Schulische Inklusion auf dem Weg

Kommunalinfo

Liebe Freundinnen und Freunde,
die Presse meldete in den letzten Wochen verschiedentlich, der Inklusionsprozess sei gestoppt oder verschoben worden. Das hat verständlicherweise zu einigen Irritationen geführt. Um es klar zu sagen: Die schulische Inklusion in NRW ist weder gestoppt noch verschoben, sie ist vielmehr weiter auf gutem Weg – in vielerlei Hinsicht. Deshalb wollen wir mit diesem Newsletter ausführlich darstellen, wo die Baustellen sind, welche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden und was die nächsten Schritte sind.

Ausgangslage

Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht in Art. 24 vom Recht auf inklusive Bildung. Das bedeutet, dass jeder Mensch, ob mit oder ohne Behinderungen, das Recht hat, an einer allgemeinen Schule mit anderen unterrichtet zu werden. In Deutschland haben wir traditionell eine stark differenzierte Schulstruktur mit eigenen Förderschulen. Diese Sonderung widerspricht dem Gedanken eines inklusiven Bildungssystems. Gleichzeitig gibt es in NRW aber auch eine lange Tradition des „Gemeinsamen Unterrichts“ der Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung an Regelschulen. Allerdings wurde aber nur jedes siebte Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam unterrichtet.

Schwarz-gelbes Versäumnis

Die UN-Konvention wurde 2006 verabschiedet und trat mit der Ratifizierung 2009 in Kraft. Die schwarz-gelbe Landesregierung von 2005 bis 2010 hat die Herausforderung, die sich aus dem Anspruch der UN-Konvention ergibt, beharrlich ignoriert. Es dauerte Jahre, bis die Regierung überhaupt den Begriff Inklusion verwandte. Ein interfraktioneller Antrag, der sich zur UN-Konvention bekannte, scheiterte Ende 2009 am Veto der FDP. Obwohl immer mehr Schulen Gemeinsamen Unterricht (GU) anbieten wollten, wurden die Stellen für den Grundschulbereich gar nicht, im Bereich Sekundarstufe I um minimale 65 Stellen in fünf Jahren erhöht. Am Ende stellte sich sogar raus, dass einige hundert Stellen nicht ausreichend ausfinanziert waren, also nicht besetzt werden konnten. Auch konzeptionell gab es keinerlei Ansätze der alten Landesregierung, wie der nötige Umbauprozess hin zu einem inklusiven Bildungssystem zu bewältigen ist.

Rot-Grünes Sofortprogramm

An mehreren Stellen gleichzeitig hat Rot-Grün 2010 begonnen, den Inklusionsprozess in Gang zu bringen. Zunächst wurden die gefährdeten Stellen für den GU gesichert. Ein deutliches Bekenntnis zur Inklusion wurde vom Landtag verabschiedet. Mit dem „Löhrmann-Erlass“ von Dezember 2010 wurde die Beweislast umgedreht. Mussten bislang Eltern, die für ein Kind den Unterricht an einer Regelschule wünschten, nachweisen, dass dies möglich ist, so sind nun die Schulämter gehalten, dem Elternwunsch, wo immer dies möglich ist, zu entsprechen. Die Schulämter müssen nun im Zweifelsfall nachweisen, warum die notwendigen Bedingungen nicht gegeben sind – und auch nicht hergestellt werden können.
Gemäß dem Motto „Betroffene zu Beteiligten zu machen“ hat Sylvia Löhrmann Verbände und Elterninitiativen zu einem „Gesprächskreis Inklusion“ ins Ministerium eingeladen, um gemeinsam die Schritte zu beraten.
Mit dem ersten rot-grünen Haushalt 2011 wurden die Stellen für den GU in der Sekundarstufe I mehr als verdoppelt, erstmals ein Unterstützungsbudget von 85 Stellen eingerichtet und 53 Stellen für die Inklusionsplanung in den Regionen geschaffen.
Wie im Gesprächskreis verabredet, wurden zwei Gutachten vergeben, die einerseits mögliche Schritte und deren Ressourcenbedarf und andererseits die Arbeit der Kompetenzzentren und deren mögliche Weiterentwicklung untersuchten. Die Ergebnisse wurden Ende 2011 im Gesprächskreis vorgestellt.

