Norika Creuzmann (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Ich weiß, ich mute Ihnen jetzt etwas zu, aber das folgende Zitat hat sich vor vielen Jahren tief in mir eingebrannt: Mein Papa kommt immer in mein Bett und macht weißes Pippi. – Diese Worte haben mich damals genauso erschüttert wie Sie wahrscheinlich in diesem Moment.
Das kleine vierjährige Mädchen vertraute sich mir in meiner zweiten Arbeitswoche beim regelmäßigen Kinderfrühstück im Paderborner Frauenhaus an. Das war vor 30 Jahren. Sie fühlte sich sicher und konnte diese schreckliche Last endlich loswerden. Ihre fünfjährige Schwester erzählte ebenfalls, dass der Papa ganz oft zu ihnen kommen würde.
Es war der Stiefvater der Kinder, der nach erdrückender Beweislage vom Gericht zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt wurde – eineinhalb Jahre Haft im Vergleich zu lebenslänglich für die Kinder. Missbrauch ist mit das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Die Gefühle, Bilder, Gerüche, Geräusche brennen sich oftmals ins Gedächtnis ein.
Ich habe dieses Mädchen über Monate begleitet. Wir haben die Gerichtsverhandlungen und alles, was dazugehört, gemeinsam durchgestanden. Die Mutter hätte es alleine nicht bewältigt. Dieser Vater wurde verurteilt.
Ein anderer Vater bekam vom Gericht weiterhin Umgang zu seinem Sohn zugestanden, obwohl der fünfjährige Junge von mehreren Übergriffen berichtet hatte. Er wählte nur bei seinen Aussagen an unterschiedlichen Stellen nicht immer die gleichen Worte. Er galt als nicht glaubhaft. Ich sage Ihnen: Mit fünf Jahren denkt man sich solche furchtbaren Erlebnisse nicht aus.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)
Es gab mehrere Übergriffe. Die Erinnerungen des Jungen vermischten sich. Der kleine Junge musste fortan regelmäßig zum Täter, da das Recht der Eltern in vielen Fällen über das Kindeswohl gestellt wird.
In meiner beruflichen Tätigkeit habe ich diese und viele andere furchtbare Geschichten gehört. Ich habe die Kinder aufgefangen, sie begleitet, getröstet, versucht, ihnen die Schuldgefühle zu nehmen, mich mit Behörden und Ämtern auseinandergesetzt, andere Menschen versucht zu sensibilisieren, Kolleg*innen fortgebildet, für das Recht der Kinder auf Schutz gestritten. Doch was ist das Recht der Kinder auf Schutz in unserer Gesellschaft wert?
Die Istanbul-Konvention regelt auch die Schutzrechte der Kinder. Beispielsweise ist dort genau geregelt, wie der Gesetzgeber mit Kindern umzugehen hat, die Zeugen von Gewalt geworden sind. Ihre Rechte und Bedürfnisse müssen gebührend berücksichtigt werden, heißt es in Art. 26. Das umfasst die altersgerechte psychosoziale Beratung für Kinder. Das Wohl des Kindes muss – so heißt es wörtlich – gebührend berücksichtigt werden. Kinder sind nämlich immer Opfer. Sie sind Opfer beim Missbrauch, sie sind Opfer, wenn sie Gewalt direkt erleiden, und sie sind auch Opfer, wenn sie Gewalt miterleben.
Was sind uns also die Rechte unserer Kinder auf Schutz wert? Dazu ein paar Zahlen. In Deutschland sind vergangenes Jahr durchschnittlich 49 Minderjährige Opfer sexualisierter Gewalt geworden – pro Tag. Das sind insgesamt 17.700 Kinder und Jugendliche. Zudem erfasste die Polizei deutlich mehr Darstellungen von Kindesmissbrauch. Das Dunkelfeld insgesamt und auch der Anteil an Straftaten, von denen die Polizei keine Kenntnis erhält, ist allerdings um ein Vielfaches größer.
Kommen wir dem Schutzrecht der Kinder hinreichend nach? Schauen wir doch mal in den von Ihnen zitierten Antrag, der erst Mitte Oktober den Bundesparteitag der Grünen passierte. Es geht darum, dass wir Grünen uns „für die Bekämpfung, Aufklärung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen“ und ebenso für eine „konsequente Prävention“ einsetzen.
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der gerade schon zitiert worden ist, Johannes-Wilhelm Rörig, der 2019 eine umfangreiche Missbrauchsstudie beauftragte, betonte in diesem Zusammenhang wiederholt, dass Skandale zwar das Leid der Opfer sichtbar machen, dass daraus aber häufig nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.
