgt, die Lebens­verhältnisse in den neuen Ländern nach und nach anzupassen.
8.    Die staatliche Einheit unseres Landes ist vor 30 Jahren vollzogen worden, die innere Einheit wächst jeden Tag weiter. Undifferenzierte Gleichheit darf dabei nicht das Ziel sein, denn unser Land lebt von der Vielfalt der Regionen und der Menschen. Unser zentrales Anliegen bleibt die Vollendung der inneren Einheit und die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.
9.    Das vereinigte Deutschland ist ein weltoffenes Land. Ein Land, das die Schutzbedürf­tigen aufnimmt, das offen ist für Zuwanderung, das weltweit für Menschenrechte ein­steht und die Demokratie und ihre Werte überall gegen alle Feinde von außen wie von innen bekämpft. Jeder Deutsche hat daher die Pflicht, sich gegen jede Form von Verfassungsfeindlichkeit zu stellen, gegen jeden, der nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.
10.  Der Landtag Nordrhein-Westfalen verwahrt sich daher gegen die Vereinnahmung des Geistes der Friedlichen Revolution und ihren Forderungen durch nationalistische und antidemokratische Kräfte und Parteien. Eingedenk der wechselhaften deutschen Geschichte ist es unsere Aufgabe, diesen Entwicklungen entschieden und unmissver­ständlich entgegenzutreten.
11.  Die Friedliche Revolution und die Deutsche Einheit sind feste Bestandteile der deutschen Erinnerungskultur. Die Geschichte der deutschen Teilung als Folge von NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg sind zentrale Bestandteile historischer und politischer Bildung. Darin einbezogen sind das Gedenken an die Opfer und die Überwindung der SED-Diktatur.
12.  Die Einheit machte Deutschland wieder zum gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft. Wir sind umgeben von Freunden. Daraus erwächst zugleich eine Verantwortung, für diesen Frieden und die Europäische Einigung jederzeit einzustehen.
13.  Wir alle können stolz auf unser Land und das in den vergangenen 30 Jahren Erreichte sein, denn – ungeachtet von Geschlecht, Abstammung, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, politischen Anschauungen – gilt: Wir sind das Volk, und wir sind ein Volk.