Weichenstellung und Neuwahl

Die Gutachten haben gute Wege aufgezeigt, wie der Inklusionsprozess zielgerichtet, sorgsam und verlässlich beschritten werden kann. Nun war der Landtag gefordert, eine klare Weichenstellung zu geben. Angesichts der Größe der Herausforderung, der Dauer des Umbauprozesses von mindestens zehn Jahren und der Konstellation einer Minderheitsregierung, warb Rot-Grün für eine breite Mehrheit. Nach wochenlangen Verhandlungen mit der CDU scheiterte aber ein gemeinsamer Antrag. Folglich wurde ein eigener Antrag ins Plenum eingebracht, der aber nicht mehr zum Zuge kam, da am selben Tag (14.3.2012) der Haushalt scheiterte und der Landtag sich auflöste. Durch diese Verzögerung konnte die notwendige Weichenstellung erst im Juli vom neuen Landtag verabschiedet werden.

Ressourcen und Gesetze

Aber der Inklusionsprozess hat zu keiner Zeit geruht. Die Vorbereitungen für eine schulgesetzliche Verankerung, der Anpassung von Verordnungen und die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen liefen weiter. Der Entwurf für den Haushalt 2013 weist insgesamt 1680 Stellen in der Titelgruppe Inklusion auf, das ist ein Zuwachs von 1148 Stellen seit 2010, also mehr als 200 Prozent. Die Mittel für Fortbildungen im Bereich Inklusion steigen auf 3,7 Millionen Euro. Wenige Wochen nach der Landtagsentscheidung legte die Landesregierung einen Referentenentwurf für das „Erste Gesetz zur Umsetzung der Inklusion“ vor, das 9.Schulrechtsänderungsgesetz (9.SchRÄG). Dieser ging dann in die vorgeschriebene Verbändeanhörung, das heißt Verbände, Gewerkschaften usw. konnten Anmerkungen, Kritik und Änderungswünsche einbringen. Angesichts der Bedeutung der Inklusion hatte das Schulministerium mehr Verbände und Initiativen um Stellungnahme gebeten, als es sonst üblich ist. Auch der Rücklauf war ungewöhnlich vielfältig. Wie nicht anders zu erwarten, geht es einigen zu schnell, andere beklagen ein zu langsames Tempo des Umbauprozesses. Das Schulministerium wird nun einige Anregungen der Verbändeanhörung aufgreifen und den eigenen Entwurf entsprechend anpassen. Im nächsten Schritt wird er dann als Gesetzentwurf der Landesregierung in den Landtag zur Beratung eingebracht. Ursprünglich für Mitte Dezember geplant. Durch die Fülle der Anregungen hat sich der Gesetzgebungsprozess etwas verzögert. Von einem Verschieben auf das nächste Jahr, wie einige Zeitungen meldeten, kann aber keine Rede sein. Der Fahrplan für den Rechtsanspruch wird eingehalten. Der im Entwurf vorgesehene Rechtsanspruch sollte auch nach alter Zeitplanung für die Anmeldung zum Schuljahr 2014/2015 wirksam werden – für die Grundschule ist das November 2013, für die weiterführenden Schulen Februar 2014. Das ist auch weiterhin so vorgesehen und haltbar.

Zu einigen Aspekten des 9.SchRÄG haben uns besorgte Anfragen erreicht, auf die wir gerne eingehen wollen:

Es fehlen SonderpädagogInnen, wie soll da Inklusion klappen?

Stimmt, uns fehlen dringend SonderpädagogInnen. Hier sind in den letzten Jahren viel zu wenige ausgebildet worden. Die Universitäten haben mit einem hohen Numerus Clausus den Mangel deutlich verschärft. Für sie brachten Sonderpädagogik-Studienplätze zu wenig Renommee. Durch das schwarz-gelbe Hochschulfreiheitsgesetz gibt es für das Land keine direkte Möglichkeit der Steuerung der Studienkapazitäten mehr. Für das nächste Jahr stellt die Landesregierung Anreize für 500 zusätzliche Studienplätze bereit. Dies bringt aber erst in einigen Jahren auch zusätzliche Kräfte. Um kurzfristig dem Mangel begegnen zu können, hat das Land eine berufsbegleitende Qualifizierungsmaßnahme für Lehrkräfte eingerichtet, die bereits Erfahrungen im gemeinsamen Lernen haben. Diese auf 18 Monate angelegte Qualifizierung stößt auf reges Interesse. Bis zum Jahr 2018 werden so 2500 zusätzliche SonderpädagogInnen zur Verfügung stehen, 250 kommen jedes Halbjahr hinzu.

