Sigrid Beer: Pluspunkt Bildung – Juli 2021

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freund*innen,

ein ungewöhnliches Schuljahr geht zu Ende. Nach Wochen und Monaten von Distanz- und Hybridunterricht und zusätzlichen Quarantänephasen für einzelne Schulen oder Lerngruppen, sinken die Inzidenzzahlen, können Erleichterungen kommen, wie die Aufhebung der Maskenpflicht im Außenbereich. Aber auch das kommende Schuljahr wird kein normales sein können. Deshalb gilt es, jetzt klare Regeln für das kommende Schuljahr zu setzen, die Gesundheitsschutz und pädagogische Flexibilität für die Schulen beinhalten und Unterstützung geben für Lehrkräfte und Schüler*innen.

Die Landesregierung zeigt aber bislang wenig Bereitschaft dazu und fährt weiter ihren Kurs der kurzfristigen Reaktionen per Schulmail. Der Protest der Eltern schwillt an.

Unbeirrbar ist die Landesregierung und die sie stützende Koalition beim Fach Wirtschaft, zu deren Gunsten die Sozialwissenschaft in der Lehramtsausbildung marginalisiert werden soll.

Ich wünsche eine gute und erholsame Sommerzeit.

Bleiben Sie und bleibt Ihr bitte gesund!

Ihre/Eure
Sigrid Beer

 

Inhalt:

  • Luftfilteranlagen flächendeckend notwendig
  • Testungen in Schulen auch nach den Ferien
  • Pädagogische Freiheit der Schulen für ganzheitliche Bildungsprozesse
  • Unterstützung der Schulen durch Mentoringprogramme
  • Sowi bleibt – doch nicht
  • Islamischer Religionsunterricht und die Beratungsresistenz des Schulministeriums
  • PISA- Sonderauswertung zeigt erschreckende Defizite
  • Schülerbegegnungen mit Großbritannien und Nordirland
  • Weiterbildungsgesetz novelliert
  • Lesetipp: „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“

 

Luftfilteranlagen flächendeckend notwendig

Die Delta-Variante zeigt, dass Corona noch nicht überwunden ist. Um eine vierte Welle zu verhindern und damit zu riskieren, erneut Präsenzunterricht aussetzen zu müssen, brauchen wir sichere Räume in den Schulen. Ein Blick nach Großbritannien und Israel zeigt, dass sich die Mutation gerade in der Gruppe der ungeimpften Kinder und Jugendlichen verbreitet. Und für die Kinder unter 12 ist noch kein Impfstoff zugelassen. Wir werden also noch mindestens bis Frühjahr 2022 diese Gruppe besonders schützen müssen. Das Stoßlüften ist nicht ausreichend. Verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen wie die Deutsche Physikalische Gesellschaft oder die Harvard School of Public Health empfehlen Luftfilteranlagen. Die Landesregierung hatte nach einigem Zögern ein Förderprogramm aufgelegt, dass aber zeitlich befristet und bürokratisch war und deshalb nur zu 20% abgeflossen ist. Vor allem aber deckte es nicht mobile Filteranlagen ab, genauso wenig wie ein ähnliches Bundesprogramm. Dabei sind nur diese in der Lage kurzfristig flächendeckenden Schutz zu ermöglichen. Die stationären Anlagen sind in Planung, Beschaffung und Einbau zeitlich zu aufwändig. Für 120- max. 150 Mio. Euro könnten alle Unterrichtsräume in Grund- und Förderschulen – im ersten Schritt – ausgestattet werden.

Viele Kommunen sind auch irritiert, weil das Land weiterhin die Einschätzung des Umweltbundesamtes von November 2020 verbreitet, dass Stoßlüften ausreichend sei. Dem widersprechen andere Institutionen und selbst das Umweltbundesamt hatte 2017 – also noch vor der Pandemie – empfohlen, auf Filteranlagen und ergänzendes Lüften zu setzen.

„…Es muss in vielen Schulgebäuden auch während des Unterrichtes gelüftet werden. Besser ist es, wenn von vorn herein eine Grundlüftung über eine mechanische Lüftungseinrichtung erfolgt und zusätzlich in den Pausen über die Fenster gelüftet wird. Diese so genannte „hybride Lüftung“ ist künftig der hygienisch und technisch anzustrebende Standard bei Neubauten oder umfangreicher Sanierung von Unterrichtsgebäuden.“

 

Eine landesweite Elterninitiative hat am 28. Juni vor der Landespresse die Landesregierung aufgefordert, ein klares Signal zu setzen, dass Filteranlagen gewünscht sind. Andere Bundesländer wie Baden-Württemberg und Berlin sind da weiter. Deshalb brauchen wir auch eine Fortführung und Öffnung des Landesprogramms für mobile Anlagen. Hierzu haben wir einen Antrag in die Plenardebatte gebracht.

