I. Ausgangslage
Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine befindet sich im sechsten Monat. Schon vor Kriegsbeginn und bis heute verwendet Putins Regime Erdgas als Waffe gegen die Europäische Union. Am 23. Juni sah sich die Bundesregierung dazu veranlasst, die Alarmstufe des Notfallplans Gas auszurufen, nachdem die russischen Erdgaslieferungen nach Deutschland stark reduziert wurden. Die Situation hat sich weiter zugespitzt, als am 27. Juli die Erdgaslieferungen nochmals im Umfang halbiert wurden, sodass aktuell Nord Stream 1 nur noch mit 20 Prozent der Kapazität ausgelastet wird. Die damit einhergehende Unsicherheit auf den Energiemärkten führt zu drastischen Kostensteigerungen für die Energieversorgung, auch wenn aktuell die Gasversorgungssicherheit grundsätzlich gewährleistet ist. Die Preise für den fossilen Energieträger sind infolge der Verknappung des Angebots weiter auf Rekordniveau, steigen zudem weiter an und belasten private und öffentliche Haushalte, sowie Unternehmen.
Damit sind die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine in der Europäischen Union und Deutschland auch in der Wirtschaft deutlich zu spüren. Der ifo-Geschäftsklimaindex für Juli 2022 als wichtiger Konjunktur-Frühindikator fällt auf den tiefsten Stand seit zwei Jahren: Das Wirtschaftsforschungsinstitut sieht Deutschland an der Schwelle zur Rezession. Maßgeblicher Belastungsfaktor sind die stark gestiegenen Energiepreise sowie die Unsicherheit über einen Gaslieferstopp. Eine DIHK-Umfrage bestätigt diese Analyse; demnach sehen sich insgesamt 16 Prozent der Industriebetriebe gezwungen, auf die aktuelle Energielage mit einem Zurückfahren der Produktion oder einer zumindest teilweisen Aufgabe von Geschäftsbereichen zu reagieren. Da die energieintensive Wirtschaft besonders stark von den hohen Energiepreisen betroffen ist, fällt dieser Wert hier doppelt so hoch aus. Demzufolge schätzen fast zwei Drittel der Industriebetriebe die hohen Stromkosten und Gaspreise als eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland ein.
Nordrhein-Westfalen ist als Industrieland Nr. 1 in Deutschland von dieser Situation besonders betroffen. In der Industrie arbeiten über 1,3 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, wovon rund ein Drittel ihren Arbeitsplatz in einem energieintensiven Betrieb haben. Jeder Arbeitsplatz in der energieintensiven Grundstoffindustrie sichert zwei weitere Arbeitsplätze in anderen Industriebranchen und im Dienstleistungssektor. Zuzüglich der industrieorientierten Dienstleistungen steht die Industrie für 40 Prozent der Wertschöpfung in unserem Land.
Die Zukunftskoalition von CDU und GRÜNEN steht in dieser sich abzeichnenden tiefen Krise an der Seite der nordrhein-westfälischen Unternehmen, den Beschäftigten, deren Familien und allen Menschen, die für ihre warme Wohnung auf eine sichere und bezahlbare Gasversorgung angewiesen sind. Es gilt, auf der einen Seite den Industriestandort mit weltweit führenden Sicherheits-, Klima- und Umweltstandards sowie guten Arbeitsplätzen zu erhalten und zu stärken und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt in unserem Land zu schützen.
Wie sich die Lage um die russischen Erdgaslieferungen entwickeln wird, kann nicht belastbar prognostiziert werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Kosten für alle Gaskunden ab dem Herbst weiter stark steigen werden. Insbesondere sobald neue Energiebezugsverträge geschlossen werden müssen, werden die Kostensteigerungen bei den Endkunden voll ankommen. Diese Entwicklung droht viele Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen stark zu belasten oder sogar zu überfordern.
Gleichzeitig ist es erforderlich, die systemrelevanten Importeure russischen Gases, die aufgrund der Lieferreduzierung teure Ersatzmengen beschaffen müssen, zu stabilisieren, um mittelbar die Versorgungssicherheit aufrechterhalten zu können. Der vom Bundeskabinett am 4. August beschlossene Umlagemechanismus nach § 26 Energiesicherungsgesetz wirkt dabei als Solidaritätsmechanismus der Gaskunden, wird diese jedoch voraussichtlich ab Oktober 2022 weiter belasten. Deshalb sind zwingend weitere Unterstützungen für Wirtschaft und Privathaushalte zu prüfen.
