Dr. Julia Höller: „Die Ursachen sind im Wesentlichen soziale Ursachen, nicht Geburtsland oder Staatsangehörigkeit“

Zum Antrag der SPD-Fraktion auf eine Aktuelle Stunde zu Gefahren durch Messerattacken

Portrait Dr. Julia Höller

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Liebe SPD, der Antragstext zur heutigen Aktuellen Stunde ist, ehrlich gesagt, ziemlich plump. Er besteht grob gesagt aus der Auflistung einzelner Vorfälle von Gewalttaten mit Messern in den letzten Wochen und der Aufforderung: Landesregierung, tun Sie etwas! – Ich finde, wenn man möchte, kann man sich das Leben in der Opposition beneidenswert einfach machen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Kirsten Stich [SPD]: Erfahrungen habt ihr ja genug! – Andreas Bialas [SPD]: Ich hoffe, das ist nicht die Haltung der Landesregierung!)

Lassen Sie uns mal versuchen zu differenzieren; denn es geht um wichtige Aspekte der Innenpolitik, es geht um schreckliche Gewalttaten, es geht um das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und das Empfinden von Angst und Unsicherheit. Es geht um Medienberichterstattung, es geht ganz besonders auch um konkrete Zahlen und die polizeiliche Kriminalstatistik. Es geht um die Sicherheit der Menschen in NRW und um die Sicherheit unserer Polizistinnen und Polizisten im Dienst.

Es ist mir ganz wichtig zu sagen: Jede Gewalttat mit einem Messer hat für die Opfer, Zeugen und Angehörigen furchtbare Folgen, und wir müssen mit unseren politischen Mitteln alles tun, um das zu verhindern.

Die Taten in den letzten Wochen sind schrecklich. Wir sind in Gedanken bei den Opfern und wünschen den Verletzten eine schnelle Genesung und alles Gute. Die von der SPD aufgelisteten „Messerattacken“ – ja, genauso steht es in diesem Antragstext: „Attacken“ –, führen, so schreiben Sie es selbst, zu einer Unruhe in der Bevölkerung. Ja, diese Taten machen grundsätzlich Angst. Sie stärken das Gefühl von Unsicherheit, das kann ich supergut nachempfinden, gerade nach dem, was Herr Golland eben zu der Vorführung im Innenministerium gesagt hat. Aber entweder haben Sie den Antrag auf Aktuelle Stunde in dieser selbst empfundenen Emotionalität verfasst, oder hier wir vonseiten der Opposition mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger gespielt, um dann mit größtmöglicher Empörung auf den Innenminister zu zeigen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Andreas Bialas [SPD]: Wir sind uns aber schon einig, dass das alles passiert, oder?)

Das Empfinden von Unsicherheit, das wissen alle vom Fach, hat in vielen Fällen nichts damit zu tun, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, Opfer einer Straftat zu werden. Dieses subjektive Sicherheitsgefühl kann tatsächliche Auswirkungen auf das Verhalten und die Lebensqualität der Menschen haben. Es ist in unserer Verantwortung als Politik, das subjektive Sicherheitsgefühl ernst zu nehmen, aber Angst und Unsicherheit nicht weiter zu verschärfen, sondern sachlich, wissenschaftlich fundiert und faktenbasiert einzuordnen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir haben es jetzt ein paarmal gehört: Seitdem die Delikte mit Messern in der PKS ausgewiesen werden, gehen die Zahlen kontinuierlich zurück. Aber trotzdem haben wir alle das Gefühl, dass es zu mehr Angriffen mit Messern kommt. Warum ist das so? Angriffe mit dem Tatmittel „Messer“ sind brutal, sie sind medienwirksam und es wird medial ausführlich darüber berichtet. Das ist plausibel, denn die Aufmerksamkeit ist gegeben. Ein Messer als Tatwaffe schürt irgendetwas in unseren Urängsten.