Testungen in Schulen auch nach den Ferien

Der Landtag hat im Juni Gelder freigegeben, damit auch im neuen Schuljahr die Tests in Schulen fortgesetzt werden können. Die Landesregierung plant zunächst bis Ende des Jahres. Die Tests sind eine sinnvolle Präventivmaßnahme, um gegebenenfalls rasch reagieren zu können. Laut Empfehlung des Robert-Koch-Instituts sollte das bis April 2022 verlängert werden

Pädagogische Freiheit der Schulen für ganzheitliche Bildungsprozesse

Es ist notwendig Druck, aus dem System zu nehmen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht werden zu können. Schulen brauchen mehr pädagogische Freiheit, um ganzheitliche Bildungsprozesse zu gestalten, personelle Unterstützung mit zusätzlichem Personal und Kooperation mit weiteren Bildungsträgern zu organisieren. Die curricularen Vorgaben sollten bis zu den Herbstferien ausgesetzt werden, damit Schulen die Stundenpläne frei gestalten können. Das bietet Gelegenheit, mit zusätzlichen Kräften aus Sport, Musik, Kunst, Handwerk umfassende und vielfältige Angebote zu machen, außerschulische Lernorte aufzusuchen, Projekttage und -Wochen zu gestalten, forschendes Lernen, Erkundungen und Exkursionen, gemeinsamen Unternehmungen Zeit zu geben. Persönlichkeitsentwicklung, soziales Lernen und Stärkung von Schlüsselkompetenzen, Raum für Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration, Kommunikation ist jetzt geboten. So wird die beste Ausgangslage geschaffen, damit alle Kinder und Jugendlichen umfänglich für Bildungsprozesse wieder Anschluss gewinnen bzw. diese festigen können.

Nach Monaten, die durch Distanz- und Hybridunterricht gekennzeichnet waren, muss Zeit für Schulgemeinschaft da sein. Dabei müssen vor allem die Schülerinnen und Schüler endlich intensiv vom Beginn des Schuljahres an in die gesamten Planungen und in die Gestaltung solcher Angebote mit eingezogen werden. Sie erlebten die letzten Monate vielfach fremdbestimmt. Das muss sich ändern.

Für mehr Flexibilität muss auch in Bezug auf Formate zur Leistungserbringung, von Klassenarbeiten und Prüfungen im kommenden Schuljahr schon jetzt gesorgt werden. Auch das ist in unserem Antrag enthalten.

Unterstützung der Schulen durch Mentoringprogramme

Die Landesregierung hat ein „Aufholprogramm“ in Höhe von 430 Millionen Euro angekündigt, wobei 215 Millionen vom Bund kommen. In den bisher bekannten konzeptionellen Überlegungen werden endlich Forderungen der Grünen aufgegriffen, die immer wieder vorgetragen wurden, z.B. Lehramtsstudierende zur Lernbegleitung in Klassen- und Jahrgangsteams einzusetzen.

Zur Stärkung der Kinder und Jugendlichen braucht es zudem umfangreiche Mentor*innen-Programme. Zivilgesellschaftliche Akteure wie u.a. „Balu und Du“ oder „Rock Your Life“ stehen bereit, dabei zu unterstützen, Bildungsbenachteiligungen abzubauen, die durch die Corona-Pandemie noch verschärft worden sind. Die Wirksamkeit solcher Mentoringprogramme ist jüngst wieder bestätigt worden, so jüngst in einer Publikation des ifo-Instituts.  Die Mittel aus dem „Corona-Aufholprogramm“ müssen zudem dafür eingesetzt werden, die Rahmenbedingungen in den Schulen systemisch und systematisch zu verbessern. Das fehlt bislang im „Aufholprogramm“.

Sowi bleibt – doch nicht

Das Bestreben der Landesregierung die Stärkung des Fachs Wirtschaft zu Lasten der Sozialwissenschaften vorzunehmen, hatte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. In der Anhörung im Landtag gab es auch viel Kritik von Expert*innen. Doch Landesregierung und Koalition waren nur zu kosmetischen Änderungen bereit. Die Lehramtszugangsverordnung wurde verabschiedet und die Sozialwissenschaften marginalisiert. Das wird auch Auswirkungen auf die Hochschulen haben, die das entsprechende Lehrangebot zurückfahren werden. SPD und Grüne haben gemeinsam angekündigt, das nach der Wahl rückgängig machen zu wollen.

Islamischer Religionsunterricht und die Beratungsresistenz des Schulministeriums

Weil die islamischen Verbände keine anerkannten Religionsgemeinschaften wie die Kirchen oder die Jüdische Gemeinde sind, hatte Ministerin Sylvia Löhrmann eine Brückenlösung ins Leben gerufen, um Islamischen Religionsunterricht zu ermöglichen. Dafür wurde ein Beirat geschaffen, der zur Hälfte von den islamischen Verbänden und zur anderen Hälfte vom Ministerium benannt wurde. Das Modell war zeitlich befristet und wurde kürzlich durch das Kommissionsmodell abgelöst. Nun hat der Beirat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Dieser zeigt deutlich die fehlende Gesprächsbereitschaft von Ministerin Gebauer mit dem Beirat

Wichtige geplante Tagungen zu zentralen Fragen konnten nicht durchgeführt werden.