Oberste Priorität hat vor diesem Hintergrund die sichere und bezahlbare Versorgung von Privathaushalten sowie die Sicherung der Zukunftsfähigkeit der nordrhein-westfälischen Wirtschaft und damit der Erhalt von Arbeitsplätzen . Unser gemeinsames Ziel ist es, dass wir ohne eine Ausrufung der Notfallstufe des Notfallplans Gas durch den Winter kommen. Hierfür ist die konsequente Ausschöpfung des Einsparpotentials beim Gasverbrauch ein entscheidender Schlüssel. Durch ambitioniertes Einsparen von Erdgas in den letzten Monaten rücken die von der Bundesregierung ausgerufenen Füllstandziele der Gasspeicher derzeit in greifbare Nähe. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihren Bemühungen, umfassend zu informieren und die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Wirtschaft, Industrie und Verbraucherinnen und Verbraucher Einsparpotenziale heben. Es ist daher richtig, dass die Landesregierung die Energiesparkampagne der Bundesregierung durch eine eigene Kampagne unterstützt. Die Landesregierung nimmt hierbei eine Vorbildfunktion ein. In diesem Sinne gilt es, Liegenschaften der Landesregierung besonders sparsam zu betreiben, sowie Kommunen und zivilgesellschaftliche Akteure im Aufbau von Energiesparbündnissen zu unterstützen.
Zurzeit befindet sich eine LNG-Infrastruktur im Aufbau, die voraussichtlich Anfang 2023 in Betrieb gehen wird und einen wichtigen Beitrag leisten wird, kurzfristig die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu reduzieren. Dabei ist darauf zu achten, dass diese Infrastrukturen im Einklang mit den Pariser Klimaschutzzielen mit einer klaren Ausstiegsperspektive und der beschleunigten, umfassenden Ermöglichung einer Umstellung auf klimaneutralen Wasserstoff versehen werden.
Durch den konsequenten Ausbau der Erneuerbaren Energien, insbesondere durch den Ersatz fossil betriebener Heizungen, wird die Versorgungslage mit Gas mittelfristig entspannt. Die Umstellung der Energieversorgung auf klimaneutrale Energieträger ist der beste Weg, auch aus Klimaschutzgesichtspunkten. Um Erdgas in der Stromerzeugung einzusparen, wurden Rechtsverordnungen in Kraft gesetzt, um Stein- und Braunkohlekraftwerke aus Reserven zurück in den Strommarkt zu holen und dort Erdgaskraftwerke zu ersetzen.
Die Zukunftskoalition in Nordrhein-Westfalen hält am Kohleausstieg bis 2030 im Einklang mit den Pariser Klimazielen fest. Die Landesregierung nimmt zeitnah Gespräche über die weitere Braunkohleplanung mit dem Bergbautreibenden auf und erzielt darüber Einvernehmen, welche Tagebauflächen bis zur Fertigstellung der neuen Leitentscheidung noch genutzt und welche anderweitigen Eingriffe bis dahin noch erfolgen werden. Die Flächeninanspruchnahme soll dabei auf ein Minimum begrenzt werden.
Der Bund muss allerdings dafür Sorge tragen, dass die Energieversorger die freiwillige Option des Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetzes möglichst umfassend nutzen. Falls davon nicht in ausreichendem Maße Gebrauch gemacht wird, sollte der Bund durch Risikoübernahme geeignete Anreize schaffen. Die vom Bund darüber hinaus veranlassten Rechtsänderungen zur Erleichterung eines Fuel-Switch von Gas zu anderen Energieträgern reichen noch nicht aus. Daher wurde in den letzten Wochen durch den Bund und die Länder weitere Entwürfe zur Rechtsänderung sowie umfangreiche Vollzugshinweise erarbeitet, die nunmehr kurzfristig über das erforderliche Rechtsetzungsverfahren verabschiedet werden sollten.