Der Rechtsanspruch auf Unterricht an einer Regelschule wird auf die Klassen 1 und 5 beschränkt, warum?

Die unbeschränkte Einführung würde das System überfordern und Verwerfungen mit sich bringen. Die Erfahrung aus Bremen und Brandenburg lehrt, dass das den gesamten Inklusionsprozess zurück werfen kann. Wir haben uns dafür entschieden, Sorgfalt vor Schnelligkeit walten zu lassen, damit Eltern, Lehrkräfte und Kinder auf die notwendige Verlässlichkeit des Umbaus und der Ressourcenausstattung vertrauen können.

Inklusion geht doch nicht zum Nulltarif! Was gibt das Land zusätzlich?

Manche Lehrerverbände sprechen davon, dass das Land keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung stellen wolle. Das ist falsch! Richtig ist, dass der Gesetzentwurf zum 9.SchRÄG hier keine Aussagen zu trifft. Das ist aber nicht verwunderlich, denn diese Fragen werden grundsätzlich nicht in Schulgesetzen behandelt. Aber die Regierung hatte bislang immer angekündigt, dass selbstverständlich mehr Lehrkräfte und SonderpädagogInnen bereitgestellt werden. Dabei soll aber das Berechnungssystem dem Vorschlag der Gutachter folgend umgestellt werden. Statt der Einzelzuweisung mit der etikettierenden Wirkung durch ein AosF-Verfahren, soll es eine Budgetierung geben, die den Schulen eine bessere Einsetzbarkeit gibt. Und unterm Strich wird auf jeden Fall ein Plus an Personalausstattung sein.

Was ist mit den Kompetenzzentren? Werden die einfach geschlossen?

Die Kompetenzzentren sind ein Schulversuch nach §25 Schulgesetz, der Ende 2013 ausläuft. So steht es auch im Gesetz. Allerdings werden die Kompetenzzentren nicht einfach dicht gemacht. Im Gutachten wurde beschrieben, welche guten Ansätze viele Kompetenzzentren entwickelt haben. Sie sollen übergeführt werden, die guten Erfahrungen und Ansätze sind unverzichtbar für eine gelingende Inklusion. Hier wird der Referentenentwurf überarbeitet werden, um die entstandenen Irritationen auszuräumen.

Viele Förderschulen stehen vor der Schließung. Was ist mit dem Elternrecht?

Wir haben klargestellt, dass von Landesseite keine Schulform geschlossen wird. Die Gutachter hatten eine Option aufgezeigt, insbesondere die Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen zu einem Stichtag landesweit auslaufen zu lassen. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden. Die Lage ist in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. Landesweit beträgt die Quote der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine Regelschule besuchen 24,6 Prozent. Dabei gibt es Städte wie Bonn, die schon eine Integrationsquote von über 37 Prozent haben und Wuppertal mit nur 15 Prozent. Wir wollen, dass der Bedarf vor Ort entscheidet und auf die unterschiedlichen Geschwindigkeiten reagiert werden kann. Eltern sollen sich für eine Beschulung an der Regelschule entscheiden können. Es gibt aber nach der UN-Konvention kein Recht auf eine Förderschule. Wenn vor Ort kein ausreichender Bedarf besteht, ist eine Förderschule zu schließen. Schon jetzt sind zwei Drittel der Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen unter die Mindestgröße gerutscht. Der demografisch bedingte Schülerrückgang und das veränderte Elternwahlverhalten zwingen hier zu einer Anpassung, auch wenn es kein neues Gesetz gäbe. Zu kleine Schulen sind nicht nur aus Ressourceneffizienz kritisch zu sehen. Sie bergen auch pädagogische Probleme: Qualifizierten Unterricht ist an einer weiterführenden Schule mit entsprechendem Fächerangebot nicht gut zu organisieren. Nach einem Urteil des Landesverfassungsgerichts widerspricht der Erhalt kleiner Schulen, obwohl sie unter die Mindestgröße gefallen sind, dem verfassungsmäßigen Anspruch der SchülerInnen auf ordnungsgemäßen Unterricht.