Nach dem Putschversuch in der Türkei und Berichten der Einflussnahme des türkischen Staates auf die Ditib und der Spitzelaffäre hatte Ministerin Löhrmann seinerzeit die Ditib aufgefordert, ihren Sitz im Beirat ruhen zu lassen, bis die Vorwürfe geklärt sind, bzw. eine ausreichende Unabhängigkeit der Ditib NRW vom türkischen Staat sichergestellt ist. Ausgerechnet nach den heftigen antisemitischen Vorfällen, bei denen auch die Flaggen türkischer Nationalisten geschwenkt wurde, stellte Ministerin Gebauer Ditib als Kommissionsmitglied vor. Für das Land Hessen hat der renommierte Staatsrechtler Prof. Isensee in einem Rechtgutachten deutlich gemacht, dass eine Satzungsänderung des Landesverbandes per se die Einflussnahme durch die Religionsbehörde nicht ausschließen kann. Es sind noch viele Fragen offen. Wir bleiben dran. Wir haben Im Plenum nachgefragt, im Plenarprotokoll ab Seite 89.

PISA- Sonderauswertung zeigt erschreckende Defizite

PISA hat eine in einer Sonderauswertung die Lesefähigkeiten der 15-jährigen Schüler*innen untersucht (21st-Century Readers:Developing Literacy Skills in a Digital World“. Die Studie zeigt, dass viele Länder ihre Anstrengungen verdoppeln müssen, um die entstehende digitale Kluft zu bekämpfen. Es wird auch untersucht, was Lehrkräfte tun können, um Schüler*innen zu helfen, sich in der Mehrdeutigkeit zurechtzufinden und Komplexität zu bewältigen. Weniger als die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland ist in der Lage, in Texten Fakten von Meinungen zu unterscheiden. Insgesamt schneiden deutsche 15-Jährige bei der Lesekompetenz aber leicht über dem OECD-Mittel ab. Allerdings war in Deutschland auch die Spreizung nach sozialem Hintergrund besonders groß.
Das Ergebnis verdeutlicht auch, wie zentral kritische Medienbildung und die Fähigkeit zur Analyse und Quellenkritik sind. SoWi lässt grüßen (s.o.).

Schülerbegegnungen mit Großbritannien und Nordirland

Mit dem Brexit brauchen auch die Schülerbegegnungen mit Großbritannien und Nordirland eine neue rechtliche Grundlage. NRW hat ein entsprechendes Programm aufgelegt. Es scheitert aber in der Praxis manchmal an den konkreten Förderbedingungen. So ist die Forderung nach Unterbringung in Gastfamilien schwierig, da die britischen Vorgaben zum Kinderschutz vorher ein polizeiliches Führungszeugnis vorsehen. Die bevorzugte gemeinsame Unterbringung in Jugendherbergen ist aber nicht in der Förderung vorgesehen. Ähnliche Probleme gibt es bei Auslandspraktika im Vereinigten Königreich. Ich habe deshalb Ministerin Gebauer angeschrieben und um die Prüfung einer Flexibilisierung gebeten.

Weiterbildungsgesetz novelliert

Die demokratischen Fraktionen hatten gemeinsam einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Weiterbildungsgesetzes in den Landtag eingebracht. Das entspricht der jahrzehntelang geübten Praxis, in diesem Politikfeld gemeinsam zu agieren. Der Novellierung war eine ausführlicher Diskussionsprozess mit allen Trägern der gemeinwohlorientierten Weiterbildung i NRW vorausgegangen. In der Anhörung der Expert*innen gab es dann noch einige Anregungen zur Verbesserung. Diese wurden in einem gemeinsamen Änderungsantrag aufgenommen. Außerdem wurde in einem Entschließungsantrag darauf hingewiesen, dass die finanzielle Ausstattung in den nächsten Jahren weiter dynamisiert  werden muss und eventuelle neue Bedarfe ebenfalls abgedeckt werden müssen. Dies betrifft zum Beispiel die dynamische Entwicklung beim Zweiten Bildungsweg, wo die Weiterbildung immer stärker nachgefragt wird. Zu den Honorarkräften heißt es: „Die Qualität der Bildungsveranstaltungen der gemeinwohlorientierten Weiterbildungseinrichtungen in NRW wird überwiegend von freiberuflichen Dozentinnen und Dozenten sichergestellt. Für diese Gruppe gibt es Verbesserungspotential im Hinblick auf die Honorar- bzw. Arbeitsbedingungen.  Alle Verantwortlichen in den Weiterbildungseinrichtungen und für die Weiterbildung Verantwortung Tragenden sind aufgefordert, angemessene Arbeitsbedingungen wie eine qualifikationsadäquate Bezahlung bzw. über Festanstellungen für eine Absicherung von Dozentinnen und Dozenten Sorge zu tragen.“

Und zum Schluss ein Lesetipp für den Sommer:

„Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“

Die frühere stellvertretende GEW-Vorsitzende Marianne Demmer analysiert in „1920 – 2020. Schulreform in Deutschland – Eine (un)endliche Geschichte?“, warum es in Deutschland seit Jahrzehnten so schwierig ist, Schule inklusiv zu gestalten.

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