Auch sollte der entwickelte Gasauktionsmechanismus für Industrieunternehmen zur freiwilligen Verbrauchsreduzierung beschleunigt eingerichtet werden und nicht erst zum Beginn der Heizsaison. Die Landesregierung unterstützt die Bestrebungen des Bundes mit einer eingerichteten Arbeitsgruppe „Gaseinsparpotenziale NRW“. Die Versorgungssicherheit muss auch in der Situation einer Gasknappheit für das Industrieland Nordrhein-Westfalen gewährleistet werden. Dazu befindet sich aktuell der Stresstest der Stromversorgung auf Bundesebene in Durchführung, dessen Ergebnisse eine Grundlage für die weitere Sicherstellung der Versorgungssicherheit ergeben werden.
Energie muss für die Bürgerinnen und Bürger wie für unsere Wirtschaft bezahlbar bleiben. Die Zukunftskoalition von CDU und GRÜNEN unterstützt das Vorhaben des Bundes, gezielt besonders betroffene Haushalte und Unternehmen weiter zu entlasten, und wird auch auf Landesebene insbesondere Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sowie Familien weiter unterstützen. Vor allem der industrielle Mittelstand, der sich im internationalen Wettbewerb befindet, kann oftmals die gestiegenen Energiekosten nicht vollumfänglich an seine Kunden weiterreichen. Zudem sind auch viele nicht-energieintensive Unternehmen erheblich von der Energiepreisspirale betroffen. Um den Mittelstand wie auch die weiteren Verbraucherinnen und Verbraucher temporär in der Breite zu unterstützten und einen kleinen Teil des Energiepreisschocks abzudämpfen, wird in der Bundesregierung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Erdgas diskutiert. Dies entlastet private Haushalte wie auch die Betriebe und sichert Beschäftigung, zumal die Substitutionsmöglichkeiten von Gas bereits in vielen Fällen in der Wirtschaft umgesetzt wurden und oftmals weitere Kostensteigerungen nur noch mit einem Produktionsstopp begegnet werden können. Die Preise haben dennoch ein hohes Niveau, sodass der Anreiz nicht verloren geht, Erdgas einzusparen, wo es möglich ist. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts geleistet. Ein weiterer Beitrag kann über einen Zuschuss des Bundes zu den Übertragungsnetzentgelten geleistet werden, so wie von der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (KWSB) empfohlen.
Die Landesregierung fördert über den progres.nrw-Programmbaustein „Wärmekonzepte“ für kleine und mittelständische Unternehmen den Umstieg auf eine effiziente und erneuerbare Wärmeversorgung. Bislang standen dafür zehn Millionen Euro zur Verfügung – es gilt für eine potenzielle Antragsflut Vorsorge zu treffen. Über weitere progres.nrw-Förderungen bietet das Land Unterstützung bei der Investition in klimaneutrale Transformationstechnologien bzw. -anwendungen. Die Zukunftskoalition von CDU und GRÜNEN wird die Transformationsförderung des Landes in den progres.nrw-Programmbausteinen intensivieren und weiterentwickeln.
Darüber hinaus ist es erforderlich, Förderlücken des Bundes beim Energieeinsparen zu identifizieren und Unternehmen, Kommunen sowie Bürgerinnen und Bürgern bei Energieeffizienzmaßnahmen und beim Einsparen zu unterstützen. Als zentralen Ansprechpartner wird die Landesregierung ein „Kompetenzzentrum Wärmewende“ aufbauen, das u.a. Kommunen beratend zur Seite steht, wenn es um die Erstellung und Umsetzung kommunaler Wärmeplanungen geht.
Mittel- und langfristig sind die wichtigsten Maßnahmen zur Erreichung von Energiesouveränität und Sicherung einer bezahlbaren Energieversorgung der stark beschleunigte Ausbau Erneuerbarer Energien sowie die umfassende industrielle Transformation hin zur Klimaneutralität. Die Zukunftskoalition von CDU und GRÜNEN wird mit Hochdruck alle erforderlichen Maßnahmen dafür ergreifen.