Wir machen uns für eine Ergänzung des § 174c des Strafgesetzbuches stark: Derjenige wird bestraft, der sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm zur Beratung oder Begleitung im institutionellen religiösen oder weltanschaulichen Kontext anvertraut ist.
Ich frage noch einmal: Kommen wir dem Schutzrecht der Kinder hinreichend nach? Ich möchte mit Erlaubnis einen Betroffenen zitieren, der innerhalb kirchlicher Strukturen zum Opfer sexualisierter Gewalt wurde und sich zum Umgang mit ihm und seinen Leidensgenossinnen äußerte.
„Das ist keine Aufarbeitung. Das ist auch kein Wille zur Aufarbeitung. Das ist einfach nur der Versuch, möglichst nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, was Mitarbeiter der Kirche Menschen angetan haben.“
Die Aufarbeitung von solchen schlimmen Geschehnissen ist ein großes und wichtiges Anliegen der Betroffenen.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP – Vereinzelt Beifall von der AfD)
Bei dem Wort „Aufarbeitung“ schauen wir rüber nach Köln und sehen, dass beispielhaft gezeigt wird, wie Aufarbeitung nicht stattfinden sollte und auch nicht stattfinden kann.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)
Hier braucht es eine ehrliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung. Das sind die Kirchen den Betroffenen schuldig.
Die Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendlichen vor allem in Lügde haben hier im Landtag dazu geführt, dass das Thema anders als bislang behandelt wird. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss und die Kinderschutzkommission, die auch in dieser Wahlperiode eingesetzt sind, zeigen das.
Eigentlich arbeiten wir in der Kinderschutzkommission parteiübergreifend im Sinne des Kinderschutzes. Wir werden der Überweisung Ihres Antrags zustimmen, damit wir Ihre Forderungen in den Ausschüssen angemessen diskutieren können.
Aber lassen Sie mich auch kurz anmerken, dass ich es schön gefunden hätte, wenn die SPD-Fraktion im Vorfeld auf die anderen demokratischen Fraktionen für einen gemeinsamen Antrag zugekommen wäre. Zumindest hatte Dennis Maelzer, Ihr fachpolitischer Sprecher, hatte in einer der ersten Sitzungen des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend das Angebot gemacht, dass die SPD unter anderem im Bereich des Kinderschutzes mit den demokratischen Fraktionen zusammenarbeiten wolle. Das hat jetzt bei diesem Antrag noch nicht so gut geklappt. Vielleicht schaffen wir es bei den nächsten Anträgen, anstatt der politischen Profilierung einen Schulterschluss in Fragen des Kinderschutzes zu erreichen.
(Beifall von den GRÜNEN und der CDU)
Darüber hinaus hätten wir uns auch gewünscht, dass sich die SPD ein klein wenig in Geduld geübt hätte, denn die Kinderschutzkommission hat sexualisierte Gewalt in den Kirchen auf ihrer Agenda. Das müssten Sie wissen, denn die Ausschussvorsitzende ist auch in Ihren Reihen.
Im Beschlussteil des Antrags werden Bundesratsinitiativen für bundesgesetzliche Regelungen aufgeführt. Das kann man so machen, das kann man aber auch über den Bundestag machen. Schön ist auch, dass die SPD den unabhängigen Beauftragten oder die unabhängige Beauftragte für die Belange von Kinderschutz im Kinderrecht für sich entdeckt hat.
In der letzten Wahlperiode hatte sich Ihre Fraktion sehr verhalten gegenüber unserer Idee gezeigt. Daran werden Sie sich bestimmt erinnern können. Aber wir sehen: Die Lernkurve steigt.
Der/die Kinderschutzbeauftragte steht im Koalitionsvertrag. Unserer Ansicht nach braucht es einen solchen politischen Nukleus, einen politischen Motor, der Kinderrechte und Kinderschutz als eine anregende und steuernde Ebene begleitet. In einigen Bundesländern gibt es – mit unterschiedlichen Konzeptionen – bereits Kinderschutzbeauftragte. In NRW muss diese Aufgabe gut an die vorherrschenden Bedingungen angepasst sein, damit es keine Doppelstrukturen gibt.
Wir alle haben miterlebt, wie Johannes-Wilhelm Rörig einen erheblichen Beitrag zur Sensibilisierung in Fragen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beigetragen hat. Wie wichtig die gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung ist, damit jeder und jede frühzeitig in der Kita, in der Schule, im Sportverein, in der Kirche oder im Jugendamt erkennt, wann ein Kind oder ein Jugendlicher Schutz braucht, wissen wir alle. Lassen Sie uns gemeinsam für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes in NRW zusammenarbeiten. – Danke.
(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und Dr. Werner Pfeil [FDP])