Was ist mit Kindern und Lehrkräften, die überfordert sind?

Der Umbauprozess wird zu Beginn an einigen Schulen konzentriert. Die Schulen, die „vorangehen“, erhalten gezielte Unterstützung mit Fortbildungen und Multiplikatoren. SonderpädagogInnen werden Teil des Teams. Eine Vernetzung mit anderen Schulen, die sich auf den Weg machen, und mit denen, die schon über längere Erfahrungen in der Inklusion verfügen, hilft, Wege zu finden. Unterstützungszentren helfen dort, wo es gegebenenfalls nötig ist, eine Schülerin oder einen Schüler für einen gewissen Zeitraum aus dem Lernumfeld der Regelschule herauszunehmen.

Was ist mit der Konnexität?

Die kommunalen Spitzenverbände beharren darauf, dass das Land alle Kosten im Zusammenhang mit der Inklusion übernimmt. Die Landesregierung sieht keine Konnexitätsrelevanz. Normalerweise würde man nun die unterschiedlichen Ansätze in einer Arbeitsgruppe diskutieren. Die kommunalen Spitzenverbände sind aber bislang hierzu nicht bereit und legen auch keine Zahlen vor, worin eine Mehrbelastung liegen könnte. Da es bereits eine lange Tradition des Gemeinsamen Unterrichts in NRW gibt und kein Stichtag (wie bei U3-Plätzen) vorgesehen ist, sieht die Landesregierung die Inklusion nicht als eine neue Aufgabe und nur eine solche  löst laut Gesetz Konnexitätsfolgen aus. Von einigen Kommunen werden Mehrkosten bei Gebäuden, Fahrtkosten und Integrationsassistenzen ins Feld geführt. Die zu erwartenden Schließungen von Förderschulen geben den Kommunen aber Spielräume, die Gebäude anders zu nutzen und auf sonst notwendige Neubauten zu verzichten. Die Beschulung an einer Regelschule ist im Normalfall wohnortnäher möglich als die an einer Förderschule und müsste helfen, Fahrtkosten zu senken. Kinder, die aufgrund ihrer Behinderung einen festgestellten Anspruch auf Integrationsassistenz haben, haben ihn unabhängig davon, ob sie eine Förder- oder eine Regelschule besuchen. Der Anspruch leitet sich auch nicht aus einem Landesgesetz ab, sondern von den Sozialgesetzbüchern des Bundes.
Liebe Freundinnen und Freunde,
die Inklusion ist die große Herausforderung der nächsten zehn Jahre. Sie betrifft alle Ebenen, Regionen, Schulformen. Sie ist eine gemeinsame Aufgabe der staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft im Schulbereich. Es geht um die Durchsetzung eines Menschenrechts. Sylvia Löhrmann sagt: „Das wird kein leichter Spaziergang, eher eine Bergwanderung.“ Bei aller Skepsis und Vorsicht zeigen aber Schulen, die seit Jahren Inklusion erfolgreich praktizieren, dass es ein Gewinn für alle Kinder und für die Gesellschaft ist. Die guten Beispiele sollten uns immer wieder motivieren und helfen, Zauderer zu überzeugen. Bei der Vorstellung des Referentenentwurfes im Gesprächskreis Inklusion sagte Sylvia Löhrmann: „Wer will, dass sich etwas ändert, sucht Wege. Wer will, dass sich nichts ändert, sucht Gründe.“ In diesem Sinne wünsche ich uns gute Orientierung und einen sicheren Schritt.
Auf Antrag der CDU-Fraktion gab es in dieser Woche auch zum Thema schulische Inklusion eine Plenardebatte. Die Rede von Sigrid Beer findet Ihr hier (Video), die Rede der Schulministerin Sylvia Löhrmann hier (Video).
Und auch in der Fragestunde war Inklusion in der Schule Thema, die Fragen und Antworten gibt es hier (Video)

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