Wir beschäftigen uns hier im Parlament übrigens auch überproportional viel mit diesem Tatmittel. Das geschieht zum Teil richtigerweise in klugen, sachlichen Debatten im Innenausschuss, wenn es beispielsweise um Menschen in psychischen Ausnahmesituationen und die damit verbundenen Herausforderungen und Schwierigkeiten für unsere Polizistinnen und Polizisten geht.

Teilweise unterstelle ich aber auch niedere Motive, wie etwa bei den 48 Kleinen Anfragen der AfD in dieser Legislatur zu Straftaten mit dem Tatmittel „Messer“. Das geschieht nicht, um zur politischen Aufarbeitung beizutragen, sondern um über Staatsangehörigkeit, Vor- und Nachnamen, Geburtsländer und Abschiebungen zu sprechen und wie immer jede Chance zu nutzen, rassistisches Gedankengut zu platzieren. Das ist schäbig.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Wenn man tatsächlich an Maßnahmen zur Bekämpfung von Straftaten mit Messern interessiert ist, muss man sich von diesen individuellen und im Einzelnen wahnsinnig schrecklichen Taten lösen und sich gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen zuwenden.

(Zuruf von Christian Loose [AfD])

Eine Studie der Kriminologischen Zentralstelle aus 2021 zu Ausmaß und Entwicklung der Messerkriminalität in Deutschland hat festgestellt – ich zitiere –:

Messergewalt ist Gewalt und hat weitestgehend vergleichbare Ursachen wie Gewaltverhalten; und diese Ursachen sind im Wesentlichen soziale Ursachen, nicht Geburtsland oder Staatsangehörigkeit.

(Zuruf von Markus Wagner [AfD])

Damit sind wir wieder einmal bei den Themen „soziale Ungleichheit“, „Männlichkeitsverhalten“ und „Teilhabe“.

Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang gerne über die Rolle von Männlichkeit, aber auch über Gruppendynamiken und Alkoholkonsum reden. Das Merkmal „männlich“ vereint nämlich, genau wie bei anderen schweren Gewaltverbrechen, wirklich die absolute Mehrzahl der Tatverdächtigen. Die patriarchale Vorstellung, die in unserer Gesellschaft immer noch vorherrscht, dass Männlichkeit nur über die Zurschaustellung von Macht und Stärke funktioniert, führt zu genau solchen Gewalttaten.

Dabei führt die ständige Rezeption und Reproduktion „Achtung, überall Messerattacken“ auch zu Unsicherheitsgefühlen bei jungen Männern, die meinen, sich dann entsprechend weiter mit Messern bewaffnen zu müssen. Messer, toxische Männlichkeit, Marginalisierung und Kontrollverlust: Damit ist der Teufelskreis geschaffen.

Lassen Sie uns lieber über Aufklärung auch in Schulen und Vereinen sprechen. Das Herumfuchteln mit einem Messer ist kein Bagatelldelikt. Das ist weder cool noch männlich, sondern durch das hohe Eskalationspotenzial und die niedrige Eingriffsschwelle irre gefährlich für den Täter und die Polizistinnen und Polizisten im Einsatz.

Lassen Sie uns gerne über die Verschärfung des Waffenrechts sprechen, wie sie der Innenminister bereits Anfang des Jahres gegenüber dem Bund vorgeschlagen hat.

Lassen Sie uns gerne über die Verbesserung der Sicherheit im öffentlichen Raum sprechen. Können wir die Sicherheit durch bauliche Maßnahmen, durch Beleuchtung, durch die Präsenz von Polizistinnen und Polizisten auf der Straße – zum Beispiel auch durch die Stärkung des Bezirksdienstes – stärken?

Lassen Sie uns über die Ausweitung der Fortbildung „Einsatztraining“ bei der Polizei sprechen.

Lassen Sie uns über Möglichkeiten der Eigensicherung der Beamtinnen sprechen. Dazu ist eine gute Aus- und Fortbildung der Schlüssel.