In der aktuellen Gaskrise stehen nicht nur die Gasimporteure erheblich unter wirtschaftlichen Druck, sondern auch die kommunalen Stadtwerke, die für viele KMU und Bürgerinnen und Bürger den Versorgungsauftrag mit Energie wahrnehmen. Das stark gestiegene Erdgaspreisniveau droht einige Stadtwerke und Kommunen als Eigentümerinnen zu überfordern, da aufgrund der gestiegenen Preise bei der Beschaffung von Gasmengen hohe Sicherheiten zu hinterlegen sind. Um die Liquidität der betroffenen Stadtwerke zu erhalten, Insolvenzen zu vermeiden und die regionale Energieversorgung zu sichern, ist ein zielgerichteter Absicherungsmechanismus erforderlich. Hier ist der Bund gefordert, sein Schutzschild für Energieunternehmen zu erweitern und das Finanzierungsprogramms des Bundes für die von hohen Sicherheitsleistungen an den Energiemärkten betroffenen Unternehmen (Bundesgarantie) auch für kommunale Stadtwerke zu öffnen und Liquiditätshilfen zu schaffen.
Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöste Gaskrise kann mit einem gemeinsamen Kraftakt aller Akteure in Nordrhein-Westfalen durchgestanden werden, ohne dass es zu schweren wirtschaftlichen Verwerfungen kommt. Die Zukunftskoalition von CDU und GRÜNEN wird dabei die Gesellschaft zusammenhalten und Unternehmen sowie deren Beschäftigten, im Blick behalten und weiterhin unterstützen.
II. Beschlussfassung
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- Die Anstrengungen der Bundesregierung für die Versorgungssicherheit zu unterstützen und die dazu erforderlichen Maßnahmen, u.a. zur Energieeinsparung und dem Ausbau Erneuerbarer Energien, zu ergreifen, um die Ausrufung der Notfallstufe Gas zu vermeiden.
- sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass
- die Energieversorger ausreichend von den Möglichkeiten der Rückkehr der Reserve-Kraftwerke in den Strommarkt als Ersatz von Erdgaskraftwerken Gebrauch machen können und dabei als Zieldatum 2030 für den Kohleausstieg im Einklang mit den Pariser Klimazielen festzuhalten.
- die Unternehmen bei der Umsetzung der inzwischen vom Bund geschaffenen rechtlichen Möglichkeiten für den Fuel-Switch weg von Gas in der Industrie und der Energiewirtschaft – dort wo kurzfristig realisierbar – verstärkt unterstützt werden, etwa bei Auslegungsfragen.
- die durch den Bund und die Länder in den letzten Wochen erarbeiteten erforderlichen Rechtsänderungen und Auslegungshinweise für den Fuel-Switch kurzfristig verabschiedet werden.
- der für Industrieunternehmen entwickelte Gasauktionsmechanismus beschleunigt eingeführt wird.
- die Übertragungsnetzentgelte, wie von der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (KWSB) empfohlen, abgesenkt werden.
- die Bundesregierung – mit Unterstützung des Landes – einen Absicherungsmechanismus (insbesondere Liquiditätshilfen) für nordrhein-westfälischen Stadtwerke entwickelt, um deren Versorgungsauftrag umfassend zu gewährleisten.
- zielgerichtete und spürbare Entlastungen für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, sowie Sozialleistungsbezieher, festgesetzt werden, die auch Menschen zu Gute kommen, die nicht unmittelbar im Berufsleben stehen.
- die Transformationsförderung des Landes in den progres.nrw-Programmbausteinen aus bereiten Mitteln weiterzuentwickeln und zu stärken, insbesondere bei Wärmekonzepten, sowie vor dem Hintergrund identifizierter Förderlücken des Bundes weitere Unterstützungen von Energieeffizienz- und Energieeinsparmaßnahmen für Bürgerinnen und Bürger, Kommunen sowie Unternehmen auf den Weg zu bringen.
- mit Hochdruck den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien als wesentlichen Beitrag zur Energiesouveränität in Nordrhein-Westfalen voranzubringen.
- schnellstmöglich die Voraussetzungen und den Rechtsrahmen für eine kommunale Wärmeplanung zu schaffen und das geplante „Kompetenzzentrum Wärmewende“ aufzubauen.
- Im Sinne ihrer Vorbildfunktion eigene Liegenschaften besonders sparsam zu betreiben und Energiesparbündnisse zu unterstützen.