Lena Zingsheim-Zobel: „Stellen wir uns vor, was für eine Gesellschaft wir wären, wenn jedes Kind seine Träume leben könnte“

Zum Abschlussbericht der Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“

Portrait Lena Zingsheim-Zobel

Lena Zingsheim-Zobel (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich zwei Kinder vor. Beide leben in Nordrhein-Westfalen. Beide sind neugierig. Beide sind voller Motivation. Beide haben Träume.

Die Eltern des einen Kindes machen Nachhilfe möglich, haben Zeit zum Vorlesen und Geld für weiteres Schulmaterial. Am Wochenende besucht das Kind mit der gesamten Familie einen Familienbauernhof. Es lernt, ein Musikinstrument zu spielen, und geht regelmäßig zum Sportverein. Dieses Kind wird werden können, was auch immer es sich erträumt.

Bei dem anderen Kind wird es bei dem Traum bleiben. Es wird, so zeigen es viele Bildungsstudien, scheitern – nicht, weil es aufhört zu träumen, sondern weil die äußeren Gegebenheiten und Strukturen nicht ausreichen, um dieses Kind zu unterstützen.

Was unterscheidet die beiden Kinder? Es sind wenige nur Kilometer, aber es ist eine ganz andere Welt. Die Eltern arbeiten bis spätabends, manchmal in zwei Jobs. Sie haben kein Geld für die Musikschule und keine Zeit, um bei den Hausaufgaben zu helfen. Nach der Schule passt das Kind auf die kleinen Geschwister auf.

Zwei Kinder, das gleiche Potenzial, die gleichen Träume, aber völlig ungleiche Chancen – das ist das Problem, dem sich die Enquetekommission angenommen hat.

Vorneweg: Die Ungleichheit sitzt tief und ist nicht mit fünf bis zehn Handlungsempfehlungen erledigt. Auch das zeigt dieser Abschlussbericht. Kinder sind die Letzten, die etwas dafürkönnen, wo sie geboren werden. Aber unsere Gesellschaft kann etwas dafür, was aus ihnen wird.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Wir müssen an die Wurzeln heran, wenn wir echte Chancengleichheit wollen. Auch ich möchte mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen für das konstruktive und sehr intensive Miteinander herzlich bedanken.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Gemeinsam ist es gelungen, viele wichtige Dinge auf den Weg zu bringen und festzuhalten. Viel wichtiger noch: Hiermit haben wir die einmalige Chance, Handlungsempfehlungen über die Legislaturen hinaus anzugehen. Während wir gemeinsam in einer fünfjährigen Legislaturperiode miteinander diskutieren, werden Kinder groß, erleben unsere Kleinsten eine gesamte Grundschulzeit oder machen in der Sekundarstufe einen ersten Abschluss.

Wir wissen: Die entscheidenden Weichen werden schon früh gestellt, nämlich in der Kita, nicht erst in der Schule. Deshalb ist ein Kita-Sozialindex ein Werkzeug, um Ressourcen und Kita-Plätze insbesondere dorthin zu bringen, wo sie dringend gebraucht werden. Wenn Kinder früher als jetzt eine umfangreiche Diagnostik zu Sprachstand, Motorik und Förderbedarfen bekämen, dann wären wir gemeinsam meilenweit gekommen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU und der SPD)

Es wird maßgeblich darauf ankommen, wie wir Erwachsene unseren Kindern und Enkeln den Sandkasten füllen – mit Schaufeln, Förmchen und Material, ihr Leben bestreiten zu können. Unser Job ist es nicht nur, dabei zuzuschauen, sondern das Sicherheitsnetz darum herum zu stricken – mit allen Professionen, die gut sind und guttun. Darum müssen Kitas, Schulen, Jugendhilfe und Eltern verbindlich Hand in Hand, nicht nebeneinander, sondern miteinander für die Kinder arbeiten.

Meine Tochter ist ein Vorschulkind. Es fühlt sich ganz schön verrückt an, nächstes Jahr eine Grundschulmama zu sein. Die Grundschule ist für den Bildungserfolg entscheidend. Gerade deshalb findet sich im Enquetebericht einiges für den Primarbereich: gebundener Ganztag in Grundschulen mit Sozialindex 5 bis 9, gemeinsame Mindeststandards und Stärkung multiprofessioneller Teams.

Unser Sachverständiger für die Enquetekommission, Aladin El-Mafaalani, macht immer wieder deutlich, wie wichtig eine Grundsteinlegung in der Grundschule ist. Denn an der Grundschule sehen wir, wie unsere Gesellschaft in 10 bis 15 Jahren aussehen wird. Ich möchte auch Aladin herzlich danken, dass er uns während der letzten zwei Jahre hier in Nordrhein-Westfalen begleitet hat.

(Beifall von den GRÜNEN, Jonathan Grunwald [CDU], Christin Siebel [SPD] und Andrea Busche [SPD])

Wir werden über unser Schulsystem ehrlich sprechen müssen. Je früher Kinder getrennt werden, desto enger werden ihre Wege. Wir brauchen längeres gemeinsames Lernen. Nicht sortieren, sondern zusammenbleiben, nicht trennen, sondern voneinander lernen – das ist inklusive Bildung. Das macht uns stark.

Die PRIMUS-Schulen in Nordrhein-Westfalen zeigen, dass es geht. Kinder der Klassen 1 bis 10 lernen alle unter einem Dach – nicht, weil wir aus ideologischen Gründen eine Schule für alle wollen, sondern weil wir mehr Übersichtlichkeit, mehr Qualität und mehr Transparenz im System brauchen. Das ist ein dickes Brett. Deshalb ist es klug, schrittweise vorzugehen.

Als grüne Fraktion können wir uns auf diesem Weg sehr gut eine Kultur vorstellen, in der jedes Kind auf der aufnehmenden weiterführenden Schule zu einem ersten Abschluss gebracht wird und allen Kindern mit Förderbedarf ein inklusiver Schulplatz in der Kommune sichergestellt werden muss.

Schulen stehen unter starkem Druck, aber nicht nur sie, sondern auch unsere Kinder. Der Leistungsdruck steigt. Social Media stresst. Krisen ereignen sich überall: Klima, Krieg, Zukunftsangst. Viele Kinder kämpfen sich durch ihr Leben, und zu viele kämpfen allein. Darum braucht es Teams aus Lehrkräften, Schulsozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen, Therapeut*innen und weiteren qualifizierten Menschen unter einem Dach mit einem Ziel: Kein Kind soll zurückbleiben, kein Kind soll verloren gehen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, Christin Siebel [SPD] und Elisabeth Müller-Witt [SPD])

Das ist moderne Schule. Das ist Bildung, die Kinder stark macht. Das sind die Chancen für alle Kinder. Davon brauchen wir mehr.

Der Bericht liegt jetzt vor. Ich möchte mich an dieser Stelle auch für die großartige Arbeit unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Farina Nagel bedanken, die bereits in Duisburg eine weitere supergute und wichtige Beschäftigung gefunden hat, um für mehr Chancengleichheit vor Ort zu sorgen.

Dieser Bericht darf nicht in der Schublade verstauben. Denn jedes Kind in Nordrhein-Westfalen hat ein Recht auf die beste Bildung, auf faire Chancen, auf eine Zukunft, die nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt.

Stellen wir uns vor, was für eine Gesellschaft wir wären, wenn jedes Kind seine Träume leben könnte. Dann reden wir nicht nur über Probleme. Dann reden wir über Möglichkeiten. Denn echte Chancengleichheit bedeutet, dass wir alle gewinnen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU– Vereinzelt Beifall von der SPD)

Mehr zum Thema

Schule