(Zuruf von der SPD: Setzt es doch einfach um!)

Lassen Sie uns eine faktenbasierte Politik machen, die auf den validen Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik und nicht auf dem Bauchgefühl der SPD-Fraktion beruht. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Müller-Witt, liebe SPD, ich möchte Ihnen super gerne glauben, dass Sie nicht mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger spielen möchten und dass dies nicht Ihr Anliegen ist, aber Sie tun es. Sie tun es in Ihrem Antrag und legen mit Ihrem Wording heute noch einen drauf.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Attacke, Blutspur und dann Denkverbote – Sie machen sich ein hoch populistisches Wording zu eigen, und das ist bei einem so wichtigen Thema wirklich sehr enttäuschend.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Ich bin vor allem deshalb noch einmal vorgetreten, weil ich finde, dass die AfD nicht das letzte Wort haben darf.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und Kirsten Stich [SPD])

Was Herr Wagner vom Stapel gelassen hat, ist einfach ekelhaft. Menschenfeindlich ist in diesem Raum genau eine Fraktion, und das ist die AfD.

(Beifall von den GRÜNEN und CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD – Kirsten Stich [SPD]: Jetzt klatsche auch ich!)

Es überrascht uns alle nicht, es bestürzt uns alle aber sehr.

(Christian Loose [AfD]: Zahlen und Fakten sind nichts für Sie!)

Sie sind stolz auf Ihre ständigen Anfragen; es sind seit gestern 49 Anfragen. Das kostet alle Beteiligten wertvolle Ressourcen;

(Zuruf von Christian Loose [AfD])

Ressourcen, die wir bräuchten, die andere bräuchten, um über wichtige innenpolitische Themen zu sprechen.

(Dr. Hartmut Beucker [AfD]: Genau wie die SPD!)

Das alleine ist zwar ärgerlich, aber es ist auszuhalten. Wir als Fraktion sind allerdings nicht bereit, auszuhalten, dass die AfD durch diese Themensetzung mit den Ängsten der Bevölkerung spielt und dabei eine gesamte Bevölkerungsgruppe diffamiert. Das machen wir nicht mit, und das lassen wir so einfach nicht stehen.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Ihnen geht es überhaupt nicht um den Schutz der Bevölkerung. Und wenn, dann stellen Sie sich diese Bevölkerung auch ganz anders vor,

(Markus Wagner [AfD]: Woher wollen Sie wissen, was die Bevölkerung denkt?)

als sie es glücklicherweise in unserem vielfältigen Bundesland ist.

(Christian Loose [AfD]: Schieben Sie denn Vergewaltiger und Messerstecher ab?)

– Jetzt müssen Sie ganz vorsichtig sein, was Sie hier reingerufen. Passen Sie sehr gut auf!

(Christian Loose [AfD]: Wen schieben Sie denn ab von den Messerstechern? – Markus Wagner [AfD]: Das ist die Politik Ihrer Regierung! – Widerspruch und Zurufe von den GRÜNEN und der CDU – Kirsten Stich [SPD]: Lass sie reden! – Glocke)

Vizepräsident Rainer Schmeltzer: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bitte um etwas mehr Ruhe. Es hat ausschließlich die Abgeordnete Frau Dr. Höller das Wort.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Dr. Julia Höller (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Es geht Ihnen in all Ihrem Tun in der Innenpolitik – und Sie nutzen das heute wieder unfassbar aus – darum, Ihre rassistischen Vorurteile zu schüren.

(Markus Wagner [AfD]: Das ist die Folge Ihrer Politik!)

Warum immer diese Fragen nach der Staatsangehörigkeit? Wobei es Ihnen gar nicht um Staatsangehörigkeit geht, sondern es geht Ihnen darum, alles, was fremd ist, zu markieren. Das ist ekelhaft, das machen wir nicht mit, und das macht dieses Haus nicht mit. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Lachen von Dr. Hartmut Beucker [AfD])

Mehr zum Thema

Innenpolitik